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E-Book

Die neurotische Nation

Die Bundesrepublik vom Wirtschaftswunder bis zur Willkommenskultur

AutorWolfgang Herles
VerlagFinanzBuch Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783960922551
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
'Die Deutschen wollen stets mehr, als sie kriegen können, und haben am Ende immer weniger, als sie bekommen könnten.' Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung, Willkommenskultur: In den Augen der meisten Deutschen sind die vergangenen siebzig Jahre eine einzige Erfolgsstory. Doch wir reden uns unsere Geschichte schön. Bereits in den Jahren des Wirtschaftswunders begann die Überforderung des Sozialstaats, mit der Wiedervereinigung nahmen die Selbstzweifel an der Identität der Deutschen nicht ab, sondern zu, und die Willkommenskultur führte bis zum Kontrollverlust des Staates. Der prominente Fernsehjournalist und Schriftsteller Wolfgang Herles verknüpft meisterhaft die Geschichte der Bundesrepublik mit einem Psychogramm der deutschen Gesellschaft. Dabei zeigt er eindrücklich, wie die aus den unverarbeiteten Traumata der Deutschen - Nazidiktatur, Holocaust, Weltkrieg, Geldentwertung - entstandenen Ängste bis heute die Realität verzerren und einer zukunftsfähigen Politik im Weg stehen. Eine ebenso unkonventionelle wie erhellende Zeitreise durch die jüngste deutsche Geschichte.

Wolfgang Herles ist einer der profiliertesten deutschen Fernsehjournalisten und hat zahlreiche politische Sachbücher und Romane, darunter Spiegel-Bestseller geschrieben. 40 Jahre lang moderierte er Magazine und Gesprächssendungen, leitete u.a. das Kulturmagazin aspekte des ZDF und das Bonner Studio des Senders, aus dem er auf Betreiben des damaligen Bundeskanzlers Kohl entfernt wurde. Als Autor und Regisseur porträtierte er Persönlichkeiten wie Bill Gates, Stephen Hawking und Joseph Ratzinger. 1950 in Tittling bei Passau geboren und in Lindau am Bodensee aufgewachsen, studierte er deutsche Literatur, Geschichte und Psychologie in München und absolvierte die Deutsche Journalistenschule.

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Leseprobe

Einleitung
Das Ende der Gemütlichkeit


Nach dem fürchterlichen Morden und nach der Zerstörung, die Hitler verschuldet hat, wird Deutschland geteilt. Im kleineren Teil, im Osten, entsteht ein Satellitenstaat Moskaus. Im Westen dürfen die Deutschen der Welt beweisen, wie viel Gutes in ihnen steckt. Sie werden mustergültige Demokraten, treue und friedliebende Bündnispartner. Unendlich fleißig, schaffen sie das Wirtschaftswunder. Wohlstand für alle lässt die neue Republik auch im Inneren zusammenhalten. Die soziale Marktwirtschaft der Bonner Republik wird zum weltweit bewunderten Modell. So gewinnen die Westdeutschen auch ihren Stolz zurück. Nur eines fehlt zu ihrem vollkommenen Glück: die Vereinigung mit den Brüdern und Schwestern im Osten. Nach dem Fall der Mauer hat die Geschichte endlich ein Einsehen. Die deutsche Einheit wird zum Motor der Europäischen Einigung, der Euro löst die D-Mark ab, und die Berliner Republik gewinnt an Ansehen in der Welt und an wirtschaftlicher Kraft. Ein Kind der ehemaligen DDR, die viermal gewählte Kanzlerin, wird als mächtigste Frau der Welt geschätzt und bewundert. Den demokratischen Deutschen ist fast alles geglückt. Sie haben aus der Geschichte gelernt und dem finstersten Kapitel ein Happy End angefügt.

 

Wohl die meisten Deutschen halten diese Erzählung alles in allem für zutreffend. So ist sie tausendfach zu hören und zu lesen, in Schulbüchern, Fernsehsendungen, Talkshows, Feierstunden. Doch sie ist ein Mythos. Und je schwieriger die Gegenwart erscheint, desto mehr verklärt sich der Blick auf die Vergangenheit dieser geglückten Republik.

