Ehrbare Fassade: Kindheit im Bayerischen Wald
Nach außen hin waren wir eine ganz normale, ehrbare Familie. Vater Geschäftsmann, Imker und Bienenzüchter, politisch aktiv. Mutter eine tüchtige Geschäftsfrau und Hausfrau, treue Katholikin, der sonntägliche Kirchenbesuch eine Selbstverständlichkeit. Zwei Kinder.
Hinter der Fassade aber lagen Abgründe, normal war gar nichts. Und weil ich im Laufe meines Lebens sehr viele solcher Familienverhältnisse gesehen habe, sehr viel Fassade und Scheinheiligkeit, bin ich zutiefst misstrauisch gegenüber dem gern von konservativen Parteien propagierten Familienbild, das allzu oft nicht der Realität entspricht.
Mein Vater kam 1893 zur Welt, auf einem Bauernhof im Bayerischen Wald, in bescheidenen, aber geordneten Verhältnissen. Er hatte von Geburt an eine unheilbare Muskelschwäche, lernte erst mit drei Jahren laufen und ging zeit seines Lebens an einem Stock. In seinen letzten Jahren war er vollständig gelähmt.
Nach dem Volksschulbesuch versuchte er sich als Pferdehändler. Später, im Ersten Weltkrieg, diente er in der Kavallerie. Ab 1919 engagierte er sich politisch im Bayerischen Bauern- und Mittelstandsbund, einer liberal-konservativen Partei, die sich – für Bayern ungewöhnlich – betont antiklerikal positionierte. Sehr bald entdeckten seine Parteifreunde, dass mein Vater ein begabter und mitreißender Vortragsredner war, und nutzten dieses Talent. Schließlich, im Oktober 1928, wurde er Schriftleiter und Lokalredakteur bei der Viechtacher Zeitung.
Mein Vater war nur 1,65 Meter groß, schmal und dunkelhaarig mit einem Oberlippenbart – beileibe kein Adonis, aber trotzdem kam er bei Frauen gut an. Vielleicht, weil er witzig war und charmant und gut reden konnte? Ich erinnere mich noch gut, wie aufgeregt die Nonnen im örtlichen Krankenhaus, wo er regelmäßig wegen seiner Muskelschwäche behandelt wurde, jedes Mal waren, wenn er kam. Ich – damals noch ein kleines Kind – durfte ihn begleiten, bekam von den Nonnen Saft und manchmal ein Bonbon.
Auch bei meiner Mutter kam er gut an. Sie war ein hübsches Mädchen, der altmodische Ausdruck »drall« beschrieb sie gut. Auch sie wuchs auf einem Bauernhof auf, aber im Gegensatz zu meinem Vater in großem Elend. Ihr Vater war Alkoholiker, versoff Hab und Gut. Hunger war Alltag. Auch für ordentliche Kleidung und Schuhe reichte das Geld nicht. Sogar im Winter musste sie häufig barfuß in Holzschuhen gehen. Wie mir erzählt wurde, schlug der Vater, wenn er betrunken aus dem Wirtshaus nach Hause kam, nicht nur seine Kinder, sondern vergewaltigte auch seine Frau. Daraus entstanden fünfzehn Kinder, von denen fünf noch ganz klein starben. Die restlichen zehn, fünf Mädchen, fünf Buben, überlebten irgendwie.
Dieses Elend hielt meine Großmutter nicht aus. Sie wusste keinen Ausweg, wegzugehen war unmöglich, sie hatte keinen Beruf und kein Geld, und es gab auch niemanden, der sie hätte aufnehmen können. Und so nahm sie sich mit fünfzig Jahren das Leben: Sie erhängte sich.
Wie mein Vater auf meine Mutter aufmerksam wurde, weiß ich nicht, vermutlich durch einen sogenannten »Schmuser«. So nannte man damals Männer, die einen ehrbaren Beruf hatten, sich aber mit dem Verkuppeln Heiratswilliger etwas Geld dazuverdienten. Sie zogen von Dorf zu Dorf, schauten sich die Heiratswilligen an und vermittelten den Kontakt zu potenziellen Partnern. Jedenfalls kam mein Vater eines Tages mit seinem Motorrad in das Dorf meiner Mutter. Er war fünfzehn Jahre älter als sie und ein angesehener Mann: Lokalredakteur der Ortszeitung, das war schon was! Für meine Mutter eröffnete sich durch ihn eine völlig neue Welt; ihr muss es wie ein Lottogewinn vorgekommen sein. Um 1930 herum, genau weiß ich es nicht, heirateten die beiden. Sie bezogen eine Mietwohnung in einer kleinen Marktgemeinde mit Geschäften, einem Krankenhaus und einem Rathaus.
Das Haus, in dem sich die Mietwohnung befand, war groß und hässlich. Alle Räume waren dunkel, kaum ein Sonnenstrahl drang durch die Fenster. Und es war feucht, es roch nach Schimmel. Die Toilette war nur über einen langen, düsteren Gang zu erreichen. Die meiste Zeit hielten wir uns in der Küche auf. Das Wohnzimmer war klein, ein schmaler Schlauch. Saß ich auf dem Sofa, konnte ich zusehen, wie Mäuse an den Wänden entlanghuschten. Manchmal schlüpfte ich in meine Hausschuhe und stellte mit einem Aufschrei fest, dass Mäuse es sich sogar darin gemütlich gemacht hatten. Es reichte doch schon, dass sie im Zimmer herumrannten – dass sie auch noch meine Schuhe okkupierten, ging zu weit!
Nichts an unserer Wohnung war komfortabel, es gab nicht einmal ein Bad, wir wuschen uns in der Küche. Nur in der Waschküche stand eine alte Wanne, in der ich einmal in der Woche baden durfte. Mein Bruder und ich mussten uns ein sehr kleines Zimmer teilen.
