Verbindlichkeit
Als ich Marek zum ersten Mal sah, machte er einen freundlichen und aufgeweckten Eindruck, fast schon zu brav für einen Jungen in seinem Alter. Er war siebzehn Jahre alt und sollte eine außerbetriebliche Berufsausbildung machen. Dazu musste ein Ausbildungsvertrag zwischen ihm und dem Bildungsträger, für den ich zu dieser Zeit arbeitete, geschlossen werden und ein Kooperationsbetrieb gefunden werden, der ihm das praktische Arbeiten ermöglichte. Zuvor sollte Marek eine Berufsorientierung durchlaufen und sich über Praktika auf die bevorstehende Ausbildung vorbereiten. Da er von der Berufsberatung der Arbeitsagentur als sozial benachteiligt eingestuft wurde, was einerseits mit seiner Herkunft als Aussiedler, andererseits mit seinem fehlenden Schulabschluss begründet wurde, meldete der zuständige Berater ihn schließlich zu einem Vorstellungstermin bei mir an. Mareks Mutter nahm ebenfalls an dem Erstgespräch teil und wir wurden uns schnell einig über eine Aufnahme in unsere Berufsorientierungsmaßnahme. Hier würde er zunächst seinen Schulabschluss nachholen können, um dann mit der Berufsausbildung zu beginnen. Er kam schnell mit den anderen Jugendlichen seiner Gruppe, die aus etwa zwanzig Teilnehmern bestand, in Kontakt und arbeitete einige Wochen lang fleißig und engagiert.
Eines Tages stand er in meiner Bürotür, die wie meistens offen stand, schaute vor meinem Schreibtisch auf den Boden und sagte: „Herr Simon, ich habe Probleme.“ Ich deutete mit dem Kopf auf die Sesselgruppe in der Ecke meines Büros und erwiderte: „Setz dich!“
Er nahm in einem Sessel Platz, rutschte dabei ganz nach vorne auf die Kante und beugte den Oberkörper vor, als wolle er sich zusammenrollen und begann zu wippen, wie es bei schwerem Hospitalismus zu beobachten ist. Dabei starrte er auf den Boden vor sich und schien völlig in sich gekehrt, abgeschottet gegen die Außenwelt. Noch während ich die Tür schloss, sagte er leise und schnell: „Ich habe Angst.“ Ich setzte mich zu ihm und innerhalb weniger Sekunden wurde er deutlich kurzatmig und bewegte den Kopf unruhig hin und her. Mit den Händen griff Marek nach den Lehnen des Sessels und schien immer wieder daran abzurutschen. Seine weiten Jeans und seine weiße Windjacke mit dem übergroßen Basketballlogo, die ihm normalerweise ein sportliches Auftreten garantierten, hingen wie nasse Segel an ihm herab. Ich bemerkte, dass seine Hautfarbe heute viel blasser war als sonst und irgendwie wirkte dieser hoch gewachsene junge Mann viel kleiner, als ich ihn üblicherweise wahrnahm. Marek wiederholte noch einmal: „Ich habe Angst“ und schaute mich kurz und flüchtig dabei an.
„Wie lange hält es schon an?“, fragte ich, denn es war offensichtlich, dass er sich nicht vor einem Jugendlichen aus seiner Gruppe oder vor der Anfeindung eines anderen Menschen fürchtete. Vor mir saß ein junger Mann, der gerade eine Panikattacke erlebte und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er das nur zu gut kannte.
„Keine Ahnung, vielleicht zehn Minuten, ich weiß es nicht.“ Er schien kaum noch ein- und auszuatmen, obwohl er angab, ein Gefühl des Erstickens zu erleben. Ich hatte damit gerechnet, dass er nun nach Luft ringen würde, was aber nicht der Fall war. Er sagte weiter, er befürchte, sein Herz bliebe stehen und er müsse sterben. Da ich zu jener Zeit keine Erfahrung im Umgang mit Angststörungen in diesem Ausmaß hatte, konnte ich nicht abschätzen, wie die Situation sich entwickeln würde. Mein Wissen hierzu stammte aus Lehrbüchern, sodass ich nicht wusste, ob das Hinzuziehen eines Arztes die richtige Entscheidung gewesen wäre oder bis zu seinem Eintreffen der ganze Spuk bereits vorbei sein würde. Ich teilte ihm also meine Sorge mit und fragte ihn, ob er wisse, wie ich ihm helfen könne. Meine Vermutung hinsichtlich seiner Erfahrung mit diesem Zustand bestätigte sich unmittelbar, indem er mir sagte, er wolle einfach im Sessel sitzen bleiben und warten. Gleichzeitig bat er mich darum, die Tür meines Büros wieder zu öffnen. Ich tat wie er es wünschte und setzte mich wieder zu ihm. Sein Zustand schien sich nicht weiter zu verschlimmern und so warteten wir beide ab, bis es besser wurde. Dabei begann er bereits zu erzählen, wie sich seine Panik anfühlte und welche Erfahrungen er bisher damit gemacht hatte.
Nach wenigen Minuten beruhigte sich Marek und die Angst legte sich. Er blieb noch etwa eine viertel Stunde im Sessel sitzen und ging dann wieder zurück zu seiner Gruppe.
