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E-Book

Jäger, Hirten, Kritiker

Eine Utopie für die digitale Gesellschaft

AutorRichard David Precht
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641230692
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Dass unsere Welt sich gegenwärtig rasant verändert, weiß inzwischen jeder. Doch wie reagieren wir darauf? Die einen feiern die digitale Zukunft mit erschreckender Naivität und erwarten die Veränderungen wie das Wetter. Die Politik scheint den großen Umbruch nicht ernst zu nehmen. Sie dekoriert noch einmal auf der Titanic die Liegestühle um. Andere warnen vor der Diktatur der Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley. Und wieder andere möchten am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und zurück in die Vergangenheit.

Richard David Precht skizziert dagegen das Bild einer wünschenswerten Zukunft im digitalen Zeitalter. Ist das Ende der Leistungsgesellschaft, wie wir sie kannten, überhaupt ein Verlust? Für Precht enthält es die Chance, in Zukunft erfüllter und selbstbestimmter zu leben. Doch dafür müssen wir jetzt die Weichen stellen und unser Gesellschaftssystem konsequent verändern. Denn zu arbeiten, etwas zu gestalten, sich selbst zu verwirklichen, liegt in der Natur des Menschen. Von neun bis fünf in einem Büro zu sitzen und dafür Lohn zu bekommen nicht!

Dieses Buch will zeigen, wo die Weichen liegen, die wir richtig stellen müssen. Denn die Zukunft kommt nicht - sie wird von uns gemacht! Die Frage ist nicht: Wie werden wir leben? Sondern: Wie wollen wir leben?

Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.

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Leseprobe

Der erste Kontakt

»Die Wirtschaft der Zukunft funktioniert ein bisschen anders. Sehen Sie, im 24. Jahrhundert gibt es kein Geld. Der Erwerb von Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft in unserem Leben. Wir arbeiten, um uns selbst zu verbessern – und den Rest der Menschheit.«[1]

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, da prognostizierte Captain Jean-Luc Picard, Kommandant der USS Enterprise, aus der Zukunft des Jahres 2373, was auf die Menschheit zukommt: eine Gesellschaft ohne Geld und Lohnarbeit! Für das 24. Jahrhundert ist nämlich völlig undenkbar, was 1996 noch gängiger Menschheitsalltag ist – sich durch materielle Entlohnung motivieren zu lassen, um etwas für sich und die Gesellschaft zu tun.

Was in Star Trek VIII – Der erste Kontakt in der Maske der Zukunft erscheint, ist mehr als eine Science-Fiction-Fantasie. Es ist ein alter Menschheitstraum, geträumt seit dem Heraufdämmern des Kapitalismus und der Lohnarbeit im 16. und 17. Jahrhundert. Schon die Utopien des englischen Gentlemans Thomas Morus, des kalabrischen Mönchs Tommaso Campanella und des technikbegeisterten Lordkanzlers Francis Bacon kennen weder Geld noch goldenen Lohn. Die Frühsozialisten des 19. Jahrhunderts schwärmten von einer Zeit, in der die Maschinen arbeiten und die Arbeiter singen – erreicht durch clevere Automaten. Das »eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht«[2], gibt Oscar Wilde dem 20. Jahrhundert als Auftrag mit auf den Weg. Erträumt wird das Ende der Lohnarbeit durch »Automation«. Denn nur die freie Zeit ermögliche es den Menschen, sich zu vervollkommnen. Wer die Hände frei hat, kann endlich das leben, worauf es vor allem anderen ankommt: seinen Individualismus!

Berühmter noch ist das Urbild, das Karl Marx und Friedrich Engels entwarfen. Besoffen von ihren Ideen, ihrer noch jungen Freundschaft und reichlich gutem Wein definieren sie 1845 in ihrem Brüsseler Exil das erste Mal, was »Kommunismus« sein soll: eine Gesellschaft, die es jedem ermögliche, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«.[3] Die »klassenlose Gesellschaft«, träumen die beiden jungen Männer, werde den »totalen Menschen« schaffen. Und aus gesellschaftlicher Arbeit wird »freie Tätigkeit«.