Weltfremd? Hauptsache gehorsam …
Mein großer Bruder Heribert, das erste Kind meiner Eltern, kam 1933 zur Welt, eine schwere Geburt. Das zweite Kind, wieder ein Junge, wurde einige Jahre später tot geboren. In allen furchterregenden Einzelheiten legte meine Mutter mir später dar, wie schrecklich dieses Erlebnis gewesen sei und dass die Ärzte ihr dringend nahegelegt hatten, keine weiteren Kinder zu bekommen, da sie mit einer weiteren Schwangerschaft ihr Leben riskieren würde. Diese Warnung der Ärzte besprach sie mit ihrem Beichtvater, denn natürlich würde ihr Mann mit ihr schlafen wollen, und wirksame Verhütung gab es zu dieser Zeit nicht, ganz davon abgesehen, dass sie seitens der Kirche unerwünscht war. Der katholische Priester gab ihr in seiner Weltfremdheit – und diese nehme ich der Kirche bis heute übel – den Rat, dass sie dann eben nicht mit ihrem Mann schlafen dürfe. Nur, wie sollte das gehen? Mit meinem Vater jedenfalls ging es nicht, und so kam ich 1941 zur Welt. Ob mich meine Mutter in meinen ersten Lebensjahren mochte, weiß ich nicht. Später jedenfalls machte sie mir das Leben zur Hölle.
Mein Vater ging dafür überaus liebevoll mit mir um. Ich war seine Prinzessin, sein Augenstern. Er kümmerte sich um alles, was mich betraf, las mir vor, nahm mich mit zu seinen Bienenvölkern. Erst ein halbes Leben später sollte ich der Wahrheit über all das, was da wirklich zwischen meinem Vater und mir abgelaufen war, auf die Spur kommen. Denn seine Liebe zu mir war keine reine Vaterliebe. Aber ich hatte die Geschehnisse so tief in mir vergraben, dass jahrzehntelang nichts davon an die Oberfläche trat. Bis zu dieser späten Erkenntnis war meine Welt übersichtlich: Meine Mutter war die Böse, mein Vater der Gute.
Ein Geschäft zum Überleben
Aus alten Unterlagen, in Sütterlin verfasst (diese Schrift musste ich in der Schule noch lernen), konnte ich entnehmen, dass mein Vater den Bauern- und Mittelstandsbund 1932 verlassen hatte, um Kontakt mit der NSDAP aufzunehmen. Wie viele andere Leute glaubte er, die Nationalsozialisten könnten drängende Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit und Rezession lösen, Veränderungen herbeiführen und Wohlstand für alle bringen. Im Bayerischen Wald, in der Grenzregion zu Böhmen, war die Armut damals besonders groß, da es keine Industrie gab, die den kinderreichen Bauernfamilien eine Zukunft versprochen hätte.
Vaters anfängliche Euphorie für die neue Bewegung verflog aber rasch. Sehr schnell begriff er, wie der Hase lief und worauf das Ganze hinauslaufen sollte. Er war, wie so viele, auf die falschen Versprechungen und Parolen hereingefallen. Seine Erkenntnis behielt er aber nicht für sich. Vielmehr sollte jeder erfahren, wie Anhänger verheizt worden waren, wie sich da wieder eine Partei an die Macht katapultiert hatte und diese Macht nun missbrauchte. Da Vater seinen Mund aufmachte und seinem Missmut in populären und gut besuchten Vorträgen Ausdruck gab, wollte die NSDAP schon ein Jahr später wegen Disziplinlosigkeit und »politischer Unzuverlässigkeit« nichts mehr mit ihm zu tun haben. Parteimitglied war er nie, so weit war es gar nicht gekommen.
Mein Vater wurde ein erbitterter Nazigegner, und weil er so massiv gegen Hitler und dessen Partei wetterte – nicht nur in örtlichen Versammlungen, sondern auch in der Zeitung, für die er schrieb – , verlor er auf Druck der Kreisleitung der NSDAP seinen Job als Lokalredakteur: Man kündigte ihm, und zwar fristlos. Von einem Tag auf den anderen war er arbeitslos, ohne Einkommen, obwohl er für seine Frau und meinen Bruder Heribert (ich war damals noch nicht auf der Welt) zu sorgen hatte. Weil er seine Arbeit als Redakteur nicht mehr ausüben konnte – ihm war klar, dass ihn wegen der zügig vorangetriebenen Gleichschaltung kein anderes Presseorgan mehr einstellen würde – , kam er schließlich auf die Idee, wenigstens dem Papier treu zu bleiben. Und so eröffnete er einen kleinen Schreibwarenladen mit Briefumschlägen, Tinte, Farbbändern, Farbstiften – und mit Zeitungen.
Meine Mutter hatte mit dem, was meinen Vater umtrieb, wenig zu tun, für Politik interessierte sie sich nie. Hinter dem Ladengeschäft aber stand sie voll und ganz und entwickelte sich tatkräftig zu einer guten und tüchtigen Geschäftsfrau. Aber es machte ihr natürlich Angst, dass die NSDAP in unserer Ortschaft immer mehr Einfluss gewann und dass sie und ihre Familie Anfeindungen ausgesetzt waren. Die örtliche Gruppe der NSDAP wollte meinem Vater nämlich verbieten, das Schreibwarengeschäft zu betreiben. Nur mithilfe einflussreicher Freunde konnte er diese Schikane abwehren. Die Erlaubnis, auch mit Büchern zu handeln, wurde ihm aber wegen politischer Unzuverlässigkeit verwehrt. Mein Vater, schon seit vielen...