SPIEGEL 14/1988
„Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen“
SPIEGEL-Autor Wilhelm Bittorf über Jugendrevolution und Protestbewegung der sechziger Jahre (I)
Eine Panzerfaust reißt kurz vor drei Uhr früh ein gähnendes Loch in die Gartenmauer der Saigoner US-Botschaft. Ein Selbstmord-Kommando aus 19 jungen Rebellen taucht aus der Dunkelheit auf, erschießt die Wachtposten der US-Militärpolizei und verschanzt sich im Botschaftsgelände, als es ihm auch mit weiteren Panzerfaust-Schüssen nicht gelingt, in den schwerverbunkerten Betonbau der amerikanischen Mission, Machtzentrum Südvietnams, einzudringen. Es ist der 31. Januar 1968, zweiter Tag des vietnamesischen Neujahrsfestes „Tet“.
Einen Hubschrauber-Gegenangriff der Amerikaner vereiteln die Vietcong bis Tagesanbruch. Erst um neun Uhr früh liegen die Körper aller 19 verrenkt und tot zwischen den Blumenrabatten der Botschaft, sickert ihr Blut in den weißen Kies der Gartenwege. Aber zehntausend Meilen weit weg in Amerika bietet sich den Bürgern der mächtigsten Nation auf Erden schon zum Frühstück das bizarre Bildschirm-Spektakel, wie ihre eigenen Soldaten, von feuerspeienden Kampfhubschraubern unterstützt, das eigene US-Botschaftsterritorium stürmen müssen, um es von den Guerillas zu befreien.
Es ist nur der erste Schreck. Denn an diesem Morgen greifen Truppen der Volksbefreiungsfront, über 70 000 Mann insgesamt, simultan fast jeden wichtigen Stützpunkt der Amerikaner und fast jede Stadt in Südvietnam an. Aus dem Dschungel kommend, dringen sie völlig überraschend in 36 von 41 Provinzhauptstädten ein und setzen sich in ihnen fest. Gegen den schwachen Widerstand südvietnamesischer Regierungssoldaten erobern sie den großen Saigoner Stadtteil Cholon und - mit Verstärkung aus dem Norden - die ganze alte Kaiserstadt Hue. Sie robben sogar nahe genug an das Hauptquartier des US-Oberkommandierenden William Westmoreland heran, um dem General die Bürofensterscheiben zu zerschießen und ihn zum Rückzug in seinen Bunker zu zwingen.
„Wir beginnen 1968 in einer besseren Position, als wir sie je zuvor besaßen“, hat Robert Komer, der zivile Emissär des Pentagons in Vietnam, erst eine Woche vor der Tet-Offensive der Presse erklärt. Im zurückliegenden Jahr haben Komer und General Westmoreland mit Fleiß den Eindruck erweckt, die Rebellengefahr in Südvietnam selbst sei gewichen: US-Truppen hätten die „Congs“ aus den bevölkerten Gebieten in die Urwälder an der Grenze vertrieben. Nur von außen, von der Armee des roten Nordvietnam, würden die kleinen braunen Schützlinge Amerikas noch bedroht.
Jetzt aber stürzen sich Schwärme amerikanischer Kampfflugzeuge jaulend auf Südvietnams Städte wie auf Feindesland. Sie bombardieren die von Frauen und Kindern wimmelnden Wohnquartiere ihrer Schützlinge rücksichtsloser als je zuvor den Norden. In verzweifelten Scharen versucht die Bevölkerung ihren Beschützern zu entrinnen. Die Menschen fluten durch die verwüsteten Straßen, vorbei an feuernden Panzern der US-Armee, und schleppen ihre Verwundeten und Toten auf Rikschas und Handwagen mit sich fort.
Bilder vom Grauen des Tet, Bilder von dem Krieg, ohne den das Jahr des Aufruhrs, 1968, nicht hätte werden können, was es werden sollte: der schwarze GI, der mit blutüberströmtem Kopf vor einem alten Holzhaus kniet und blind nach seinen Kameraden sucht, ehe er zusammenbricht; das schreiende nackte Mädchen, das sich das brennende Kleid vom Leib gerissen hat; der Mann, der in einer Hand ein wenige Wochen altes Baby hält, dem die Haut in Fetzen herunterhängt.
Die Szene, wie der südvietnamesische Polizeichef Nguyen Ngoc Loan mitten in Saigon einem guerillaverdächtigen jungen Mann in Shorts und kariertem Sporthemd aus zehn Zentimeter Entfernung in den Kopf schießt, effektvoll postiert vor einer Fernsehkamera, die das Todeszucken des Getroffenen für die Abendnachrichten von NBC festhält.
Und der entsetzliche Geruch der verfaulenden Körper. Du hast ihn geschmeckt, wenn du deine Rationen gegessen hast, und es war, als ob du den Tod ißt.
Der Ledernacken-Offizier Myron Harrington hat das gesagt. Trinh Cong Son, ein einheimischer Dichter, der die Hölle von Hue überlebt, hat, dem Wahnsinn nahe, ein Gedicht gemacht:
Ich sah, ich sah, ich sah
Löcher und Gräben, gefüllt mit den
Leichen meiner Brüder und Schwestern.
Mütter, klatscht vor Freude
über den Krieg.
Schwestern, klatscht und rühmt
den Frieden.
Jeder klatsche nach Rache.
Jeder klatsche, statt zu bereuen.
