Einführung
Wissenschaftliche Theorien sind nur Vorschläge, wie man die Dinge betrachten könnte.
(Jung, GW 4, § 241)
Das Buch soll einen Einblick und Überblick über Theorie und Praxis der Analytischen Psychologie und Psychotherapie nach C. G. Jung geben (im Folgenden abgekürzt: AP). Dabei ist uns aus den folgenden Gründen besonders wichtig, neben dem analytischen Aspekt immer auch den integrativen Charakter der AP hervorzuheben:
• Die alleinige Verwendung der Bezeichnung »analytisch« wird wesentlichen Aspekten der Analytischen Psychologie u. E. nicht wirklich gerecht. Die aus der AP abgeleiteten Methoden sind nicht nur als »analytisch« im Sinne eines Ursachen und Zusammenhänge aufhellenden und bewusstmachenden Prozesses zu verstehen, sondern sie haben immer auch eine »synthetische« und »integrative« Funktion. Im Sinne eines dynamischen Zusammenfügens, Verbindens, Vereinigens und Versöhnens von polaren Aspekten der Psyche und deren Bewusstmachung sollen sie die Persönlichkeit, die SELBST-Erfahrung wie auch die konkreten Lebens- und Verhaltensspielräume des Menschen erweitern helfen. (Wie in Kapitel 2 erläutert, schreiben wir den Begriff des SELBST in diesem Buch mit großen Buchstaben.) Diese ganzheitliche, integrierende, schöpferische, ressourcen- und sinnorientierte Konzeption wird durch den Begriff des »Analytischen« nicht ausreichend gefasst. Aus diesem Grund bevorzugen wir auch die umfassendere Bezeichnung Therapeut oder Therapeutin und nicht Analytiker oder Analytikerin.
• Die Analytische Psychologie ist ihrem Ansatz nach schon immer eine integrative Psychologie und Psychotherapie gewesen. Dies zeigt sich praktisch in allen ihren Grundvorstellungen, z. B im Prinzip der Einheit und Ganzheit des Menschen, in der schöpferischen Spannung und Dynamik zwischen den unterschiedlichsten Polaritäten im Menschen, in der gegensatzverbindenden, transzendenten Funktion, in der umfassenden Bedeutung der allgemein-menschlichen, kulturübergreifenden archetypischen Dimensionen menschlichen Erlebens und Verhaltens, in der Hypothese des SELBST und dessen Verwirklichung im Individuationsprozess usw.
• C. G. Jung hat für seinen Ansatz verschiedene Kennzeichnungen versucht, um ihn von der klassischen Psychoanalyse zu unterscheiden. Er sprach von einem »synthetischen« (im Sinne von Synthese), einem final-konstruktiven, auf einen Sinn und Ziel hin ausgerichteten Vorgehen. Auch verwendete er eine Zeit lang den Begriff der »Komplexen Psychologie«, um eben auf den komplexen, vieldimensionalen und polar-paradoxen Charakter der psychischen Vorgänge hinzuweisen. Was letztlich den Ausschlag dafür gegeben haben mag, dass er sie dann »Analytische Psychologie« nannte oder nennen ließ, ist schwer zu beurteilen. Wahrscheinlich spielen die von der Wortwahl her gezeigte Nähe einerseits und Entgegensetzung zur Psychoanalyse eine Rolle.
• Ein weiterer Grund für die besondere Betonung des Integrativen liegt darin, dass wir es als für dringend notwendig erachten, dass die traditionellen psychodynamischen Schulrichtungen aus der Enge und Bindung an ihre Begründer heraustreten und auch eine aktive Auseinandersetzung mit der akademisch weitaus besser etablierten Kognitiven Verhaltenstherapie suchen. Die Letztere hat aufgrund der Vielzahl ihrer Ansätze, Methoden und Forscher problemlos mehrere »Wenden« vollzogen, sich inzwischen von der dritten »Welle« weitertragen lassen und dabei fast alles integriert und systematisiert, was therapeutisch nutzbar ist. Sie hat sich dabei selbst in solche Bereiche wie Achtsamkeit, Weisheit, Imagination, Emotionen und Unbewusstes hineingewagt, die sie vorher entschieden und als unwissenschaftlich bekämpft hat. Über Kurz oder Lang wird sie auch die sonstigen Domänen der Tiefenpsychologie, wie z. B. die biografische Konfliktanalyse, das Beachten von Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen, das schöpferische Spielen und Gestalten, die Arbeit mit Träumen, freien Fantasien, Symbolen, Märchen und Mythen usw. integrieren bzw. neu erfinden oder neu formulieren, ohne ihre Herkunft aus den psychodynamischen Richtungen zu benennen. Eine sinnvolle Gegenreaktion von Seiten der AP erscheint uns, bei dem ohnehin schon seit 100 Jahren vorliegenden integrativen Ganzheitskonzept unserseits selbst Elemente der Kognitive Verhaltenstherapie zu integrieren.
