VORWORT
Carl Gustav Jung wurde einmal gefragt, was man noch tun könne, wenn man alt sei. Darauf antwortete er, es gebe immer etwas Neues, das vor einem liege.
Im kommenden Jahr werde ich 80 Jahre alt. Seit gut 50 Jahren arbeite ich mit Menschen, deren Leben nicht leicht war oder ist. Im vorigen Jahr kam ich auf die Idee, meine Erfahrungen in einem Buch zusammenzufassen, nicht trocken, sondern farbig, nicht (nur) theoretisch, sondern lebensnah.
Ich möchte zunächst die Zeiten meines Lebens veranschaulichen, die Einfluss auf meinen beruflichen Lebensweg genommen haben, das, was mich geprägt hat. Dazu gehören vor allem meine Studienfahrten zu Viktor Frankl nach Wien, dessen persönlicher Schüler ich sein durfte. Dann werde ich beschreiben, was ich selbst über das Werk Frankls hinaus gefunden habe. Ich nenne es die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung (WOP®). Ich verstehe sie als einen eigenständigen Entwurf, der zugleich ein logotherapeutisches Präventionskonzept darstellt. Ich hätte das, was ich Ihnen vorstellen werde, auch Schule des Lebens in Theorie und Praxis nennen können.
Für wen habe ich das Buch geschrieben?
•Für Menschen, die in ihrer Persönlichkeit weiterkommen wollen.
•Für Menschen, die sich neuen Sichtweisen des Menschen nicht verschließen.
•Für Kollegen anderer Richtungen, die ihren Horizont erweitern möchten.
•Für jene, die sich von meiner Hoffnung auf ein gutes Leben anstecken lassen möchten.
•Für die, die sich für die Erfahrungen eines alt gewordenen Psychotherapeuten interessieren.
Das Buch, das in großen Zügen meine konkrete Arbeit, die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung®, widerspiegelt, hat drei Säulen:
•die Wertimagination (WIM®),
•das wertorientiert interpretierte Enneagramm und
•das wertorientierte Gespräch.
Ich habe viele Bücher geschrieben, doch keines ist mir so wichtig geworden wie dieses – und keines ist mir zu schreiben so schwergefallen wie jenes. Warum? Weil mir vor allem die erste Säule, die Wertimagination, darzustellen nicht leicht geworden ist, denn sie handelt von der inneren Welt, die die Wissenschaft das Unbewusste nennt. Seit bereits über hundert Jahren ist vom Unbewussten die Rede, angekommen sind die mit ihm verbundenen Einsichten jedoch noch immer nicht wirklich. Man kennt das von der Physik.
Deshalb würde ich Sie, verehrte Leserinnen und Leser, am liebsten in meinen schönen Akademieraum einladen und mit Ihnen eine konkrete »Wanderung« in diese kostbare innere Landschaft machen, in jenen Bereich, den mein Lehrer Frankl das »unbewusst Geistige« genannt hat.
Gelänge mir eine Kopf und Herz treffende und berührende Darstellung der Wertimagination, kämen immer mehr Menschen mit ihr in Berührung, könnte sie im Laufe der Zeit in die unterschiedlichsten Bereiche der Wissenschaft einziehen, zum Beispiel in die Naturwissenschaft, in die Psychologie, Theologie und Friedensforschung. Ich habe für die beiden letzten Themen zwei Beispiele beschrieben.
Warum ich Sie gleich mit meiner Begeisterung über diese erste Säule überfalle? Ich erforsche sie seit Beginn der 1990er-Jahre und habe inzwischen mindestens 60 000 bis 80 000 innere »Wanderungen« erfahren (durch eigene Begleitung von Klienten, durch Gruppen und Ausbildungen). Überflüssig zu sagen, dass es Imaginationen längst vor der Wertimagination gab. Ich denke zum Beispiel an C. G. Jung und seine Schüler.1
Ich weiß, dass die zweite Säule, das Enneagramm, vielen gebildeten Lesern ein Dorn im Auge ist, bevor sie es wirklich kennengelernt haben. Ihre Abwehr resultiert aus dem Vorurteil, sie verfrachte Menschen in Schubladen. Doch nichts von dieser Abwehr wird Bestand haben, wenn man mit dieser Lehre, die ich wertorientiert interpretiert habe, vertraut geworden ist. Ich habe dieses System reichlich »abgespeckt«, verzichte auf viele Nebenwege. Woher kommt mir die Kühnheit, so vom Enneagramm zu sprechen? Weil mir zufällig (!) im Laufe der Arbeit mit Wertimaginationen aufgegangen ist, dass diese nicht immer, aber oft die »neun Gesichter der Seele« widerspiegeln.
Die dritte Säule, das wertorientierte Gespräch, bildet mit den beiden erstgenannten eine Einheit. Sie wurde von mir vor allem durch den Umgang mit Wertimagination und dem Enneagramm entwickelt.