In der Vergangenheit aber nisten auch die Gründe dafür, weshalb immer mehr Deutsche an der Fortsetzung der Erfolgsgeschichte zweifeln. Weshalb trotz glänzender ökonomischer Daten die Ängste steigen. Weshalb die Republik, die so stolz gewesen ist auf Solidität, Zusammenhalt und auf Konsens in allen wesentlichen Fragen, mit dem rapiden Wandel der Welt nicht zurechtkommt. Weshalb der inneren Einheit eine innere Spaltung zu folgen scheint.

Den Gründen für diesen Stimmungsabfall, für die begründeten Zweifel am Kurs der Republik und dem Zustand der deutschen Demokratie spürt dieses Buch siebzig Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik nach.

Ein Grund ist gerade schon deutlich geworden. In der Verklärung der Vergangenheit nistet das Versagen in der Gegenwart. Geschichte ist nie objektiv, sondern immer auch ein Instrument der Politik und der jeweils herrschenden Ideologie. Geschönt und imprägniert von Täuschungen und Selbsttäuschungen, verklärt sie die Vergangenheit. Sie entscheidet darüber mit, wie die Gesellschaft ihre Zukunft gestaltet. Grob gesagt: Geschichtsbilder gewinnen Wahlen. Sie verraten, welche Überzeugungen und Mentalitäten in einem Land fest verwurzelt und nur schwer veränderbar sind. »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.« Was Max Frisch im Roman (Mein Name sei Gantenbein) feststellt, gilt auch für Gemeinschaften, seien es Familien, Parteien oder die Bürger eines Staates.

Wie das, was geschehen ist, weitererzählt wird, wie die Deutschen es zu ihrer Selbstbestätigung benutzten und zurechtstutzten, was sie hervorheben, schönen und verschweigen, was sie tabuisieren und verdrehen, verrät viel über ihre geistige Befindlichkeit, über ihre Wünsche, Ängste, Illusionen und Utopien.

Es ist üblich geworden, Nachkriegsgeschichte als gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen. Die Absicht ist unverkennbar politisch. Die Einheit der beiden deutschen Staaten soll als das große, von Beginn an heiß begehrte Ziel aufleuchten, die Geschichte der Bonner Republik als bloße Vor- und Teilgeschichte relativiert und dem Kontext der Nationalgeschichte untergeordnet werden. Daran beteiligt sich dieses Buch nicht. Die Bonner Republik geht bis 1989 einen eigenen, der Geschichte der DDR fundamental entgegengesetzten Weg. Er ist mit dem Beitritt der DDR zu Ende. Verfassungsrechtlich war es lediglich ein Beitritt, politisch und ökonomisch aber verwandelt der Zusammenschluss ganz Deutschland fundamental. Zwar werden 1990 die Ostdeutschen zu Mitbürgern, nur ist die Bundesrepublik jetzt nicht mehr das Gelobte Land, von dem sie geträumt hatten.

Denn das Ende des großen Dualismus von Ost und West, von Kommunismus und Kapitalismus, hat die ganze Welt in ein neues, womöglich noch zerstörerischeres Abenteuer gestürzt. Die politische Wende fällt zusammen mit einer technologischen und wirtschaftlichen Revolution ungeheurer Tragweite. Dem nun in Lichtgeschwindigkeit um die Welt jagenden Kapital setzen die Nationalstaaten – also die modernen Demokratien – nichts entgegen. Im Gegenteil: Ost wie West befördern die Globalisierung und ignorieren ihre Gefahren.

Auch der Exportweltmeister Deutschland spürt nun das Ende der Gemütlichkeit. Die Friedensdividende am Ende des Kalten Kriegs ist rasch aufgebraucht. Mit diesem Wandel haben nicht bloß die Deutschen zu kämpfen. Aber nun stellen sich alte Fragen noch einmal ganz neu. Warum stehen sich die Deutschen so beharrlich selbst im Weg? Warum tun sie sich so schwer, ihr Land auf die veränderten ökonomischen Bedingungen der Welt einzustellen? Warum versagen dabei die Parteien und das politische System? Warum ist Freiheit den Deutschen weniger wert als soziale und innere Sicherheit? Weshalb bremst der Sozialstaat Wachstum und Wohlstand? Warum ist Deutschland überreguliert? Warum verachten die Deutschen politischen Streit? Warum macht die Einheit so viele Deutsche gar nicht glücklich? Weshalb glauben die Deutschen nach den bösen Erfahrungen ihrer Geschichte schon wieder an Sonderwege, nur eben diesmal ins Gute gewendet – sei es in der Energie-, sei es in der Einwanderungspolitik?