Kommunismus als Individualismus, Pflege des eigenen Bewusstseins, liebevolle Sorge und echte Verantwortung? Wie weit entfernt ist Marx’ und Engels’ Utopie von den Zerrbildern des stalinistischen Staatskapitalismus! So lange schon hat dieser das Wort »Kommunismus« als Geisel genommen und den Traum vom »totalen Menschen« durch ein totalitäres System ersetzt! Und wie schillernd und zeitbedingt sind die Farben, in denen Menschen sich die passenden Exterieurs einer wahrhaft freien Gesellschaft ausmalten: die weißen Gewänder der im Sonnenkult aufgehenden Solarier beim Dominikanermönch Campanella; der Samtjacken-Dandyismus Oscar Wildes; die Schäferromantik der vergangenen Feudalzeit bei Marx und Engels, geträumt im Anblick der Industrieschlote. Und manchmal ist es ein steriles Raumschiff ohne jedes Grün, fantasieverlassen wie ein Atombunker bei Captain Picard.

Wir stehen heute, im Jahr 2018, vor einem Epochenumbruch. Die »Automation«, lang ersehnt, könnte nun zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit tatsächlich ein erfülltes Leben ohne Lohnarbeit für sehr viele ermöglichen. Die alte Arbeitswelt der oft gleichförmigen Dienstleistungsberufe, auf die uns die Schule noch immer abrichtet, bröckelt dahin; nicht anders als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die schweren körperlichen Arbeiten in Bergwerken und an Stahlkochern. Was lockt, ist ein Leben in selbstbestimmtem Tun ohne Entfremdung, ohne Konditionierung und Eintönigkeit. Doch wie genau werden die Hirten, Jäger und Kritiker der Zukunft leben? Wer sorgt dafür, dass die fantastischen Gewinne, erwirtschaftet von sozialkostenfreien Automaten, ihnen zugutekommen? Wer fördert ihr Talent und ihre Neugier auf ein selbstbestimmtes Leben? Und in welchen Farben werden wir die lebenswerten Räume der Zukunft malen?

Für viele Menschen in Europa, insbesondere in Deutschland, erscheint die Vorstellung einer solch lebenswerten Zukunft bizarr. Befinden sich unsere Welt, unsere Zivilisation und Kultur nicht in der größtmöglichen Krise? Der Klimawandel lässt die afrikanische Steppe verdorren. Während wir uns so oft um unseren eigenen sorgen, übersehen wir den Burn-out des Planeten in sengender Sonne. Die Meeresspiegel steigen, überschwemmen fruchtbares Land und verschlucken ganze Atolle. Der rasante Zuwachs der Bevölkerung lässt Megacitys entstehen und Müllberge hoch wie Wolkenkratzer. Ströme von Geflüchteten fließen wie ein Delta ins Mittelmeer und unterspülen von dort die maroden Bollwerke des europäischen Schutzwalls gegen die Armut, bis dieser eines Tages bricht. Die Tier- und Pflanzenwelt stirbt dahin, überleben wird nur, was nützlich ist oder possierlich für den Zoo. Im Kampf um die Ressourcen Erdöl, Lithium, Kobalt, Coltan, Seltene Erden und Trinkwasser toben Handelskriege, getarnt als Glaubenskämpfe oder humanitäre Interventionen. Die Großmächte aus der Zeit der fossilen Energien bäumen sich ein letztes Mal auf, begleitet von Endzeiterscheinungen wie Donald Trump, und schlagen die Welt in Scherben, statt sie zu heilen – ein idealer Nährboden für eine Utopie des selbstbestimmten Lebens? Eine Wendezeit? Oder nicht vielmehr eine Endzeit?

