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Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie

Band 4: Aphasien, Dysarthrien, Sprechapraxie, Dysphagien - Dysphonien

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783170292987
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Das 'Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie' vermittelt die Grundlagen der in den Prüfungs- und Studienordnungen vorgesehenen Inhalte. Gleichzeitig berücksichtigt es sämtliche Aufgabenbereiche der Praxis. Der vierte Band 'Aphasien, Dysarthrien, Sprechapraxie, Dysphagien - Dysphonien' geht auf neurogene Sprach- und Sprechstörungen ein. Aphasien, Dysarthrien und Dysphagien sind nicht nur auf Grund des demographischen Wandels ein an Bedeutung zunehmendes Aufgabengebiet. Die Erkenntnis ihrer kommunikativen Lebensbedeutsamkeit führt auch zu einem veränderten Vorgehen in der Diagnose und Therapie.

Prof. Dr. Manfred Grohnfeldt ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Leseprobe

 

Die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Sprachtherapie


Manfred Grohnfeldt


Einleitung


Seit Jahren wird nicht nur die deutsche Bevölkerung immer älter. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Nachfrage nach Sprachtherapie bei neurogenen Sprach- und Sprechstörungen im Erwachsenenalter steigt. Gleichzeitig verändert sich das Lebensgefühl der zumeist betroffenen Menschen im Alter von über 60 Jahren. Dies alles hat Auswirkungen auf die Sprachtherapie, sei es in der Art des praktischen Vorgehens wie auch im Selbstverständnis der beteiligten Wissenschaften der akademischen Sprachtherapie und Logopädie. Es ist zu erwarten, dass die Sprachtherapie im Erwachsenenbereich an Bedeutung zunehmen wird.

Das Ziel des nachfolgenden Beitrags besteht darin, die damit verbundenen Hintergründe und Auswirkungen in Theorie und Praxis aufzuzeigen.

1          Der demographische Wandel


1.1        Veränderungen der Bevölkerungspyramide


Veränderungen der Bevölkerungsentwicklung zeigen sich in vielfältiger Weise mit gravierenden Auswirkungen. Die typische Pyramide mit einer hohen Kinderanzahl und einer geringen Anzahl an über Sechzigjährigen zur Zeit des Kaiserreiches in Deutschland wurde abgelöst durch die geringe Anzahl der Dreißig- bis Fünfunddreißigjährigen um 1950 als Folge der Verluste des Zweiten Weltkrieges. Es folgte die Zeit der Baby-Boomer während des Wirtschaftswunders in Deutschland und schließlich der sog. ›Pillenknick‹, der nicht nur durch das Verhütungsmittel an sich, sondern vor allem durch den Wandel der gesellschaftlichen Einstellung und damit multifaktoriell bedingt ist ( Abb. 1).

Seit Jahren werden durchschnittlich von jeder gebärfähigen Frau in Deutschland 1,4 Kinder geboren (https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Geburten/AktuellGeburtenentwicklung.html). Notwendig wären durchschnittlich 2,1 Kinder, um den Bestand zu gewährleisten. Da hilft auch keine Zuwanderung, da die Frauen, die notwendig wären, um den Bestand zu sichern, schon nicht mehr geboren sind.

Die Auswirkungen zeigen sich nicht nur bei den Rentenkassen und der Altersversorgung, sondern auch in den gesellschaftlichen Einstellungen, der Dynamik eines Volkes und letztlich auch in der Nachfrage nach sprachtherapeutischen

Abb. 1: Bevölkerungspyramide um 1910, 1950, 2000 und 2050 (prognostiziert) in Deutschland

Leistungen in unterschiedlichen Altersgruppen und Störungsbildern.

1.2        Auswirkungen auf die Leistungsnachfrage in der Sprachtherapie


Vor dem o. g. Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Anzahl der sprachtherapeutischen Verordnungen für Menschen über 60 Jahren steigt. Bereits zwischen 2007 und 2012 stieg sie von 214.000 auf 376.000 Verordnungen (Hansen 2014; Quelle: GKV-HIS 2012). Parallel dazu änderten sich die Indikationen der Sprachtherapie zwischen 2009 und 2014 deutlich (Grohnfeldt 2017 mit Bezug auf AOK – Heilmittel-Informationssystem im WldO 2016; ebenso: Waltersbacher 2015, 34):

•  Bei Störungen der Sprachentwicklung sank der Anteil von 67,7% im Jahr 2009 auf 64,1% im Jahr 2014.

•  Der Anteil der zentralen Sprach- und Sprechstörungen sowie der Dysphagien stieg von 24,5% im Jahr 2009 auf 29,6% im Jahr 2014.

Offensichtlich ist Bewegung in die prozentuale Verteilung von Sprachstörungen im Kindes- und Erwachsenenalter gekommen. Lange Zeit waren Störungen der Sprachentwicklung mit einem Anteil von ca. 70–80% das dominierende und letztlich geradezu prägende Aufgabengebiet vom Selbstverständnis her für die Sprachheilpädagogik und Logopädie (Grohnfeldt 2012). Auch jetzt stellen 24,1% der Jungen und 16,7% der Mädchen im Alter von 6 Jahren einen Verteilungsgipfel bei der Nachfrage nach sprachtherapeutischen Leistungen dar (Waltersbacher 2015, 37). Der Anteil der Störungen im Erwachsenenalter steigt aber kontinuierlich, so dass für die beteiligten logopädischen Praxen ein an Bedeutung gewinnendes Aufgabengebiet im Hinblick auf die Intensität und Häufigkeit sprachtherapeutischer Interventionen zu erwarten ist.

