Einleitung
Im Jahr 1889 bat der Berliner Verlagsbuchhändler Friedrich Pfeilstücker deutsche Autoren, ihm eine Liste der ihrer Meinung nach «100 besten Bücher aller Zeiten und Litteraturen» zu schicken. Die Idee hatte er von britischen Zeitungen übernommen, die ihre Abonnenten schon seit einigen Jahren regelmäßig nach deren «100 best books» fragten und kurze Zeit später auch die ersten Bestsellerlisten veröffentlichten.
Als Pfeilstücker seine erste Umfrage verschickte, stieß er allerdings auf breite Ablehnung. Durch ein «briefliches Plebiszit» eine Art Kanon der Weltliteratur oder auch nur eine Empfehlungsliste «zur Beratung des lesenden Publikums» ermitteln zu wollen, erschien den meisten Autoren als «spleenig und sportartig», berichtet der Herausgeber in seiner Vorrede: «Das Ergebnis war eine geringe Anzahl von Listen und eine überwiegende Menge von Äußerungen über den Anglizismus des Unternehmens.» Moniert wurde die «Unthunlichkeit» einer Umfrage auf einem «Gebiete, mit dem die Individualität des Urteils unzertrennlich verwachsen» sei, wie es ganz gemäß des klassisch-romantischen Literaturverständnisses vielfach hieß.
Die meisten Befragten weigerten sich zu antworten. Andere machten sich daran, die Liste gründlich zu systematisieren und in Kategorien zu unterteilen. Sie bildeten Klassen und Gruppen nach Epochen, Weltregionen, Gattungen oder Sachgebieten. Erst nach einem zweiten Versuch kamen schließlich mit 35 Einsendungen genug Antworten für die Veröffentlichung der Broschüre zusammen.
Theodor Fontane, gleichermaßen Zeitungs- wie Großbritannien-geschult, nahm die Sache mit Humor und Ernsthaftigkeit zugleich. Er sandte, mit einem Augenzwinkern, eine Liste ein, die praktisch alle Bücher und Autoren enthielt, die für seine eigene literarische Entwicklung von Bedeutung waren. Sie präsentiert eine wilde Mischung aus sogenannter klassischer Literatur und populärer Unterhaltungsliteratur, wobei er auf jegliche Klassifizierung oder einleitende Erklärungen verzichtete – ein Klassenwahlrecht auf dem Gebiet der Literatur kannte Fontane nicht.
Auf Platz eins bis vier der wichtigsten Bücher der Weltliteratur setzte er: 1. Polnische Räubergeschichten des Berliner Unterhaltungsblatts Beobachter an der Spree. 2. Die Abenteuerromane Cortez und Pizarro des Aufklärungspädagogen Joachim Heinrich Campe, der im späten 18. Jahrhundert sehr erfolgreich internationale Romane in deutschsprachige Jugendbuchfassungen seiner zwölfbändigen Kleinen Kinderbibliothek adaptiert hatte. Auf Platz 3 folgen James Fenimore Coopers Der letzte Mohikaner (1826) und weitere Titel aus dessen Lederstrumpf-Romanzyklus, mit dem der US-amerikanische Autor die Western-Literatur begründete. An vierter Stelle stehen populäre Bilderbücher zur Weltgeschichte. Erst auf den weiteren Plätzen folgen Autoren von Gottfried August Bürger und Friedrich Schiller bis William Shakespeare und Walter Scott, Charles Dickens und Émile Zola. Ab Nummer 71 hatte Fontane keine Lust mehr und brach ab.
Fontane war ein Listen-Fuchs. Über alle Phasen seines an Bankrotten, Brüchen, Seiten- und Positionswechseln wahrlich nicht armen Lebens hinweg bekam er es immer wieder mit Listen zu tun. Als Apotheker-Gehilfe musste er Vorratslisten für Medikamente anlegen und für seine Prüfungen Listen von Pflanzenarten, Heilkräutern und Rezepten auswendig lernen. Während seiner jahrzehntelangen Erwerbstätigkeit als preußischer Presse-Berichterstatter fertigte er unzählige Listen, Statistiken und Exzerpte deutscher und englischer Zeitungen und Zeitschriften an. Fontanes Listen von Interieurs adliger Landhäuser und Kirchen, die er in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg veröffentlichte, sind bis heute eine wichtige historische Quelle. Manche Provenienzen oder Bestandsverzeichnisse von Gemäldesammlungen lassen sich nur noch dank seiner Aufzeichnungen rekonstruieren. Wie wir sehen werden, sind Listen-Gedichte eine eigene Fontane’sche Form. Und Listen gehörten zum festen Inventar seines «Romanschriftsteller-Ladens», mit dem er sich im Alter von knapp sechzig Jahren selbständig machte. Für seine literarische Serienproduktion legte er fortan zahllose Listen mit Szenen, Figuren, Anekdoten und Schauplätzen an, die er je nach Markt- und Verlagsbedürfnissen kombinierte und kompilierte.