Die Lage ist verstörend. Während die Enthusiasten von Technik und Umsatz davon schwärmen, wie »faszinierend« die kommende Revolution sei, fehlt den meisten Menschen in der westlichen Welt der Glaube. »Die Begriffe Zukunft und Kapitalismus klingen, wenn man sie in einem Atemzug nennt, fremd, als gehörten sie nicht zusammen«, schrieb der Schriftsteller Ingo Schulze schon vor zehn Jahren. Wir träumen nicht mehr von Kolonien auf Mars und Mond und riesigen Städten unter Wasser wie in den Sechzigern und Siebzigern. Die Gesellschaften des Westens haben sich der Gegenwart und dem »Weiter so« verpflichtet, nicht einer verheißungsvollen Entwicklung in der Zukunft. Und doch – während Politiker überall in Europa ihre Wähler in einen Schlafsack aus schönen Worten wie »gemeinsam«, »zuversichtlich« und »uns geht’s gut« betten – reißt die Technik gerade den Boden auf und wälzt alle Lebensverhältnisse um. Die gesellschaftsverändernden »Automaten«, so lange erträumt, sind nun da: vernetzte Computer und Roboter, ernährt von Daten, deren Zahl jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt, und eine immer autonomer handelnde künstliche Intelligenz. Sie sind das genaue Gegenteil eines »Weiter so«.

Doch wer entwirft die Bilder dieser neuen Gesellschaft? Wer zeigt auf, was und wie sie zu gestalten ist? Überlassen wir die Zukunft den zu kurz denkenden Gewinnoptimierern wie Google, Amazon, Facebook und Apple? Den unbedarften Trittbrettfahrern der deutschen Liberalen: »Digitalisierung first – Bedenken second«? Verfallen wir den Apokalyptikern, die eine Diktatur der Maschinen voraussagen; Endzeitpropheten, die in den USA den Optimisten längst die Deutungsherrschaft über die Zukunft streitig machen? Oder den Öko-Pessimisten, die den Planeten ohnehin dem Untergang geweiht sehen, weil alles längst zu spät ist?

Utopie und Resignation, Menschheitsversprechen und Menschheitsversagen liegen heute wieder so nahe beieinander wie im späten Mittelalter. Die einen erwarteten das Tausendjährige Reich Christi auf Erden, die anderen die große Auslöschung durch den nächsten Krieg und die Pest. Und gerade jene Gleichzeitigkeit war, wie wir heute wissen, der Anfang eines Neuen, einer Wiedergeburt der Menschlichkeit, der Renaissance. Wenn wir uns heute selbst aus der Vogelschau betrachten, so sehen wir die Menschheit an einem ebensolchen Wendepunkt. Das Verhängnis abwenden aber kann nur, wer an die Chance dazu glaubt; wenn man ausbricht aus der vermeintlichen Logik von Sachzwängen und Alternativlosigkeiten, aus dem Kleinmut und dem verheerenden Wunsch, für das, was man tut, von allen gemocht zu werden. »Politik« und »Utopie« scheinen heute so unvereinbar, als gehörten sie nicht zusammen, wie Schulzes Begriffspaar »Kapitalismus« und »Zukunft«. Doch nur zu wissen, was man nicht will, führt im Leben nicht weiter und die Gesellschaft ins Verderben.

Dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, aus dem Fatalismus des unweigerlichen Werdens aus- und zu einem Optimismus des Wollens und Gestaltens aufzubrechen. Es möchte helfen, ein Bild einer guten Zukunft zu malen. Und es möchte zeigen, dass das Heil niemals in der Technik selbst liegt, wie viele Geeks im Silicon Valley glauben, sondern in der Art und Weise, wie wir mit ihr umgehen, ihre Möglichkeiten nutzen und ihre Gefahren rechtzeitig in die Schranken weisen. Mit einem Wort: Nicht die Technik wird über unser Leben entscheiden – was sind schon ein Smartphone oder eine künstliche Intelligenz, die keiner benutzt? –, entscheidend ist die Frage der Kultur. Wir müssen uns fragen, mit welchem Vorverständnis vom Menschen wir die Technik entwickeln und gebrauchen. Soll sie uns helfen oder ersetzen? Haben Menschen tatsächlich einen...

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