Vorwort
Unaufgeregt in einem fast gewöhnlichen Land
Ben Segenreich
»Wird Israel im Jahr 2048 noch existieren?«, »Warum es Israel in 50 Jahren vielleicht nicht mehr geben wird« oder schlicht »Wird Israel überleben?« – so und ähnlich lauten Titel von regelmäßig auftauchenden Artikeln, Aufsätzen oder Blogs, die teils in echter Sorge um den jüdischen Staat geschrieben werden und teils durchklingen lassen, dass die Verfasser ihn eigentlich für überflüssig halten. Israel scheint der einzige Staat zu sein, dessen Überlebensfähigkeit infrage gestellt wird und, was noch gravierender ist, dessen Überlebensberechtigung zur Debatte steht. Das geht so weit, dass das deutschsprachige Wikipedia sogar einen eigenen Eintrag zum Begriff »Existenzrecht Israels« aufweist. Einen Eintrag »Existenzrecht der Schweiz« oder »Existenzrecht Südsudans« wird man dort natürlich vergeblich suchen. Wenn ein ausländischer Politiker den Israelis Freundschaft und Verbundenheit bekunden will, dann erklärt er feierlich, dass ihr Staat das Recht habe, zu existieren. Würde der Politiker so etwas in Bezug auf irgendeinen anderen befreundeten Staat sagen, dann hielte man ihn für verrückt, aber bei Israel fällt das nicht weiter auf. Und es mag zwar gut gemeint sein, hat aber eine verunsichernde Wirkung, denn der Drang, den Israelis zu bescheinigen, dass sie existieren dürfen, bestätigt ja bloß, dass ihre Existenz eben doch irgendwie fraglich ist.
Allerdings kommt dieser Zweifel an Israel nicht nur von außen. Die Israelis selbst scheinen ihr Land immer noch nicht als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. »Das kann nicht mehr lange so weitergehen« und »Wenn uns unsere Feinde nicht zerstören werden, dann werden wir uns selbst zerstören« sind Sätze, die ich ständig höre, seit ich als Einwanderer auf dem Ben-Gurion-Flughafen gelandet bin, und das ist jetzt auch schon bald 35 Jahre her. Israelis gegen Palästinenser, Juden gegen Muslime, Rechte gegen Linke, Religiöse gegen Nichtreligiöse, aschkenasische Juden gegen orientalische Juden, Arme gegen Reiche, Russen gegen Äthiopier – wie kann ein Land so viele Konflikte aushalten?
Ich maße mir nicht an, in die Zukunft sehen zu können, begnüge mich daher mit dem Blick auf die Vergangenheit und die Gegenwart und stelle dabei fest, dass Israel jetzt offensichtlich stabiler ist als jemals seit seiner Gründung vor 70 Jahren. In der Zeitstrecke, die ich selbst hier miterlebt habe, hat sich vieles verbessert, zum Beispiel die Restaurants, die Eisenbahn und die Inflationsrate. Durch die Erdgasfunde vor der israelischen Küste ist die Energieunabhängigkeit auf Jahrzehnte hinaus gesichert, der rechtzeitige Bau von Entsalzungsanlagen hat das Land, das zu 60 Prozent aus Wüste besteht, von der drückenden Sorge um die Wasserversorgung befreit, und heute gibt es vielversprechende Beziehungen mit Giganten wie China und Indien, die Israel früher gleichgültig bis feindselig gegenüberstanden. Israelische Sicherheitsexperten sind sich ziemlich einig darin, dass die militärische Bedrohung noch nie so gering war wie jetzt, was unter anderem daran liegt, dass die arabischen Staaten mit sich selbst beschäftigt sind. Der israelisch-palästinensische Konflikt bleibt natürlich ungelöst, was viel Leid mit sich bringt, vor allem für die Palästinenser, aber auch für die Israelis. Trotzdem ist es ein Faktum, dass ausgerechnet Israel, das von Anbeginn immer als die geopolitische Krisenzone gegolten hatte, nun seit Jahren, bis auf kurze Ausreißer, eine Insel relativer Ruhe ist. Die Betonung liegt dabei auf dem Wort relativ – die Lage ist ruhig im Vergleich mit dem, was in diesen Zeiten in Syrien, im Irak oder in Ägypten geschieht, und im Vergleich mit dem, was in früheren Zeiten zwischen Israelis und Arabern geschehen ist.
In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung 1948 war die Frage, ob Israel überleben würde, ja wirklich berechtigt gewesen. Um 1960 herum lebten hier erst zwei Millionen Juden auf einem winzigen, isolierten Landstrich ohne Ressourcen, umgeben von Hunderten Millionen näheren und ferneren Nachbarn, für die Israel ein Fremdkörper war, den es zu entfernen galt. Doch spätestens nach dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 mussten zumindest die rationalen Geister in der arabischen Welt begriffen haben, dass Israel militärisch nicht zu besiegen ist. Auch von dem immer wieder angesagten Bürgerkrieg in dem Multikulti-Gemenge, wo Juden aus Dutzenden verschiedenen Herkunftsländern neben muslimischen und christlichen Palästinensern, Beduinen, Drusen, Tscherkessen, Samaritanern, Karäern, Maroniten, Armeniern und Black Hebrews leben, ist nichts zu sehen. Und wenn Israel also – allen Befürchtungen oder, je nach Standpunkt, Hoffnungen zum Trotz – vorläufig nicht auseinanderbricht, dann ist der 70. Geburtstag ein guter Anlass für einen Versuch, das Land ein bisschen besser zu verstehen.