In seinem letzten Roman Der Stechlin, in dem er ein Epochenporträt des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwirft, werden kürzlich verstorbene Persönlichkeiten wie der portugiesische Volkspädagoge João de Deus, der englische Maler John Everett Millais, der Wasserkur-Erfinder Sebastian Kneipp, der preußische Gründer des Weltpostvereins Heinrich von Stephan oder die schwedische Opernsängerin Jenny Lind aufgelistet. Am Ende des Romans steht ein fiktives Album mit politischen Akteuren des Jahrhunderts von Otto von Bismarck und Heinrich von Moltke über Giuseppe Mazzini und Giuseppe Garibaldi, Karl Marx und Ferdinand Lassalle bis zu August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Solche Listen dienen der Bestandsaufnahme, Archivierung und Sammlung dessen, was eine Epoche ausmacht, und beglaubigen den Realismusanspruch des Romanautors Fontane.
Wem auffällt, dass es sich bei den Gelisteten hauptsächlich um Männer handelt, kann diesen eine Aufreihung von Fontanes Romantiteln zur Seite stellen: Von siebzehn Romanen sind sieben nach Frauen benannt (L’Adultera, Grete Minde, Cécile, Stine, Frau Jenny Treibel, Mathilde Möhring und – natürlich – Effi Briest). Auch sonst sind, wie im Fall der drei Schwestern Poggenpuhl und ihrer Mutter, meist Frauen die Hauptfiguren. Nur Graf Petöfy und Schach von Wuthenow heißen ausnahmsweise nach männlichen Protagonisten – und beide nehmen sich das Leben.
Theodor Fontane, bis heute durch seine Romane als Klassiker des bürgerlichen Realismus bekannt und mit seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg insbesondere nach der deutschen Wiedervereinigung als Reise- und Heimatschriftsteller vermarktet, wird in diesem Buch im Kontext der tiefgreifenden Verwandlung und Modernisierung der Welt im 19. Jahrhundert porträtiert. Die sämtliche Lebensbereiche betreffenden Umbrüche durch technische Erfindungen, beschleunigte Globalisierungsprozesse, neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel, Medienrevolutionen und soziale und politische Emanzipationsbewegungen hat Fontane nicht nur hautnah miterlebt, sie prägten auch unmittelbar seine literarische Praxis.
Epochale Ereignisse, Schreiben und Leben bilden bei Fontane eine untrennbare Einheit. Ohne Vormärz und Teilnahme an den Berliner Barrikadenkämpfen wäre er kein politischer Journalist geworden. Ohne die gegenrevolutionäre staatliche Pressepolitik hätte es den regierungsamtlichen Korrespondenten Fontane nicht gegeben. Ohne den Krimkrieg (1853–1856) wäre Fontane nicht als preußischer Presseagent nach London entsandt worden, wo er zugleich zum Reiseschriftsteller wurde. Ohne die Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870/71 gäbe es nicht den Zeithistoriker Fontane, der seine Kriegsbücher als wichtige Vorschule für die späteren Romane betrachtete.
Nach dem väterlichen Bankrott und dem damit verbundenen Ende der Apothekerlaufbahn im Alter von dreißig Jahren zum Berufswechsel gezwungen, arbeitete Fontane sein gesamtes Erwerbsleben bis zur Pensionierung mit siebzig als professioneller Journalist. Dies muss man bedenken, will man den Schriftsteller Fontane verstehen. Beinahe alle seine Texte sind in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen – von den ersten literarischen Versuchen des Apothekerlehrlings der späten 1830er Jahre im Berliner Figaro und Übersetzungen britischer Arbeiterdichtung in der Leipziger Literaturzeitung Die Eisenbahn im Vormärz bis zu den späten Romanen, die zuerst als Serien in den großen regionalen sowie überregionalen Zeitungen und Kulturzeitschriften des Kaiserreichs veröffentlicht wurden.
Anders als es die heutige Rezeption von Fontanes Werken als «Klassiker» im Buchformat suggeriert, handelt es sich dabei größtenteils um «offene» journalistische Arbeiten, die auf Auftraggeber, Zielgruppen und Profile der Zeitungen und Zeitschriften, auf Verleger- und Redaktionsvorgaben sowie Marktverhältnisse Rücksicht nahmen und reagierten. Welche Gattungen, Formen, Themen oder selbst Stilebenen Fontane wählte und warum, war in allen seinen Lebensphasen von den journalistischen und literarischen Feldern geprägt, in denen er sich bewegte.
Seine Balladen stehen in untrennbarer Wechselwirkung mit dem Literaturverein Tunnel über der Spree und der englischen Korrespondententätigkeit, seine Fortsetzungsromane mit dem sich wandelnden Pressemarkt der neuen Reichshauptstadt Berlin. Als Autor, der vom Schreiben leben musste, war Fontane auf Zweitverwertungen seiner journalistischen «Brotarbeiten» angewiesen oder kombinierte sie geschickt mit eigenen literarischen Projekten. So nutzte er seine Kompetenzen als Korrespondent, Redakteur und Nachrichtenagenturgründer, um für die englischen und schottischen Reiseberichte, die Wanderungen durch die Mark Brandenburg oder die umfangreichen Kriegsbücher ein weitumspannendes Informationsnetz aufzubauen. Diese haben vielfach den Charakter von Kompilationen, in denen beträchtliche Teile nur teilweise oder sogar gar nicht von ihm geschrieben wurden. Die klassisch-romantische Idealisierung des Autors als schöpferisches Genie, das aus seiner Individualität heraus sein Werk...