[7]1 Eine Gefangennahme: El Alamein, 4. November 1942
4. November 1942, später Nachmittag: Der gefangene General Wilhelm Ritter von Thoma (r.) trifft Lieutenant General Bernard Montgomery (l.) auf dessen Gefechtsstand.
»Kruzifix! Da hilft alles nix mehr!«, fluchte General Wilhelm Ritter von Thoma im derbsten Bairisch. Er stand im Turm seines Panzers und sah den Feind in einer riesigen Wüstenstaubwolke immer näher heranrücken. Die Schlacht war verloren, die ganze Front in Auflösung begriffen. Deutsche wie italienische Soldaten eilten zurück nach Westen, und Thoma sollte mit den Resten seines Deutschen Afrikakorps ihren Rückzug gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Briten decken. Lange Zeit hatten seine Panzer das Gefecht geschickt verzögert, doch nun schien es vorbei zu sein, die gegnerische Übermacht war zu groß.
Der General kletterte vom Turm in den Innenraum des Panzers, als plötzlich ein ohrenbetäubender, dumpfer Knall hereinplatzte. Ein gegnerisches Geschoss war in den Turm eingedrungen, der Panzer fing an, stark zu rauchen. Wie durch ein Wunder überlebten sowohl Thoma als auch die Besatzung. Sie sprangen sofort aus dem Gefährt und versuchten zu Fuß zu fliehen, bis irgendein deutsches Fahrzeug sie aufsammeln [8]konnte. Doch der General spürte einen gewaltigen ziehenden Schmerz in seinem rechten Oberschenkel; er hatte sich eine Prellung zugezogen und konnte nicht mehr richtig laufen. Noch ganz benommen, rief er der restlichen Besatzung zu: »Gehts weiter hinter und sagts, dass i hier vorn bin!« Noch einmal kam sein Fahrer zu ihm zurück. »I komm glei!«, beruhigte Thoma ihn. Es waren ja nur 500 Meter bis zu den eigenen Panzerspitzen.
Plötzlich pfiff ihm rote Leuchtspurmunition um die Ohren. Einige Schüsse durchbohrten sogar seine Feldmütze, Thoma blieb aber unverletzt. Da sah er auch schon zwei britische Transportpanzer, sogenannte Bren Gun Carriers, auf sich zurollen, die zu den 10. Royal Hussars gehörten. Ein Captain gab den Befehl, das Feuer einzustellen, und sprang vom Fahrzeug herunter. Er erkannte sofort, dass er einen großen Coup gelandet und einen deutschen General gefangen genommen hatte. Der Captain konnte zunächst freilich nicht wissen, dass es sich zudem um einen besonderen General handelte. Erst seit zwei Monaten war Thoma Kommandierender General des Deutschen Afrikakorps und galt in der Wehrmacht als ausgewiesener Panzerexperte. In beiden Weltkriegen hatte er sich den Ruf eines passionierten, mutigen Soldaten erworben. Seit er 1916 den höchsten bayerischen Orden, den Militär-Max-Joseph-Orden, erhalten hatte, durfte er als Wilhelm Ritter von Thoma offiziell den Adelstitel tragen. Ungeachtet dessen blieb der hochgewachsene Mann mit dem kantigen Gesicht und den abstehenden Ohren ein echter Troupier. Eine gepflegte Ausdrucksweise war nicht unbedingt Thomas Stärke – trotz seines scharfsinnigen analytischen Geistes. Er liebte vielmehr direkte Ansagen und begab sich häufig im Schlachtengetümmel in die vordersten Reihen. Dies wurde ihm am 4. November 1942 bei El Alamein zum Verhängnis.
»General, für Sie ist der Krieg gelaufen!«, grinste ihn der britische Offizier an und stellte sich als Captain Grant Singer vor. Er nahm Thoma das Fernglas ab, erbat sich aber dessen Adresse, um es später wieder zurückgeben zu können. Anschließend bestiegen die beiden den Bren Gun Carrier. Durch Staub und Minengassen brachte der Captain seinen Gefangenen zunächst zu General Herbert Lumsden, dem Kommandierenden General des britischen X. Korps. Lumsden aß gerade eine Apfelsine und teilte sie spontan mit Thoma. »Überall einwandfreie Behandlung«, sollte der deutsche General später in seinem Tagebuch festhalten.
