II. Das Jenseits und seine Bewohner
1. Dantes Vorläufer und Quellen
Was die Gestaltung des Jenseits betrifft, ist Dante keineswegs originell. Er greift selbstverständlich auf das große, recht heterogene Reservoir an schrecklichen wie ergötzlichen Bildern aus der Welt nach dem Tod zurück, zu dem viele Kulturen vom alten Orient über die griechisch-römische Kultur bis hin zu jüdisch-christlichen und islamischen Glaubensvorstellungen ihr Scherflein beigetragen haben. Dennoch besteht ein deutlicher Unterschied zwischen seinem Jenseits und den vorherigen – ob nun gelehrt-theologischen oder eher folkloristischen. Und das hängt nicht nur mit Dantes herausragender sprachlicher wie poetischer Ausdruckskraft, sondern auch mit seinem Anspruch zusammen, die Vorläufer zu überbieten, indem er die schriftlich wie mündlich kursierenden Vorstellungen systematisiert und in einen in sich geschlossenen Kosmos bringt. Wie überzeugend ihm das gelungen ist, lässt sich an den Spuren ablesen, die seine Gestaltung des Jenseits in den bildenden Künsten, in der Volksfrömmigkeit, in gewisser Weise sogar in der katholischen Doktrin hinterließ.
Gleich im zweiten Gesang des Infernos, als der Wanderer Dante seinem Führer Vergil klarmacht, warum er sich lieber doch nicht auf die Reise durch das Totenreich begibt, fallen die Namen von zwei berühmten Jenseitsreisenden vor ihm:
Io non Enea, io non Paulo sono
Me degno a ciò né io né altri crede.
Ich bin Aeneas nicht, nicht Paulus bin ich,
Und niemand wird mich daher für würdig halten. (Inf. II 32–33)
Den Wanderer packt die Verzweiflung, da er nicht im entferntesten an den trojanischen Heros Aeneas und noch weniger an den in Damaskus auf wunderbare Weise vom Saulus zum Paulus bekehrten späteren Apostel heranzureichen meint. In den zwei Namen sind zugleich die wohl wichtigsten Traditionen aufgerufen, die bis 1300 die vielfältigen Darstellungen vom Leben nach dem Tod kennzeichneten, die antik-heidnische Unterwelt oder der Hades sowie die bildgewaltigen Jenseitsbeschreibungen der drei monotheistischen Religionen. In den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt nahmen Letztere die Form von Apokalypsen, also Offenbarungen vom Jüngsten Gericht an. Vom fünften Jahrhundert an wurden diese verdrängt von Erlebnisberichten, Visionen von der Welt, in der sich die Toten bis zum Jüngsten Gericht aufhalten.
Aeneas’ Abstieg in die heidnische Unterwelt
Bei der Darstellung des Jenseits hat sich Dante stark vom sechsten Buch in Vergils Aeneis anregen lassen. Nach einer längeren Irrfahrt geht Aeneas mit den Gefährten nördlich von Neapel an Land. Sogleich sucht er den Tempel des Phöbus auf, um von dessen Priesterin, der Sibylle von Cumae, den Weg zu seinem verstorbenen Vater Anchises zu erfahren. Zudem will er sein Versprechen einlösen und Aufschluss über die eigene Mission erhalten. Nachdem er einige Auflagen, etwa einen Goldenen Zweig im Wald abzubrechen, erfüllt hat, erklärt sich die Sibylle bereit, ihn in die Unterwelt mitzunehmen, aus der gewöhnlich kein Lebender zurückkehrt.
In diesem Abstieg in den Hades (Katabase) machte sich Vergil verschiedene antike Jenseitsvorstellungen zunutze. Abgesehen von der orphischen Überlieferung orientierte er sich insbesondere an der homerischen Nekya – jener Episode, in der Odysseus über den die Erde umgrenzenden Fluss Okeanos hinübersetzt, den Eingang der Unterwelt erreicht und mit frischem Blut die Schatten zu sich herauslockt, um von dem Wahrsager Tiresias Näheres über die eigene Heimfahrt nach Ithaka zu erfahren. Homer umrahmt diesen für die Handlung so wichtigen Dialog mit einer Reihe berührender Begegnungen, darunter die mit Odysseus’ inzwischen aus Gram verstorbener Mutter. Auf seinen Spuren wird Vergils Aeneas nicht nur auf den Vater Anchises, sondern auch auf befreundete Trojaner und die verlassene Geliebte Dido treffen. Außerdem schöpfte Vergil Anregungen aus der platonischen Totenwelt. Auch in der Aeneis sitzen die unbestechlichen Richter Minos und Rhadamanthys über die Toten zu Gericht, wenngleich Minos hier die Aufgabe zukommt, unschuldig Verurteilte zu rehabilitieren, während Rhadamanthys über die schlimmsten Verbrecher richtet.