Besonders deutlich wird dies, wenn man sich die Heilmittelverordnungen und -umsätze nach Altersgruppen (je 1.000 Versicherte) einmal im Detail ansieht ( Tab. 1).

Tab. 1: Sprachtherapie: Heilmittelverordnungen und -umsätze nach Altersgruppen (je 1.000 Versicherte) von Januar bis Juni 2016 (https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Geburten/AktuellGeburtenentwicklung.html [hier: S. 27 von 28])

Vergleicht man die Altersgruppe mit Sprachstörungen im Kindesalter (0 bis 15 Jahre) mit den über Sechzigjährigen (60 bis 90 und älter), so fällt auf, dass

•  der Bruttoumsatz bei den Heilmittelverordnungen im Kindesalter mit 21.573 Euro bei 562 Behandlungseinheiten geringer ist als bei den über Sechzigjährigen (aufsummiert: 34.959 Euro bei 760 Einheiten). Dies lässt sich auch für den Nettoumsatz, die Verordnungsblätter und die Heilmittelanzahl aufzeigen.

Offensichtlich sind kindliche Sprachentwicklungsstörungen zwar weiterhin prozentual häufiger. Sprachstörungen im Erwachsenenalter werden aber länger behandelt und verursachen insgesamt mehr Kosten.

•  Als Detailergebnis fällt auf, dass bereits die Gruppe der Fünfzig- bis Sechzigjährigen vermehrt sprachtherapeutische Leistungen in Anspruch nimmt. In diesen Zusammenhang passt, dass das Durchschnittsalter für Schlaganfallpatienten in den letzten 20 Jahren von 71 auf 69 Jahre gefallen ist (http://www.fid-gesundheitswissen.de/neurologie/schlaganfall/durchschnittsalter-fuer-schlaganfaelle-immer-geringer/).

•  Ebenso ist auffällig, dass auch bei den Altersgruppen von über 85 und sogar über 90 Jahren eine hohe Nachfrage nach Sprachtherapie besteht, die bereits ca. 56% des Bruttoumsatzes der gesamten Kindersprachtherapie ausmacht (aufsummiert: 12.023 Euro von 21.573 Euro). Hier dürfte sich der zunehmende Anteil der Menschen mit Demenz bemerkbar machen.

Es ist zu erwarten, dass die genannten Tendenzen sich auf Grund des demographischen Wandels weiter vertiefen und zu einer nachhaltigen Veränderung des Selbstverständnisses der akademischen Sprachtherapie und Logopädie beitragen werden. Bevor darauf in einem größeren Kontext eingegangen wird, ist zu fragen, um welchen Personenkreis es sich bei den über Sechzigjährigen handelt. Hier sind in den letzten Jahrzehnten erhebliche Veränderungen im Hinblick auf die körperliche Gesundheit, aber auch die psychische Befindlichkeit zu beobachten.

2          Das Lebensgefühl der über Sechzigjährigen


Bereits Cicero (106–43 v. Chr.) beschäftigte sich in seiner berühmten Schrift »Cato maior de senectute« mit dem Alter (Cicero, Übersetzung von Merklin 1998). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es dann vorwiegend psychoanalytisch orientierte Autoren (z. B. Brocher 1977, Riemann & Kleespies 2011), die speziell auf die Altersphase eingingen, wobei das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung von Erikson (1973) eine weltweite Verbreitung gefunden hat. In diesem Zusammenhang ist dabei die achte (letzte) Lebensphase von Bedeutung, die mit »Ich – Integrität versus Verzweiflung« benannt wird. Eine systematische Altersforschung setzte in Deutschland dann vor ca. 40 bis 50 Jahren ein (z. B. Lehr 1972).

Doch was heißt ›Alter‹? Vor einem Jahrhundert war man mit Mitte 40 als ›alt‹ gekennzeichnet, hatte sich dementsprechend zu kleiden und nahm in der gesellschaftlichen Wertschätzung eine klar umgrenzte Rolle ein. Heute ist alles anders. Gerade die letzten beiden Jahrzehnte haben einen entscheidenden Wandel mit sich gebracht. So verweist Sheehy (1996) auf die »neue« Lebensphase der Generation zwischen 60 und 80 (85) Jahren, die ganz andere Möglichkeiten einer aktiven Lebensführung als früher hat, wobei bei guter Gesundheit und finanzieller Absicherung nicht nur Hobbies und Reisen, sondern auch über den (ehemaligen) Beruf hinausgehende Interessen und geistige Aktivitäten gemeint sind. Ebenso haben Bücher wie die von Koch (2003), die aus medizinischer Sicht Hinweise zu einer gesunden Lebensführung geben, eine sehr hohe Auflage bei der...

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