Block für Block zermalmt Amerikas „firepower“ zweieinhalb Wochen lang die liebliche alte Kaiserstadt, Nationalsymbol für alle Vietnamesen. Und vor dem Schutt der vernichteten Provinzstadt Ben Tre, die in einer, so heißt es, „befriedeten Zone“ am Mekong liegt, spricht ein US-Major den zu Weltruhm prädestinierten Satz, der den Aberwitz des Vietnamkriegs auf den Punkt bringt: „Wir waren genötigt, die Stadt zu zerstören, um sie zu retten.“
Die Stoßwellen der Tet-Kämpfe umrunden den Globus. Verteidigungsminister Robert McNamara tritt zurück. Präsident Lyndon B. Johnson ist außerstande, die angeforderten Verstärkungen nach Südostasien zu schicken. Die Kriegskosten inflationieren den Dollar. Amerikas Goldschatz fließt ab.
Zwar bringt die Feuerwalze der US-Streitkräfte die Städte Südvietnams wieder unter Kontrolle - und sei es nur als Trümmerhaufen, als Leichenfeld. Doch um so heftiger erregt die Tet-Offensive den rebellischen Geist der jungen Generation überall im Westen.
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Ich war außer mir vor Wut. Am meisten empörte mich, daß ein hochentwickeltes Land mit dieser supermodernen amerikanischen Armee sich auf diese vietnamesischen Bauern stürzt - über sie herfällt wie die Konquistadoren über Südamerika oder wie die weißen Siedler über die nordamerikanischen Indianer - Michael von Engelhardt, 1968 Student in Frankfurt.
In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase - Rudi Dutschke am 17. Februar 1968 in Berlin.
Der Widerstand des vietnamesischen Volkes zeigte, daß es zu schaffen war - es war möglich, sich zu wehren. Wenn arme Bauern das konnten, warum nicht wir in Westeuropa, warum nicht die Opposition in Amerika? - Tariq Ali, ein Anführer der britischen „Solidaritätskampagne für Vietnam“.
Berlin darf nicht Saigon werden! - „Berliner Morgenpost“ am 19. Februar 1968.
Die adretten jungen Frauen auf dem Olivaer Platz am Kurfürstendamm sind trotz der schwierigen Nachkriegsjahre mit Liebe und Sorgfalt erzogen worden. Sie können studieren. Sie leben, von ihren Altersgenossen jenseits der Mauer beneidet, im „freiesten Staat, den es je auf deutschem Boden gab“, wie ihre Professoren an der Freien Universität ihnen immer wieder beteuern. Ginge es mit rechten Dingen zu, dann müßten die jungen Frauen die Freude ihrer Eltern und der Stolz ihrer Professoren sein. Aber was machen sie?
Sie sitzen rittlings auf den Schultern ihrer jungen Männer und schwenken in herausfordernder Manier befremdliche rotblaue Fahnen mit einem Fünfzack-Stern in der Mitte. Ja, sie schwenken die Rebellenfahne des Vietcong, der amerikanische Soldaten tötet, über der vieltausendköpfigen Flut ihrer Mitdemonstranten, inmitten des schwankenden Waldes von Bannern und Transparenten, von Che Guevaras und Rosa Luxemburgs.
Wie eine Woge braust ein gewaltig sich steigernder Chorus durch die Menge: „Wir sind eine kleine RADIKALE MINDERHEIT!“ An den Häuserfronten bricht sich knallend der Schrei: „Ho Ho Ho Tschi-minh!“ Mehr als 12 000 junge Demonstranten ziehen über den Kurfürstendamm, um dann in Richtung Deutsche Oper abzubiegen, wo am 2. Juni des Vorjahres der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden ist.
Viele in dem Protestzug haben einander untergehakt. Immer wieder traben die führenden Gruppen im Geschwindschritt und mit entsprechend beschleunigten Sprechchören los, die anderen hintendrein, so daß der Zug sich auseinander- und wieder zusammenzieht wie ein riesiges Akkordeon. Unbekümmert um den kalten grauen Februartag strahlen die Demonstranten für den „Sieg der vietnamesischen Revolution“ einen fröhlichen, aufgekratzten Trotz aus. „Bürger, laßt das Gaffen sein, kommt herunter, reiht euch ein!“ rufen sie an den Häuserfassaden hinauf. Aber den Berlinern kommt es vor, als sei die Tet-Offensive nun auch in die Frontstadt des freien Westens eingebrochen.
Der Marsch an diesem 18. Februar ist Teil der anschwellenden Protestbewegung in Westeuropa. Er schließt den „Internationalen Vietnam-Kongreß“ ab, den Rudi Dutschke und seine Mitstreiter vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mitorganisiert haben. Aus fast allen westeuropäischen Nationen sind Delegationen der Neuen Linken mit zum Teil mehreren hundert Mitgliedern gekommen - Franzosen, Italiener, Engländer.
Amerikanische Kriegsgegner treten auf: „Hey, hey, LBJ, how many kids did you kill today?“ Schwarze GIs intonieren auf der Schlußveranstaltung ihr Verweigerungsmotto gegen den asiatischen Krieg: „We ain't gonna go to Vietnam, 'cause Vietnam is where I am*. Hell no, we ain't gonna go!“ (*„Wir gehen nicht nach Vietnam, denn Vietnam ist, wo ich bin.“)
„Dort in Berlin habe ich zum erstenmal den Geist von '68 gefühlt“, erinnert sich der Engländer Robin Blackburn, heute Redakteur der „New Left Review“. „Ich bekam ein außergewöhnliches Gespür von einem neuen politischen Klima ... Es war...