Damit keine falschen Erwartungen entstehen, sind zwei Vorbemerkungen angebracht. Erstens: Da Israel so klein ist, sollte es überschaubar und vielleicht sogar durchschaubar sein, tatsächlich ist es aber sehr kompliziert und eigentlich unerklärbar. Zweitens: Trotz all dieser Komplikationen und entgegen herkömmlichen Vorstellungen gibt es in Israel einfach einen banalen Alltag. Wenn man hier lebt, denkt man nicht dauernd über Ideologie und Politik nach, sondern darüber, wo man das Gemüse billiger einkaufen kann und wann man losfahren soll, um trotz der Staus rechtzeitig zur Arbeit oder zu einer Verabredung zu kommen.
Vor vielen Jahren hat der Wiener Komponist und Kabarettist Gerhard Bronner über Israel ein Lied geschrieben, dessen Refrain mir im Ohr geblieben ist: »Es ist ein ganz normales Land, aber nur fast.« Ähnlich hat es einmal der amerikanischisraelische Publizist Zeev Chafets formuliert: Israel ist »eine Gesellschaft ganz gewöhnlicher Menschen in einer ungewöhnlichen Lage«. Das ungefähr definiert die Perspektive, aus der wir mit diesem Buch an Israel herangehen wollen. Es soll sicher kein Buch über Israels politische und kriegerische Konflikte sein, obwohl diese natürlich immer wieder berührt werden. Es soll auch kein systematischer, umfassender Reiseführer oder Geschichtsband sein, und auch keine Chronik von 28 Jahren Korrespondententätigkeit. Unsystematisch und nichtchronologisch, kontrastierend im Stoff und im Ton, bieten wir unzusammenhängende Kapitel an, von denen hoffentlich jedes eine interessante Überlegung, einen wenig bekannten Aspekt oder die Entdeckung einer bemerkenswerten Persönlichkeit vermittelt. Manche dieser Texte sind schon vor längerer Zeit geschrieben und jetzt für dieses Buch überarbeitet worden. Ihre Einbindung scheint uns angebracht, weil wir ja auch Rückschau auf eine 70-jährige Entwicklung halten wollen.
Dem Wunsch des Verlags, dass die Autoren auch ein bisschen über sich selbst erzählen sollen, kommt das Kapitel »Am Anfang …« nach (und nein, das ist keine Anspielung auf die Bibel). Da die beiden Autoren aus Österreich stammen und als Journalisten hauptsächlich für österreichische Medien gearbeitet haben, hat es sich aufgedrängt, Abschnitte im wechselvollen Verhältnis zwischen Israel und Österreich nachzuzeichnen und dabei zu analysieren, warum es Israelis und Österreichern manchmal schwerfällt, einander zu verstehen. Indirekt damit zu tun hat auch die Frage, ob die österreichischen Juden in die Kategorie der »Jeckes« fallen – eine definitive Klärung gelingt uns leider nicht, aber falls Sie nicht wissen, was ein »Jecke« ist, dann können Sie es in diesem Buch erfahren. Identität, ob israelische oder österreichische, hat auch mit dem Essen zu tun, und es wird Sie vielleicht überraschen, wenn Sie hier lesen werden, dass das Schnitzel – bei allem Respekt für Hummus und Falafel – die eigentliche israelische Nationalspeise ist. Außerdem hat Identität natürlich mit Sprache zu tun. In Israel ist ja so manches Wunder wahr geworden, und das wohl größte davon ist, dass hier acht Millionen Menschen im Alltag eine Sprache sprechen, die 2000 Jahre lang tot war. Für unzählige Begriffe, die es im Altertum nicht gab, mussten neuhebräische Wörter konstruiert werden – zum Beispiel das Wort »zalam«, das »Fotograf« bedeutet und von dem Wort »zelem« (»Ebenbild«) in der Schöpfungsgeschichte abgeleitet ist. Solch schweres linguistisches Gepäck können wir deutschsprachigen Lesern natürlich nicht aufbürden. Aber wir hoffen, Sie zu interessieren und vielleicht zu belustigen, wenn wir Sie darüber unterrichten, dass die Israelis, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, miteinander auch deutsch sprechen, weil nämlich viele deutsche Wörter Bestandteile des hebräischen Slangs geworden sind.
Immer nur lustig ist es in Israel natürlich keineswegs. Israel ist auch das »Land der Sirenen«, wie...