Zweiter Brief
Liebe Freundin,
«Spät in meinem Leben entdecke ich, dass ich eine Seele habe», haben Sie mir geschrieben. Seien Sie glücklich darüber, besser spät als niemals! Dass man sie entdeckt, bedeutet, dass sie schon immer da war, sogar vor unserer Geburt. Dass man sie spät entdeckt, bedeutet, dass sie der verborgenste, der geheimste Teil unseres Wesens ist, dass sie am Lebensprinzip selbst teilhat, das so unsichtbar ist wie das Element Luft, welches wir jede Sekunde nutzen, ohne je daran zu denken. Lebensprinzip? Was soll das bedeuten? Ist das Leben nicht dieser lebendige Körper, der ganz natürlich, von allein funktioniert, ohne dass etwas anderes eingreifen muss? Das scheint selbstverständlich. Aber wenn wir genauer hinsehen, müssen wir feststellen, dass dieser lebendige Leib fortwährend belebt wird, dass in ihm etwas belebt wird und da gleichzeitig etwas ist, das belebt. In der Antike bezeichnete man das mit dem Doppelbegriff animus – anima. Auf die Frage «Was in der Ordnung des Lebens ist fähig zu beleben?» geben alle Denkrichtungen einstimmig die Antwort: der LEBENSHAUCH. Das indische Denken nennt ihn Aum, das chinesische Denken Qi, das hebräische Ruah, das arabische Ruh und das griechische Denken Pneuma. In jedem einzelnen Menschen wird der animus von der anima gelenkt. Diese ist das Kennzeichen seiner Einheit und seiner Einzigartigkeit. Auch ihr geben alle traditionellen Denkrichtungen einen besonderen Namen, der ein und dieselbe Wesenheit bezeichnet: die SEELE. Das französische Wort, âme, kommt von dem lateinischen anima, das nichts anderes als LEBENSHAUCH bedeutet.
Diese Erinnerung, so oberflächlich sie sein mag, zeigt uns die richtige Sicht, die auf einer universellen Eingebung beruht. Diese Sicht lädt uns ein, auf eine grundlegende Wirklichkeit zurückzukommen, die sowohl unsere Gegenwart als auch unsere Zukunft betrifft. Für Sie wie für mich erweist sich das Aufspüren der Seele und das Nachdenken darüber als eine notwendige und dringende Aufgabe. Lassen Sie uns im Augenblick eine einfache Feststellung machen: Unser lebender Körper ist mit einer Reihe von Organen versehen, die es dem Leben ermöglichen zu funktionieren. Organen, die wunderbarerweise dafür eingerichtet sind, dass wir atmen, uns ernähren und uns bewegen. Sinnesorganen, um zu fühlen, Herz und Gedärmen, um Gefühlsregungen zu spüren. Dem Gehirn, das nicht nur der Sitz des Geistes ist, sondern auch zur Speisung des Gedächtnisses beiträgt. Aber im tiefsten Innern unseres Wesens, das wissen wir, gibt es ein nicht zu unterdrückendes, unerschöpfliches Bedürfnis und Begehren zu atmen, sich zu ernähren, zu fühlen, sich zu erregen, zu lieben und geliebt zu werden und auch sich zu erinnern, damit das Gelebte, eine Mischung aus Kummer und Freude, ein Durcheinander aus schmerzlichen und glücklichen Momenten, unter Umständen in ein Einziges und Vereintes gewandelt werden kann. Im tiefsten Innern unseres Wesens wissen wir, dass das Leben, vor allem das menschliche Leben, nicht im blinden Funktionieren des Bestehenden liegt, sondern immer den Drang nach einem höheren Sein einschließt.
Im täglichen Leben scheint die Seele einer Person in ihrem Blick durch und drückt sich in ihrer Stimme aus. Zwei Organe, die Augen und der Mund, die sich im Gesicht konzentrieren, welches das verkörperte Geheimnis eines jeden Menschen bildet. Sieht man einem Künstler zu, wie er ein Porträt zeichnet, fällt einem auf, dass er zuerst eine Reihe von Umrissen zeichnet, damit das Gesicht in einem Raum «Gestalt annimmt». Dann kommt der magische Zeitpunkt, wo er mit Hilfe weniger Striche die Augen erscheinen lässt. In dem Moment kommt es zu einem Durchbruch, und man taucht in eine unfassbare Tiefe. Die beiden Perlen reflektieren und verbreiten eine ganze Welt, dem Himmel über dem Meer der Bretagne vergleichbar, ein unerschöpfliches Spiel aus Licht und Schatten. Darin ereignet sich ein unaufhörlich offenbartes Geheimnis, das die Dimension des Fleischlichen, im organischen Sinne des Wortes, übersteigt.
