1. Was ist Versöhnung, was nicht? Ein Überblick
(Andrea Herzog)
1.1 Einführung
Das Zusammenleben mit einem geliebten Partner, eine beständige und glückliche Partnerschaft zu leben – das ist für viele Menschen ein zentraler Lebenswunsch. Die emotionale Beziehung zum Ehepartner bildet die wichtigste Ressource für die persönliche Zufriedenheit und das psychische Wohlbefinden. Vertrauen, Nähe, Treue und Ehrlichkeit sind wichtige Komponenten einer Beziehung.
Beziehungen bieten jedoch auch Raum für Konflikte und hohes Potenzial für Verletzungs- und Kränkungserfahrungen. Partner fügen sich Unrecht zu, bewusst oder unbewusst, es entstehen seelische Verletzungen. Erwartungen werden enttäuscht, Ansprüche nicht erfüllt. Dies gilt vor allem für Unrechtserfahrungen, für seelische Verletzungen wie z. B. durch Fremdgehen. Gefühle von Ärger, Bitterkeit, Rache oder Zorn können zudem auch vergangene Erlebnisse immer wieder präsent werden lassen und zu Streit, Vorwürfen in Beziehungen bis hin zur Beendigung der Beziehung führen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Erfahrungen in der Kindheit oder im Laufe der Beziehung gemacht wurden. Es ist schwer, schmerzliche Erfahrungen aus der Vergangenheit hinter sich zu lassen, Streitsituationen gut zu befrieden und einen heilenden Umgang mit Verletzungen zu finden.
Jeder Mensch hat die Möglichkeit, unterschiedlich auf Verletzungen und Kränkungen zu reagieren: Er kann auf Ausgleich und Gerechtigkeit setzen, d. h. auf das Zurückzahlen von Schuld; er kann auch Vergebung gewähren, bei der es eben gerade nicht um Recht und Ausgleich geht. Vergebung stellt eine alternative Option dar, wie Menschen mit Verletzungen und deren negativen Konsequenzen umgehen sowie erlebtes Unrecht verarbeiten können.
Vergebung kann zum Erhalt der gegenseitigen Liebe der Partner beitragen. Sie kann gestörte Beziehungen wiederherstellen helfen und somit das Scheitern von Beziehungen verhindern. Vergebung kann als ein Weg der Konfliktlösung verstanden werden, da negative Gedanken, Gefühle und Handlungsimpulse gegenüber der verletzenden Person im Laufe der Zeit aufgegeben werden. Vergebung wirkt sich positiv auf die psychische und physische Gesundheit der beiden Partner aus und führt zu einer erhöhten Lebenszufriedenheit. Auch im sozialen Umfeld zeigen sich positive Auswirkungen (z. B. auf die Entwicklung von Kindern). Dabei kann Vergebung bzw. das Um-Vergebung-Bitten ein sehr schmerzhafter, langwieriger und komplexer Prozess sein, der jedoch beim Gelingen sowohl für das Opfer wie auch für den Täter ein erlösendes und heilendes Moment mit sich bringt.
Ein erfolgreicher Prozess hängt vom Engagement und Willen beider Konfliktparteien ab. Er zeigt sich unter anderem in der Bereitschaft, offen zu sein für einen ehrlichen, authentischen und ggf. langwierigen Dialog, der in manchen Phasen schwierig sein mag. In diesem Sinn wird Vergebung als interpersoneller Prozess verstanden. Das impliziert auch, dass beide Partner in irgendeiner Weise zum Konflikt beigetragen haben. Ebenso ist es für den Vergebungsprozess wesentlich, dass beide Partner aufeinander zugehen und zur Befriedung und Annäherung aktiv beitragen. Das Ziel eines (interpersonellen) Vergebungsprozesses besteht in der Wiederherstellung der verletzten Beziehung und in dem gemeinsamen Bestreben, zu einem eigenen persönlichen Frieden zu kommen. Zugleich trägt dieses Aufeinander-Zugehen dazu bei, die Sehnsucht in verletzten Beziehungen nach Vergebung, nach Wiedergutmachung und einem Neustart zu erfüllen. Vergebung ist somit Voraussetzung für Versöhnung. Gelingt Vergebung, wird dadurch die Enttäuschung über verletzende Ereignisse und Kränkungen gemildert. Ärger, Wut oder Rachegefühle werden abgebaut. Es kann Verständnis wachsen für die verletzende Handlung, wobei Verstehen nicht zu verwechseln ist mit Billigung oder Zustimmung. Vergebungsforschung ist nach Battle und Miller (Battle & Miller 2005, S. 227 ff.) hoch relevant für die Beratung von Paaren, denn das Verzeihen ist effektives Konfliktlösungsverhalten. In lang andauernden Partnerschaften ist Verzeihen eine wichtige Strategie für die Aufrechterhaltung der Beziehung (Fennel 1993, zit. n. Battle & Miller 2005). Die Länge und Qualität einer Beziehung motiviert dazu, sie zu bewahren (McCullough, Bono, & Root 2007).
Vergebung kann auch als intrapersonaler Prozess verstanden und gesehen werden. Die Entscheidung, einer Person zu vergeben, die verletzt hat, und der Verzicht auf Ärger und Wut ist ein selbstverantworteter Akt. „Vergebung ist ein Aufgeben, eine Entlastung, die der Vergebende an sich selbst vollzieht“, und dieser „rationale Prozess, (ist) eine Richtungsänderung in der Art und Weise, wie wir mit uns selbst und dem Partner umgehen wollen“. Der Vergebende macht sich selbst „das Geschenk der Freiheit“ (Retzer 2009, S. 108 ff.). Er bewältigt eigene negative Gefühle, verzichtet auf Rache und fordert keine Gerechtigkeit ein. Die Bandbreite der verletzenden Ereignisse kann dabei von den alltäglichen kleinen Kränkungen bis hin zu schwerwiegenden Kränkungen, wie z. B. Fremdgehen, reichen. Die Untersuchung von Klann, Kohlgraf und Scholl hat ergeben, dass die alltäglichen Verletzungen schwerwiegender erlebt werden als gemeinhin erwartet (Klann et al. 2016).