[9]Kurz darauf brachte Captain Singer Thoma auf den Gefechtsstand von General Bernard »Monty« Montgomery, dem Oberbefehlshaber der 8. Armee. Ein britisches Kamerateam stand schon bereit, um diesen Moment für die Nachrichten in der Heimat festzuhalten. Ein großer militärischer Sieg und ein gefangener deutscher General in der nordafrikanischen Wüste: Das war sicher eine triumphale Meldung! Verstaubt und verdreckt schritt Thoma auf Montgomery zu und legte zum militärischen Gruß die rechte Hand an die Schläfe. Montgomery reichte Thoma die Hand und bat seinen Gefangenen, mit ihm zu dinieren. Vorher erhielt der Deutsche noch die Gelegenheit, sich zu rasieren und zu waschen. Nachdem Thoma sich in Montgomerys Gästebuch eingetragen hatte, nahmen sie gemeinsam den Aperitif und verzehrten anschließend zum Abendessen Suppe, Fleisch, Käse und Obst. Thoma, Montgomery und dessen Stab tauschten offen ihre Gedanken über die letzten Schlachten aus, meist unterstützt durch einen Dolmetscher. »Furchtbar interessant« fand Montgomery das angeregte Gespräch und urteilte über Thoma, dieser sei ein »guter Soldat und sehr anständiger Kerl«.
El Alamein: Von den 104 000 deutschen und italienischen Soldaten der Schlacht gerieten etwa 35 000 in britische Gefangenschaft, etwa drei Viertel davon waren Italiener (Bild).
[10]Als am nächsten Morgen die deutsche Luftwaffe einen – laut Thoma – »lächerlichen schwachen Bombenangriff« gegen Montgomerys Gefechtsstand flog, bemerkte Letzterer mit typisch britischer Ironie, Thoma sei hoffentlich nicht zu sehr durch den Bombenlärm gestört worden. Anschließend verabschiedete sich Montgomery allerdings, schließlich müsse er zur Arbeit und den geschlagenen Feind verfolgen. Thoma hingegen wurde als Kriegsgefangener zunächst nach Kairo und anschließend in das Offiziersgefangenenlager Trent Park in England gebracht, in dem er bis zum Kriegsende bleiben sollte.
Thoma war sich sehr wohl bewusst, dass er nicht in einer gewöhnlichen Schlacht gefangen genommen worden war. »Das war die größte Panzerschlacht, die ich erlebt habe«, betonte er in Gefangenschaft. In der Tat war El Alamein eine Materialschlacht par excellence. Gewiss, die Wehrmacht hatte sich sehr früh in diesem Krieg daran gewöhnt, häufig in Unterzahl zu kämpfen – gerade in Nordafrika. Doch noch nie hatte sie einem materiell so hochgerüsteten Gegner in einer Schlacht gegenübergestanden, einem Gegner, der noch dazu die Initiative nun fest in der Hand hielt. All das machte auf Thoma einen starken Eindruck, und er fühlte sich in seinem Urteil über die deutsche Regierung sowie die bisherige Kriegführung bestätigt. Der General hatte bereits in den Jahren zuvor den Nationalsozialismus kritisch gesehen, doch in Kriegsgefangenschaft wurde er zu einem der schärfsten Kritiker Adolf Hitlers und dessen Regimes. In einem von den Briten abgehörten Gespräch meinte er zu Offizierskameraden im Januar 1943:
Die Staatsphilosophie der Achsenmächte basiert auf einer prinzipiellen Verachtung des einzelnen Menschen, der Freiheit und aufrechter Gesinnungsbekundung. Wenn wir je uns diese Philosophie zu Eigen machten, würde unser Sieg zu einer Niederlage für die ganze Menschheit werden. […] Ich kann nicht prophezeien, wann der Krieg beendet sein wird, aber eines kann ich sagen: Das Jahr 1943 wird uns ein tüchtiges Stück weiterbringen auf dem Weg nach Berlin, Rom und Tokio.
Ein derartig hohes Niveau an kritischer Selbstreflexion war in der Wehrmachtgeneralität selbst in der Gefangenschaft nicht häufig anzutreffen. Thoma hingegen merkte, dass er bei einer entscheidenden [11]Schlacht auf dem Weg in den Niedergang in Gefangenschaft geraten war.
Die Umstände von Thomas Gefangennahme und sein Empfang bei Montgomery verdeutlichen noch eine andere Facette dieser Schlacht, ja sogar des gesamten Kriegs in Nordafrika: Der alte militärische [12]Ehrenkodex, der den Umgang zwischen den Kriegsgegnern prägte, schien in der nordafrikanischen Wüste noch intakt zu sein. Die dortige Auseinandersetzung war kein rassenideologischer, fanatisierter und hasserfüllter Krieg wie an der Ostfront. »Ein großzügiger Sieger«, urteilte daher das britische Fernsehen über Montgomerys Treffen mit dem deutschen General. Dieses Bild des...