Am darauf folgenden Tag forderte ich ihn zu einem weiteren Gespräch in meinem Büro auf, um zu verstehen, was zuvor geschehen war und was das für unsere weitere Arbeit miteinander bedeuten würde. Bereitwillig berichtete Marek von häufigen Gefühlen der Beklemmung und der Angst, die er vor allem im Gruppenraum bei Anwesenheit der anderen empfand. Sie kam immer plötzlich und veranlasste ihn zum Fliehen aus dem Raum, weil er befürchtete, sonst in Ohnmacht zu fallen, was er unbedingt vor seinen Kameraden vermeiden wollte. Im Verlauf unserer Unterhaltung wurde deutlich, dass hier auch der Grund für sein bisheriges Schulversagen lag. Die umfangreichen Fehlzeiten, die an allen Schulen, die er zuvor besucht hatte, zum Ausschluss geführt hatten, waren weder auf fehlende Reife noch auf den von seiner Mutter im Erstgespräch erwähnten früheren Drogenkonsum zurückzuführen. Alle drei Aspekte waren Ausdrucksformen oder Kompensationsversuche seiner Angst. Da er noch mit niemandem über diese Ängste gesprochen hatte, blieben sie unerkannt und wurden in keiner Form bearbeitet, außer auf seine eigene Art und Weise des Vermeidens, Fliehens und Betäubens.
Marek wusste, dass er sein Problem nicht erneut aufschieben konnte und zeigte sich bereit, daran zu arbeiten. Ich schickte ihn also zu einem Facharzt für Psychiatrie und begann selbst Bücher zu lesen und mit Fachkundigen zu telefonieren. Schließlich begab ich mich selbst zu einer nahe gelegenen psychiatrischen Klinik, um mich über Angsterkrankungen, deren Auswirkungen und über Therapiemöglichkeiten zu informieren. Eine freundliche Ärztin beantwortete meine Fragen und zeigte mir die Räumlichkeiten für eine ambulante Therapiegruppe von Angsterkrankten, die sich wöchentlich mit ihr trafen. Wir vereinbarten zunächst die Diagnose des Facharztes abzuwarten, bevor eine Einschätzung über Sinn und Zweckmäßigkeit und gegebenenfalls Dauer einer ambulanten Therapie getroffen werden sollte.
Die Diagnose lautete „Agoraphobie mit Panikattacken“, eine Kombination zweier Störungsbilder, die, wie ich heute weiß, bei Angsterkrankten recht häufig vorkommt. Die Agoraphobie, die auch Platzangst genannt wird, tritt plötzlich auf weiten offenen Plätzen, aber auch in Menschenmengen auf. Betroffene befürchten, es könnte etwas Peinliches passieren, z. B. das Urinieren in die Kleidung, ein Würge- oder Brechanfall oder wie bei Marek eine Ohnmacht. Für den Fall eines solchen Ereignisses wäre rechtzeitige Flucht aus der Situation notwendig, um sich anderen gegenüber keine Blöße zu geben und sich nicht schämen zu müssen. Eine solche spontane Flucht ist aus einem Klassenraum, einer Gruppe, einem voll besetzten Bus oder inmitten eines Marktplatzes nicht möglich. Die Angst breitet sich bei dieser Vorstellung aus und steigert sich in ein unerträgliches Maß. Im Falle des Auftretens einer solchen Angst war es Marek unmöglich, mit seiner Ausbildungsgruppe in einem Raum zu bleiben. Meist hielt die Angst etwa zehn bis fünfzehn Minuten an und ebbte dann ab und er konnte noch einmal zur Gruppe zurückkehren.
Da er grundsätzlich bereit war, an seinem Problem zu arbeiten, willigte er in eine Therapie ein, entschied sich jedoch für eine ambulante Behandlung bei einem Psychotherapeuten. Die mehrwöchige Wartezeit auf einen freien Therapieplatz nahm er dabei in Kauf, wobei ich das Gefühl hatte, dass die bevorstehende Wartezeit seiner Vermeidungsstrategie entgegenkam. Wie alle Angsterkrankten versuchte er nämlich möglichst, Angst auslösende Situationen von vorneherein zu meiden. In der Vergangenheit hatte das zu Fehlzeiten in der Schule geführt und auch bei uns wurden die Tage, an denen Marek morgens nicht in die Gruppe kam, häufiger. Gleichzeitig wurden die Intervalle zwischen den Angstschüben immer kürzer, bis er schließlich keine Stunde mehr im Kontakt mit seiner Gruppe aushalten konnte. Innerhalb weniger Wochen stand er an dem gleichen Punkt wie zu Beginn jedes Schuljahres, auch diesmal schien sich sein Schicksal zu wiederholen. Seinen Willen zu handeln und an dem Problem zu arbeiten nahm ich ernst, sah aber gleichzeitig seine Unfähigkeit, einen anderen Schritt zu gehen als den der Vermeidung. Ich nahm mir vor, noch einmal mit Marek zu sprechen. Sein Zustand würde ihn durch Fehlzeiten innerhalb kurzer Zeit zum Abbruch der Maßnahmeteilnahme zwingen. Ich hätte ihn spätestens im darauf folgenden Monat entlassen müssen. Sein Problem bliebe dabei ungelöst, seine Vermeidung würde sich auch danach wiederholen und die Angst ihn weiter begleiten.
Als ich ihn morgens vorm Unterricht auf dem Flur sah,...