1.2 Abgrenzung von Vergebung, Verzeihen und sich entschuldigen
Die Begriffe Vergebung und Verzeihen werden sowohl umgangssprachlich als auch in der wissenschaftlichen Literatur oft bedeutungsgleich verwendet, was eine Begriffsdefinition und Abgrenzung schwierig macht. Verzeihen wird wesentlich häufiger verwendet. Gibt man den Begriff „Vergebung“ in Internetsuchmaschinen wie z. B. Google ein, so fällt auf, dass er vor allem im christlich-theologischen Kontext verwendet wird sowie im Zusammenhang mit politischen und völkerrechtlichen Beziehungen. Umgangssprachlich wird das Wort Vergebung kaum verwendet und wenn doch, dann im Kontext schwerwiegender Prozesse und Probleme. Das Wort Verzeihen hingegen wird bevorzugt im Kontext leichter zu bewältigender Beziehungsprobleme verwendet.
Vergebung
Der ursprünglichen Bedeutung nach meint das Wort Vergebung „etwas fortgeben, hinweggeben, in Besitz übertragen“, später auch im Sinne von eine Sache aufgeben, deren strafrelevante Verfolgung berechtigt wäre (vgl. Kämmerer 2007, S. 228). In diesem Sinn wurde es im klerikalen Gebrauch für das Erlassen von Sünden und Strafe verwendet. Im Gegensatz zur psychologischen Definition wird im theologischen Kontext eine spirituelle Dimension impliziert, die ihren Grund in einer Beziehung zu Gott hat. Das Wort Vergebung findet Anwendung für ein göttliches wie auch zwischenmenschliches Handeln. Gottes unvorstellbare Güte eröffnet einen Raum der Vergebung, unter dessen Vorzeichen Schuld eingestanden und Vergebung ausgesprochen werden kann.
Verzeihen
Das Verb verzeihen geht auf das Wort „zeihen“ und „auf einen Schuldigen hinweisen“ oder „beschuldigen“ zurück. Mit dem Präfix „ver“, der das Wort ins Gegenteil wendet, könnte man sagen: jemandem die Schuld nicht mehr anrechnen. Verzeihen kann auch die Bedeutung haben von „nachsichtig sein“, „einer menschlichen Schwäche mit Verständnis begegnen“ (Weingardt 1998, S. 2). Während dem Vergeben ein höheres moralisches Gewicht beigemessen wird und dies auch das Erlassen von Schuld in eindeutiger Weise impliziert, meint Verzeihen eher ein „nachsichtiges Darüber-Hinwegsehen“ bzw. „Entschuldigen“.
Entschuldigen, um Entschuldigung bitten
Wörtlich bedeutet „sich entschuldigen“, „einen Fehler o. Ä. als geringfügig anzusehen“ und „hingehen zu lassen“. Einen „Fehler“, ein „Versäumnis o. Ä. zu begründen“, bzw. „für einen Fehler, ein Versäumnis o. Ä. um Nachsicht, um Verzeihung zu bitten“ (DUDEN, Bd. 7 1989, S. 653). Mit der Bitte um Entschuldigung wird ein Fehler eingesehen und eingestanden. Umgangssprachlich ist mit einer Entschuldigung eine „Bitte um Entlastung von einer Schuld“ gemeint. Der Verletzte kann die Bitte um Entschuldigung annehmen oder ablehnen; er kann von der Schuld insoweit befreien, indem er diese nicht weiter nachträgt.
Ein Verhalten zu „ent-schuldigen“ bedeutet demnach, dem anderen eine Schuld nicht mehr anzurechnen und keine Wiedergutmachung bzw. keinen Schadenersatz zu erwarten. Wird die Entschuldigung verweigert, muss der Verursacher damit leben. Dass etwas wieder gut und in Ordnung ist, liegt in den Händen des Verletzten.
Im Alltag wird eine Entschuldigung auch als Höflichkeit angesehen und teilweise oberflächlich und als Floskel verwendet. So kann z. B. eine Entschuldigung ausgesprochen werden, man sieht aber nicht ein, einen Fehler gemacht zu haben, und streitet diesen ab. Die Person hat nicht verstanden, wie verletzend ihr Verhalten erlebt wurde.
Oft reicht es nicht aus, sich beispielsweise lediglich für die Auswirkungen und Folgen zu entschuldigen, nicht aber für die Taten, die dazu führten. Oder es wird eine Entschuldigung ausgesprochen für die Art und den Umgang, nicht aber für den Kern der Sache. Manchmal wird eine Entschuldigung ausgesprochen für einen Teil des verletzenden Streites, nicht aber für den gesamten Vorgang. Der „Fehler“ wird so als zu gering gesehen und die Größe der Schuld damit minimiert. Für manche Menschen ist für eine glaubwürdige Entschuldigung die Wortwahl entscheidend, anderen ist der Augenkontakt oder ein Spüren der Ernsthaftigkeit wichtig.
Eine Studie von Schmitt et al. (zit. in Frank 2004, S. 231) hat festgestellt, dass eine Entschuldigung für eine schwerwiegende Verletzung nicht ausreicht, um Vergebung zu bewirken.
Versöhnung
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