Und ich möchte noch Folgendes anmerken. Jeder trägt seine Seele im Innersten, ohne sie sehen zu können. Dennoch ist es möglich, die Seele eines anderen in dessen Gesicht zu erblicken – vor allem, wenn es sich um das eines geliebten Menschen handelt –, anhand eines Blickes, eines Lächelns, vertraulicher Worte … Nun vermag aber jeder, der die Seele eines anderen erblickt, auch die eigene zu sehen in dem Spiegelbild, das der Blick des anderen ihm zurücksendet. Das ist der geheime Weg der Wahrnehmung der Seele.
Leib und Seele sind eng miteinander verbunden, das ist offensichtlich. Ohne Seele ist der Leib nicht belebt, ohne Leib ist die Seele nicht verkörpert. Aber man sollte hier wohl doch vermerken, dass die beiden nicht einfach gleichwertig zueinander im Verhältnis stehen, sondern unterschiedlichen Ordnungen angehören. Fürs Erste möchte ich gern diese beiden Sätze von Descartes zitieren: «Die Seele ist von einer Natur, die weder mit der Ausdehnung noch mit der Größe noch mit anderen Eigenschaften der Materie etwas gemein hat, aus der der Körper zusammengesetzt ist» (Die Leidenschaften der Seele). Und: «Dieses Ich, das heißt, die Seele, durch die ich bin, was ich bin, ist vom Körper ganz verschieden» (Abhandlung über die Methode). Und dann diesen recht erstaunlichen Satz von Victor Hugo: «Der menschliche Körper könnte sehr wohl nur ein äußerer Schein sein. Er verbirgt unsere Wirklichkeit … Die Wirklichkeit ist die Seele» (Die Arbeiter des Meeres).
Die Seele, die den Körper belebt, gehört zum Prinzip des LEBENS. Außer in den Fällen, wo sie infolge von Perversion oder Zerstörungstrieb in entgegengesetzter Richtung agiert, ist sie unter allen Umständen ein Streben nach Leben. Ihr Drängen ist selbstverständlich glühend, wenn sie durch die Liebe erregt wird. Aber ihre Flamme lodert nicht minder lebhaft inmitten des Grauens, des Leidens, oder wenn der Tod droht. Im Gegenteil, all diese Prüfungen bereichern sie, erhöhen sie, zwingen sie, sich in die transzendente Dimension zu erheben. Das drückt auf seine Art der heute leider zu sehr in Vergessenheit geratene Dichter Pierre Emmanuel aus:
Jede Seele, die das Gefängnis durchbrochen hat,
worin die Angst geliebt zu werden sie einsperrt,
Ist auf der Welt wie ein Sturm, ein Aufstand von Gischt und Salz,
Ein mächtiges Wort des Lebens im vergänglichen Körper und gegen ihn.
Alles ist Leben, und erst recht am Ende, wenn die Schale des Körpers birst
Unter dem Ungestüm der Seele, die es nicht länger erträgt, immer in Knechtschaft zu sein:
Dann verwest nicht mehr der Leib, sondern die Zwiebel einer unsichtbaren Hyazinthe,
Die in triumphaler Demut aufsteigt wie eine Traube aufgetürmter Himmel.
Ich lasse dich, sagt Gott. Du bist glücklich. Ich lasse dich, denn du bist dir sicher.
Du, erster aus Babel Geretteter, nicht durch eine besondere Kraft,
Sondern einfach, weil du liebst.
Vielleicht haben Sie wie ich diese Erfahrung gemacht. Eines Nachts erwache ich. Ich höre das Klopfen meines Herzens. Dieses Stück Fleisch, das da pocht, das mich am Leben hält, ohne dass ich es bemerke, ist es der alleinige Motor meines Lebens? Mischt sich da nicht immer ein Lebensprinzip ein, das es weiter schlagen lässt? Oder konkreter gesagt, nach meinem bescheidenen Verständnis, mischt sich da nicht ein Leben-Wollen ein, das dieses Herz, ohne sein Wissen, am Laufen hält? Und verschwände dieses Leben-Wollen, würde dann das Herz nicht langsamer schlagen und bald stillstehen?
Worum es sich bei dem Leben-Wollen handelt, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht mehr so genau. Die Gewohnheit der Tage und das Gewicht der Jahre haben das heftige Gefühl meines Schwungs in mir verblassen lassen. Mir scheint, dass ich in meiner fernen Kindheit ein klareres Bewusstsein davon hatte. Klar wie der Vollmond im Frühjahr, der den ganzen atembaren Raum des DRAUSSEN überflutete. Sie erinnern sich vielleicht an diese Sätze der Priorin Blanche in den Gesprächen der Karmelitinnen von Georges Bernanos: «Wir weihen unser Leben dem Bemühen, diese Einfachheit der Seele zu erlangen oder sie wiederzufinden, wenn wir sie zuvor gekannt haben, denn sie ist eine Gabe der...