Die AP, wie wir sie in diesem Buch zu beschreiben versuchen, teilt mit den anderen psychodynamischen und psychoanalytischen Richtungen der Psychotherapie grundlegende Einsichten – insbesondere die über die Bedeutung unbewusster Prozesse für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung von psychischen Erkrankungen – erweitert diese zugleich zu einem umfassenderen Ansatz, indem sie von einem möglichst umfassenden Menschenbild und Krankheitsverständnis und einem auf die individuelle Persönlichkeit und Situation des Einzelnen zugeschnittenen Behandlungskonzept ausgeht. Die auf das SELBST und sein schöpferisches Potenzial hin orientierte Einstellung, die Förderung der Entwicklung der Persönlichkeit (Individuation), die Beachtung und Bedeutung der Sinnfindung und des religiösen Bezuges des Menschen für seine seelische Gesundheit bilden dabei spezielle Schwerpunkte.
C. G. Jung gehört neben S. Freud und A. Adler zu den bedeutendsten und bekanntesten Pionieren der Psychologie. In der Öffentlichkeit verbindet man seinen Namen am ehesten mit den Begriffen der »Archetypen« und des »kollektiven Unbewussten«, vielleicht auch noch mit denen des Schattens, von Animus und Anima und den Persönlichkeitseinstellungen »Introversion« und »Extraversion.« Über die anderen, weit über die traditionellen Vorstellungen der Psychoanalyse, der Gesprächspsychotherapie, der Verhaltenstherapie wie der Systemischen Therapie hinausgehenden Auffassungen ist allgemein wenig bekannt.
Um diese dem Leser nahezubringen, haben wir dem Praxisteil ein Kapitel über die Essentials der Analytischen Psychologie vorangestellt. Nur vor diesem Hintergrund kann auch die Bedeutung des Unbewussten, der dialektischen Beziehung und der kreativen Gestaltungsprozesse, die in der Praxis der AP eine bedeutende Rolle spielen, verstanden werden. Fantasie und kreative Gestaltungen sind nach Auffassung der AP ein wesentlicher Zugang zu den Ressourcen eines Menschen.
Entsprechend des »Primats der Psyche«, das wir als erstes skizzieren und der damit verbundenen Relativität aller Theorien und Glaubenssysteme, verstehen wir alle Aussagen dieses Buch als prinzipiell offene Hypothesen. An einigen Stellen heben wir besonders relevante Annahmen hervor, immer aber sie sind als vorläufige Annahmen gemeint, die wir gerne durch bessere ersetzen, wenn sie uns bekannt werden. Unserer Auffassung nach ist die im besten Sinne verstandene wissenschaftliche Grundhaltung eine große Errungenschaft des menschlichen Geistes, die noch einmal mehr gerade durch die Einsicht in das Primat der Psyche eine besondere Bedeutung erhält.
Ganz bewusst haben wir im Buch viele Zitate von C. G. Jung selbst aufgenommen. Dies zum einen, weil wir die Zitate gut und treffend finden und es fair und redlich finden, die Ursprünge unserer Gedanken und Ausführungen auch zu nennen. Zugleich wollen wir dem Leser damit auch deutlich machen, dass Jung über die bereits genannten, allgemein bekannten Begrifflichkeiten hinaus weitere zukunftsweisende, wenn nicht gar revolutionäre Auffassungen vertreten hat, so z. B. hinsichtlich der Selbstregulation, der Komplexität, der Realität (Virtualität) der Psyche und der Intersubjektivität des therapeutischen Prozesses.
Viele dieser Konzepte finden sich bei Jung allerdings nicht so systematisch dargestellt, wie wir es in diesem Buch versuchen, sondern eher verstreut und in nicht ganz offensichtlichen Zusammenhängen, so dass sie erst, wenn man das Gesamtwerk kennt, in ihrer ganzen Tragweite erkannt und gewürdigt werden können.
Gleichzeitig sind wir aber auch der Auffassung, dass Begrifflichkeiten und Hypothesen der Analytischen Psychologie fortwährend an den jeweils aktuellen Wissensstand angepasst, erweitert, modifiziert oder auch fallengelassen werden müssen, wenn sie ihren Beitrag in Psychologie und Psychotherapie weiterhin konstruktiv leisten will. Diese eigentlich selbstverständliche wissenschaftliche Grundhaltung finden wir auch schon bei Jung selbst, der ab den 1930er Jahren in der Schweiz mit vielen Forschern anderer Wissenschaftsdisziplinen zu den einjährlich abgehaltenen interdisziplinären Eranos-Tagungen zusammentraf.
Als zweitem Essential wenden wir uns dann dem Begriff des SELBST und einem seiner vielen Symbole zu: dem Mandala. Es ist sicher ungewöhnlich, dass ein Symbol für eine eher theoretische und wissenschaftliche Erörterung grundlegender Prinzipien verwendet wird, trifft aber ziemlich genau ein zentrales Anliegen der AP. Ein Symbol wie...