Meine Frau hat mich dazu ermutigt, ja herausgefordert, dass ich schreibe, was ich denke. Daran habe ich mich schließlich gehalten. Denn ein neues »System« im vielfältigen psychologischen Gelände zu veröffentlichen, wird gewiss nicht nur Applaus hervorrufen. Es waren auch meine Schüler und Klienten, die mich dazu veranlassten, meine Arbeit zu veröffentlichen.
Die hellen Farben der Seele – was ist damit gemeint? Das Gute, das Schöne, das Liebenswerte in uns, das, was Viktor Frankl die spezifisch menschlichen Werte wie Freiheit, Verantwortlichkeit, Liebe, Mut, Hoffnung, Kreativität, Spiritualität genannt hat, um nur einige zu nennen. Kurzum: das, was Sinn macht, was wertvoll ist, was die Freude am Leben begründet und die Freude an uns selbst, was uns Stärke verleiht, weswegen wir leben wollen.
Gibt es denn »das alles« in uns wirklich? Leben wir nicht in einer Zeit, in der wir weltweit äußerlich das Gegenteil von dem erleben, was die hellen Farben der Seele zu versprechen scheinen? Sind nicht Gewalt, Krieg, Hunger, Hoffnungslosigkeit, Schamlosigkeit, Gleichgültigkeit, Hass, Betrug unsere Realität? Realität sind also vor allem die dunklen Farben der Seele: Angst, Niedergeschlagenheit (schauen Sie bitte in das Wort hinein!), Sinnmangel, Freudlosigkeit, Gleichgültigkeit, Lebensverneinung. Ja, die Nachtseite des Lebens gibt es, selbstverständlich! Und es ist gut, dass über diese Seite der Seele geforscht, geschrieben, berichtet, informiert, gesendet und geklagt wird! Und das muss auch so bleiben.
Doch jene andere Seite des Lebens, der Seele helle Farben, die meiner Erfahrung nach im »geistig Unbewussten« gründen, kommt viel zu kurz! In den Wissenschaften, im gesellschaftlichen Leben, im konkreten Dasein der Menschen. Aber es gibt sie! Nicht immer sichtbar, ja sogar überwiegend unsichtbar – und doch da, vorhanden, darauf wartend, gelebt, ausgelebt zu werden. Und viele sehnen sich danach, auch wenn sie es selbst nicht bemerken.
Wovon ich so »heilsbringend« rede? Nicht vom Heil spreche ich, das gibt es andernorts, vermute ich. Sondern von dem, was wir Menschen in uns tragen, in unserer Seele, in der außer dem Dunklen ebenso viel Helles ist, wenn wir es suchen, uns darauf einlassen, es nicht borniert als nicht-existent beiseitedrängen.
Aber – habe ich als Therapeut etwa nicht die Abgründe, die wir Menschen in uns haben, gesehen? Ja, und ob! Habe ich nicht bemerkt, dass viele ihre Freiheit, sich zu entwickeln, zu verändern, zu wandeln, nicht nutzen oder nicht nutzen wollen? Sicher. Bin ich niemals verzweifelt gewesen angesichts der Tatsache, dass Menschen das Kostbarste, das wir haben, die Liebe, nicht leben? Gewiss. Und woher nehme ich trotzdem den Mut, ein Buch zu schreiben, das von den hellen Farben der Seele handelt? Noch einmal: Weil es diese »Farben« gibt! Weil sie zu wenig Thema sind, weil viele seelische und körperliche Störungen abgewendet werden könnten, wenn bekannter wäre, dass wir reicher sind, als wir ahnen.
Es sind 15 Leitgedanken, die für die WOP® grundlegend sind:
1.Leben in der Welt, so wie sie ist, macht Sinn.
2.Geist ist das Besondere, das spezifisch Menschliche. Geist ist die Möglichkeit des Menschen, sein inneres und äußeres Leben zu gestalten und authentisch zu werden. Geist ist der Inbegriff für alle spezifisch menschlichen Werte.
3.Eine zentrale Bedingung, Geist zur Lebendigkeit zu verhelfen und damit Authentizität zu erfahren, ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Grundproblem.
4.Eine weitere Bedingung für ein authentisches Leben ist die Auseinandersetzung mit der inneren Welt, in der die spezifisch menschlichen Werte verwurzelt sind: zum Beispiel die Lebensbejahung, das Gefühl für Sinn, die Freiheit, die Verantwortlichkeit, der Mut, die Liebe, die Kreativität, die Spiritualität. Den Zugang zu diesen Werten öffnen Wertimaginationen.
5.Jeder Mensch ist freier, als er denkt.
6.Jeder Mensch ist reicher, als er ahnt.
7.Jeder Mensch ist sich selbst gegenüber verantwortlich und der Welt, in der er lebt.
8.Jeder Mensch trägt in seiner Seele viel »wartendes...