2 Himmelsbeschreibungen und Höllenphantasien – Das Orgelwerk
Regers gesamtes Orgelwerk, insgesamt über 18 Stunden Musik, füllt 16 CDs und ist in seiner Rezeption das bedeutendste Genre in seinem Œuvre. Trotzdem wäre es verfehlt, ihn primär als einen Komponisten von konzertanter oder sakraler Orgelmusik zu sehen. Dass er heute vor allem als Komponist bedeutender Orgelmusik bekannt ist, beruht zum einen auf seiner frühen Prägung an der Orgel in der Weidener Simultankirche, wo er nicht nur die vorwiegend funktionale liturgische Musik seiner eigenen katholischen Konfession, sondern auch den protestantischen Choral und die aus anderem Glaubensverständnis gewachsene virtuose Orgeltradition kennenlernte. So wurde es sein lebenslanges Anliegen, die Orgel als überkonfessionelles Konzertinstrument und weit über den liturgischen Gebrauch hinaus kompositorisch zu bestücken.
Hinzu kommt der glückliche Zufall, dass Reger, nachdem er als zunächst Gescheiterter von Wiesbaden ins Weidener Elternhaus zurückgekehrt war und dort kaum Aufführungsmöglichkeiten hatte, in der aufkeimenden Freundschaft mit dem gleichaltrigen Organisten Straube einen Interpreten fand, für den und dessen Instrument er nun immer neue Werke schrieb. In seinem Einfluss auf Reger kann der lebenslange Arbeitsfreund gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Nach der Initialzündung mit der Orgelsuite op. 16 im März 1897 war Straube der erste Interpret von Format, der Regers Werk bekanntmachen konnte. Daher entstanden bis 1901 vornehmlich mit Blick auf Straube nicht nur 15 von insgesamt 35 in Weiden komponierten Werken, sondern auch in den Münchner Jahren die meisten der großformatigen Orgelwerke wie die Choralphantasien, Phantasie und Fuge c-Moll op. 29, Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46 sowie die »Inferno«-Phantasie und Fuge op. 57. Regers bekannter Kalauer ist eine Hommage an den Freund als unverzichtbaren Interpreten: »Die Orgel hör ich wohl, allein mir fehlt der Straube!«
Regers erstes großes Orgelwerk, das, 1897 von Straube uraufgeführt, den Beginn dieser lebenslangen Beziehung markiert, ist die viersätzige Suite op. 16 mit dem seltsamen Titel »Den Manen Joh. Seb. Bachs«. Dass Reger neben einer Hommage an den Thomaskantor und einer Wiederaufnahme von dessen Stilprinzipien auch einen kollegialen »Dialog«, gar einen musikalischen »Wettstreit« über eineinhalb Jahrhunderte hinweg im Sinn hatte, zeigt seine Bemerkung zur ausladenden abschließenden Passacaglia, über die er seinem Lehrer Riemann schrieb: »Bach hat in seiner das Thema 21x variiert – ich 32x.«
Verhältnis zu Richard Strauss
Die Wertschätzung Regers gegenüber Richard Strauss (1864–1949) drückt sich in der Widmung zweier Orgelwerke aus (Phantasie und Fuge c-Moll op. 29 [1898]; Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b [1916]). Diese Widmungen berühren jedoch seltsam, denn Strauss war musikalisch zwar äußerst vielseitig, aber eben kein Organist! Die Dedikation eines Orchesterwerks an den Komponistenkollegen und berühmten Dirigenten wäre auch für die Verbreitung von Regers Werk strategisch sinnvoller erschienen.
Aus dem Jahr 1902 stammt eine briefliche Äußerung Regers, die Strauss als Speerspitze der musikalischen Entwicklung sieht: »Ich verfolge den Lisztschen Satz: ›Auf jeden Akkord kann jeder Akkord folgen‹ eben konsequent. […] Ich bin jung, sehr jung, bin extremer Fortschrittsmann und erlebe die Zeit schon noch […] Vor 100 Jahren hatten wir die allerersten Werke von Beethoven und heutzutage das Heldenleben von Strauß! Das ist fürwahr eine Entwicklungsgeschichte des menschlichen Ohres, die grandios ist!«
Nachdem sich über gemeinsame Auftritte hinaus kein engeres persönliches Verhältnis entwickelt und Reger sich durchaus relativierend über Strauss’ Erfolge geäußert hatte, zeigte er sich im Dezember 1914 besonders glücklich über seine Anerkennung: »Vor zwei Tagen erhielt ich einen Brief von ihm, wo er mir schreibt betreff eines Falles: ›Ich habe keine so leichte Hand und keine so zuverlässige, gehorchende Kompositionstechnik wie Sie, der mir mit seiner unversiegbaren Fruchtbarkeit immer Staunen und Bewunderung abringt.‹«
»Keine Note zuviel«
»Meine Orgelsachen sind schwer, es gehört ein über die Technik souverän herrschender, geistvoller Spieler dazu. Man macht mir oft den Vorwurf, dass ich absichtlich so schwer schreibe; gegen diesen Vorwurf habe ich nur eine Antwort, dass keine Note zuviel darin steht.« Diese Äußerung erinnert an die selbstbewusste Entgegnung Mozarts auf den Vorwurf seines Kaisers Joseph II., Die Entführung aus dem Serail enthalte »gewaltig viele Noten«. Ähnlich unbeirrt gibt sich Reger, zumal er sich seines Musterinterpreten Straube sicher sein kann.