 

Grundlage dieses Buchs ist die Tatsache, dass nicht nur Individuen, sondern auch Gemeinschaften – Familien, Firmen, Gesellschaften – unter neurotischen Störungen leiden können. Geschichtsschreibung ist immer auch ein Blick in die Psyche von Nationen und Gesellschaften. Denn hinter Ereignissen und Entwicklungen stehen Motive, Einstellungen, Ängste. Man muss wahrlich kein Psychologe sein, um Störungen im kollektiven Verhalten der Deutschen zu erkennen. Ihre Stimmung neigt zu abrupten Schwankungen. Mal erscheinen sie niedergedrückt und gepeinigt von »German Angst«, mal wie besinnungslos vor Begeisterung von sich selbst, wie während der Fußballweltmeisterschaft 2006. Mal übernehmen sie sich im Jubel ihrer Willkommenskultur, mal stürzen sie sich in eine Energiewende, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Und statt die Herausforderungen im demokratischen Streit auszutragen, grenzen sie moralisierend aus, was dem herrschenden Meinungsmainstream widerspricht.

Wenngleich traditionell unfähig zum Umsturz oder auch nur zu durchgreifender Reform, steigern sich die Deutschen mal in maßlose Verdrossenheit über Politik und Parteien, mal besingen sie die Großartigkeit ihrer Kanzlerin. Sie scheinen ihre Nervosität selbst als Störung zu empfinden. Warum sonst sollten sie so sehnsüchtig sein nach Normalität, nicht wissend, was das ist, und ahnend, wie unerreichbar es ist. Zufrieden sind die Deutschen nie wirklich mit ihrem Land. Dafür haben sie Gründe. Nur sind diese Gründe andere, als sie selber ­glauben.

Die Deutschen wollen stets mehr, als sie kriegen können, und haben am Ende immer weniger, als sie bekommen könnten. Denn ihr Missvergnügen resultiert aus dem Missverhältnis zwischen Realismus und Wunschdenken, zwischen gesetzten und erreichbaren Zielen.

Ist diese Republik also neurotisch? Es würde den Rahmen einer Geschichtserzählung sprengen, wollte sich der Autor auf die verschiedenen, miteinander im Streit liegenden psychologischen Definitionen und Theorien einlassen. Unbestritten ist selbst unter Psychologen, dass Neurosen innerpsychische Konflikte sind, die es den davon Betroffenen erschweren, sich der Realität anzupassen. Neurotizismus gilt als eine der (fünf) Skalen oder Dimensionen, mit denen Persönlichkeit beschrieben und gemessen werden kann.1 Die Dimension des Neurotizismus erfasst Merkmale wie Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression, Verletzlichkeit.

Solche Merkmale bestimmen auch die Politik. In problematischen Phasen zeigen sie sich stärker als in stabilen. Neurotiker lassen sich unverhältnismäßig leicht ängstigen, aufregen, frustrieren. Ursache und Auslöser von Neurosen sind fortgesetzte traumatische, schlecht verarbeitete Erlebnisse, böse Erinnerungen, aber auch Phantasien und Wunschvorstellungen. Böse Erinnerungen haben die Deutschen in reichem Maße, aber auch Wünsche, Illusionen, Utopien, offen benannte und unausgesprochene.

Ist auch die strudelnde, also nicht von der Stelle kommende Erregbarkeit der Deutschen noch immer dem großen Trauma geschuldet, dem Dreh- und Angelpunkt der jüngeren Geschichte? Zusammenhänge sind unverkennbar, aber sie erklären nicht alles. Nach der totalen Katastrophe, mit der das Dritte Reich endete, ist die Bundesrepublik Deutschland durchaus das Resultat einer gelungenen Therapie. Aber wie jede wirksame Therapie zeitigt sie Nebenwirkungen. Die Deutschen zahlten und zahlen für ihre Auferstehung einen Preis, der auch heute und in Zukunft noch fällig ist.

Lange haben die Deutschen den Niedergang ihres Wohlfahrtsstaats übersehen, und sie wollen ihn noch immer nicht wahrhaben. Die Bonner Republik ist verloren, und erneut leiden die Deutschen an der Unfähigkeit, den Verlust zu verarbeiten. In der Geschichte der Bundesrepublik ist immer wieder zu beobachten, wie unübersehbare Tatbestände und Entwicklungen ausgeblendet, verdrängt,...

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