Anders als seine griechischen Vorläufer hat sich Vergil bemüht, die längst topisch gewordenen Landschaften, Motive und Requisiten des heidnischen Jenseits in einem den Erfordernissen epischer Dichtung angemessenen, klar gegliederten Raum unterzubringen. Seinen Protagonisten lässt er erst einen Vorhof voller mythischer Unwesen, dann mehrere, erst fahl vom Mond beschienene, dann grausig-finstere und zuletzt helle Landschaften durcheilen. Mehrfach werden mehr oder minder scharf gezogene Abgrenzungen sichtbar: Flüsse wie der Acheron oder der Phlegeton, Seen wie der Kokytos, Palastmauern oder auch eingehegte Orte wie Haine und Täler, Figuren, die Übergänge bewachen, darunter der Fährmann Charon, der die bestatteten Toten ins Jenseits übersetzt, sowie der Hund Zerberus mit den drei Mäulern, der Unbefugten den Zutritt verwehrt. All diese Figuren und Orte wird Dante in sein christliches Jenseits einbauen.
Merklich steht Dante auch unter dem Eindruck der übersichtlichen räumlichen Ordnung, die Vergil der Unterwelt überstülpt. Aeneas gelangt zum Beispiel an einen Scheideweg. Links geht es zum großartigen Palast des Höllenherrschers Dis (lateinisch für Hades), unter dem sich – wie die Sibylle erklärt – ein Schlund, der Tartaros, auftut, in dem die schlimmsten Vergehen geahndet werden: der Verrat an Familie, Gastrecht, der Res publica oder den Göttern. Kein Reiner habe dort Zutritt. Aeneas steckt an dem gewaltigen Tor des Palasts rasch den Goldenen Zweig als Opfergabe an. Anschließend geleitet ihn die Sibylle zurück auf den rechten Weg, der sie zu grünen, von einer eigenen Sonne beschienenen Fluren führt – einem Ort für diejenigen, die sich ums Vaterland oder um jemanden verdient gemacht haben. Mit sportlichen Spielen, Tänzen, Musik- wie Gedichtrezitationen vertreiben sie sich die Zeit.
Um zu dem Ort zu gelangen, an dem Anchises weilt, muss die Sibylle einen anderen Führer, den hochgewachsenen Dichter Musaeus, ausfindig machen. Zu dritt eilen sie über eine Anhöhe in ein Tal voll schattiger Haine. Dreimal umarmt Aeneas dort vergeblich den Schattenleib des Vaters. Anchises führt ihn in die neuplatonische Lehre von der tausendjährigen Läuterung der Seelen ein, die anschließend, unmittelbar vor ihrer Rückkehr ins Leben – und danach lechzen die Toten in der heidnischen Antike –, in den Vergessen schenkenden Fluss Lethe getaucht werden. Vor den Augen des Aeneas entrollt sich am Ende einem Triumphzug gleich der unaufhaltsame Aufstieg der Römer bis zu Caesar und Kaiser Augustus, unter dessen Herrschaft Vergil dichtet.
Die Entrückung des Apostels Paulus
Wenn sich der Wanderer Dante auf Paulus beruft, ist zunächst der knappe, noch dazu in die dritte Person verpackte Hinweis auf die vorübergehende Entrückung eines Mannes in den ‹dritten Himmel› aus dem zweiten Korintherbrief gemeint. Möglicherweise bezieht sich Dante zusätzlich auf die Visio Sancti Pauli, die in Westeuropa stark verbreitet war. Das griechische Original war schon im oströmischen Reich entstanden; man unterscheidet eine erste Version – die Paulus-Apokalypse – vom Ende des 2. Jahrhunderts von einer zweiten, von Mönchen überarbeiteten aus dem 4. oder 5. Jahrhundert. Zwar wurden alle Versionen schon 494 den Apokryphen zugeschlagen, doch änderte das nichts an ihrer Beliebtheit.
Dante könnte durchaus irgendeine kurze oder lange Version jener Visio Pauli gekannt haben. Übrigens finden sich in der Langfassung etliche Motive aus der griechisch-heidnischen Kosmographie. Während der Körper des Apostels in einer Art Scheintotenstarre auf der Erde bleibt, löst sich seine Seele gewaltsam ab und durchläuft, von einem Engel begleitet, die Hölle. In manchen Fassungen schließt sich daran noch eine Schau des Himmels an. Auch wenn bei den Abschriften der Visio Pauli das Jenseits mit neuen Elementen ausgestattet wird, darunter eine Feuerwand oder die aus dem Altpersischen stammende Brücke, von der die bösen Seelen abstürzen, bleibt die Darstellung ziemlich unbestimmt, wenn man...