Erstaunlicherweise trägt eine seiner meistgespielten Orgelkompositionen, die Introduktion und Passacaglia d-Moll (1899 als erstmalige Verbindung dieser später bei Reger so erfolgreichen Satzpaarung entstanden), keine Opuszahl, da die Komposition für ein Sammelalbum von Orgelmusik geschrieben und zunächst nicht als Einzelveröffentlichung vorgesehen war.
Über seine Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46 (1900) meinte er gegenüber dem Regensburger Organisten Joseph Renner, dass er »an die äußerste Grenze der harmonischen und technischen Möglichkeit« gegangen sei. Diese Hommage an den Übervater Bach gründete nicht nur in dessen Vorbildfunktion für den Organisten Reger; Bach war zudem Leitstern für den Komponisten aufgrund seiner polyphonen Satzkünste, also einer komplexen Verwebung von einzeln geführten Vokal- oder Instrumentalstimmen.
Das von Bach selbst mehrfach benutzte b-a-c-h-Motiv ist durch seine Chromatik mit vier nebeneinanderliegenden Halbtönen eine ergiebige Keimzelle harmonischer und melodischer Durchformung und quasi improvisatorischer Entfaltung. Eine weitere Hommage an Bach ist der Rückgriff auf die Fugenform als Höhepunkt polyphoner Mehrstimmigkeit; die aus einer sich vervielfältigenden Stimme erwachsende Fuge lässt Reger ebenfalls aus dem b-a-c-h-Motiv entstehen und verleiht ihr eine ungeheure Sogkraft durch die kontinuierliche Steigerung von Dynamik und Tempo.
Im Jahr darauf komponierte er seine Symphonische Phantasie und Fuge op. 57, deren Zerrissenheit ihr heimliches Programm spiegelt, zu dem er nach eigenem Bekunden von Dantes Inferno angeregt wurde. Der Hörer jedenfalls wird wie durch ein Höllentor gespült, indem ihn eine aus dem dreifachen Forte brüllend ansteigende, harmonisch und rhythmisch kaum fixierbare Klangwelle überrollt. »Straube schimpft, dass op. 57 so unmenschlich schwer sei. Ich wette, in 4 Wochen kann er’s tadellos!«, meinte Reger über sein wagemutigstes Orgelwerk.
Das Adjektiv »symphonisch« emanzipiert die Komposition vom sakralen Rahmen und verleiht ihr über den weltlichen, konzertanten Charakter hinaus einen vom Instrument losgelösten musikalischen Anspruch. Darüber hinaus ist die Bezeichnung auch eine orgelstilistische Standortbestimmung, mit der Reger für die Ausführung seines op. 57 eine entsprechend ausgerüstete, aus der Tradition der deutschen Orgelromantik stammende »Symphonische Orgel« verlangt, die extreme Klangmöglichkeiten wie schnellstes Crescendo mittels einer per Fuß bedienten Walze oder eines handbetriebenen Schwellers ermöglicht und so die rasch an- und abflutenden Klangwirkungen eines symphonisch besetzten Orchesters nachahmt. Adalbert Lindner schreibt in Bezug auf op. 57 über die »drei Grundelemente« von Regers musikalischer Charakteristik: »Das Trotzig-Titanisch-Dämonische, das Humoristisch-Burleske und das Innige, das sind die drei Grundtöne, der wahre reine Akkord von Regers Wesen und Musikalität.«
Sonaten und Choralphantasien
Trotz ihrer Apostrophierung als Sonate lässt sich die in der Wiener Klassik kanonisierte Sonatenform auf die Orgelsonaten nicht übertragen; Reger sah sie eher als geschlossene Suite, die freie Satzformen motivisch und gestaltlich verklammert. Die Erste Sonate op. 33 (1899) besteht aus den drei Sätzen Phantasie – Intermezzo – Passacaglia. Die Zweite Sonate mit den Sätzen Improvisation – Invocation – Introduktion und Fuge ist bereits im Folgejahr komponiert; dass sie als op. 60 aber fast 30 Werknummern später eingeordnet ist, zeigt den geradezu fließbandartigen Ausstoß neuer Werke in den unglaublich fruchtbaren Weidener Jahren.
Regers sieben große Choralphantasien, die in Weiden innerhalb von zwei Jahren zwischen Herbst 1898 und Herbst 1900 entstanden, sind die idiomatische Anverwandlung und Ausgestaltung einer von Straubes Lehrer Heinrich Reimann entwickelten Gattung. Sie vereinen formale und textliche Gebundenheit mit der Lizenz zur ausladenden Selbstverwirklichung, die exemplarisch an zwei Beispielen betrachtet werden soll.
In op. 27 (Ein’ feste Burg ist unser Gott) folgt auf jede gebundene Choralzeile, deren Text den Noten unterlegt ist, eine ausladende Phantasie mit klangmalerischer Ausgestaltung der Choralworte, die von meditativer Innerlichkeit bis zur jubelnden Glaubensbestätigung reicht. Regers Bestreben ist es, die historische Form der von Bach geprägten Choralphantasie mit den Errungenschaften seiner eigenen Epoche, der von Liszt und Strauss entwickelten Form, zu verschmelzen: Nicht weniger als die Erweiterung der Choralphantasie »zur symphonischen Dichtung« ist sein Ziel.
Wesentlich freier ist in op. 40,1 der Umgang mit dem Choral Wie schön leucht’t uns der Morgenstern. In einer ausgedehnten Einleitung, die als bedrückendes Nachtstück wohl auch von Regers nächtlichen Alpträumen...