1 Annäherungen an Lebenslagen und Biografien junger Geflüchteter – eine unabdingbare Voraussetzung für eine pädagogische Kommunikation »auf Augenhöhe«
Joachim Schroeder
1.1 »Habitussensibilität« im Handlungsfeld Flucht und Asyl
Junge Geflüchtete zählen, wie auch Schulpflichtige in Hartz-IV, solche mit einer Behinderung und jene, die obdachlos sind, Suchtprobleme haben oder einer diskriminierten Minderheit angehören, zu den vulnerablen Gruppen, die in ihren individuellen Bildungsgängen die Folgen der unlösbaren »sozialen Frage« ausbaden müssen (Schroeder 2012). Junge Geflüchtete stammen oftmals aus den so genannten Entwicklungsländern des globalen Südens und gelangen in das Schulsystem eines im Weltvergleich gesehen relativ reichen Landes des globalen Nordens. In Deutschland geraten die »Newcomer« in ein sozialrechtliches Parallelsystem für Geflüchtete, das sie für viele Jahre in Asylarmut drängt. In den Schulen sind sie dann in Flüchtlingsklassen unter sich oder treffen in den Regelklassen auf Gleichaltrige anderer sozialer Milieus. Das pädagogische Personal jedenfalls gehört sowohl in den Schulen als auch in den Einrichtungen den etablierten Schichten an, sodass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der pädagogische Bezug durch soziale Asymmetrien geprägt ist.
In der pädagogischen Professionsforschung setzt man sich unter Verwendung des Begriffs »Habitussensibilität« wieder intensiver mit der Frage auseinander, welche Anforderungen sich für das professionelle Handeln aus der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft ergeben (Sander 2014). Denn es dürfte »unstrittig sein, dass die soziale Lage bzw. die zur Verfügung stehenden Ressourcen, aber auch die akteursspezifischen Dispositionen (wie etwa im Habituskonzept Pierre Bourdieus ausgeführt) eine kaum zu unterschätzende Wirkung auf das Handeln der beteiligten Personen sowie den Verlauf der Interaktion zwischen ihnen entfalten (können)« (Weckwerth 2014, S. 38). »Habitussensibilität« sei vor allem dort gefragt, »wo Fachkräfte mit der Vielfalt und Ungleichheit von Lebenshintergründen und Erfahrungen der Klientel in Kontakt kommen, welche im Zusammenhang mit verschiedenen Kategorien sozialer Differenz (bspw. Geschlecht, Alter, Herkunft, Religion) stehen« (Kubisch 2014, S. 117) – eine Ausgangslage, die gewiss auf das Personal in Schulen aller Stufen und Formen zutrifft.
»Habitussensibilität« ist folglich auch für eine pädagogische Kommunikation »auf Augenhöhe« mit jungen Geflüchteten in der Schule notwendig. »Habitussensibilität« meint, dass Lehrkräfte, Erzieher und Sozialpädagoginnen in ihrem professionellen Handeln sowohl die soziale Situation ihrer Klientel berücksichtigen als auch ihre eigene soziale Situiertheit als Professionelle reflektieren (vgl. Sander 2014, S. 9). »Habitussensibilität«, so schreibt Sander weiter, werde immer dann notwendig, »wenn Angehörige unterschiedlicher sozialer Milieus ein Arbeitsbündnis herstellen wollen« (S. 11) und »zusammen eine Aufgabe angehen bzw. ein Problem lösen müssen« (S. 16). Folglich ist es in schulischen Arbeitsbündnissen unerlässlich, sich der sozialen Ungleichheit zu stellen, die zwischen den Schülerinnen bzw. Schülern und den pädagogischen Fachkräften besteht, weil diese soziale Asymmetrie jegliche pädagogische Kommunikation präformiert (ebd., S. 10).
Nach Bourdieu sind habituelle Muster »handlungsleitende Orientierungen im Sinne habitueller Wahrnehmungs-, Konstruktions- und Handlungsweisen« (vgl. Kubisch 2014, S. 117). Diese werden im Laufe des Lebens erworben, sie geben Sicherheit, und sie strukturieren dauerhaft die Arbeit in der professionellen Praxis. In dem von Sander (2014) herausgegebenen Sammelband finden sich mehrere empirische Studien zu Studierenden der Sozialen Arbeit, die eindrücklich belegen, dass der an die Hochschule ›mitgebrachte‹ Habitus ein relativ stabiles und schwer zu änderndes Strukturgebilde ist und sich »Habitusmodifikationen« bei den Studierenden durch das Studium nur bedingt anstoßen lassen. Andererseits bleibt vermutlich kaum mehr, als in der Aus-, Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte solche Reflexionssettings anzubieten, in denen sich die eigenen Dispositionen bewusst machen lassen und die individuellen Distinktionspraktiken, als den habitualisierten Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit, reduziert werden können (vgl. Weckwerth 2014, S. 58–60).
Im Folgenden möchte ich von eigenen Bemühungen berichten, bei Lehramtsstudierenden »Habitussensibilität« für die schulische Flüchtlingsarbeit zu generieren. In meinen Seminaren soll es den künftigen Lehrkräften möglich werden, sich in pädagogischen Settings »den Habitus eines Gegenübers« (Weckwerth) – hier: junger Geflüchteter – zu erschließen, dadurch für ihren eigenen Habitus sensibler zu werden und günstigstenfalls zu beginnen, die »Trägheit des Habitus« (Bourdieu) zu überwinden und diesen mit Bezug auf die pädagogische Arbeit umzuformen. Im Weiteren werde ich begründen, dass »Habitussensibilität« als professionelle Handlungskompetenz der Flüchtlingsarbeit in der Schule (a) fundiertes Lebensweltwissen über die soziale Lage der »Newcomer« und (b) eine nüchterne Selbstverortung der Lehrkräfte in der Weltgesellschaft benötigt, sowie (c) eine Methodologie zur Entwicklung von Schulkonzepten, in denen pädagogische Kommunikation als institutionelle Verantwortung organisiert wird, (d) ergänzt durch aufsuchende Ansätze.
1.2 Erarbeitung von Lebensweltwissen zu Menschen auf der Flucht
Um mit Studierenden dem »Habitus der Überlebenskunst« (Seukwa 2006) auf die Spur zu kommen, den junge Geflüchtete ausbilden müssen, um all das bewältigen zu können, womit sie in ihren Herkunftsländern, auf der Flucht und eben auch in Deutschland konfrontiert werden, nutze ich u. a. das Buch »Im Meer schwimmen Krokodile. Eine wahre Geschichte.« Der italienische Journalist und Schriftsteller Fabio Geda (2010) hat den autobiografischen Bericht des 21-jährigen Enaiatollah Akbari aus Afghanistan über dessen mehr als acht Jahre andauernde Flucht zu einer fesselnden Erzählung verdichtet. Mit diesem Text lassen sich vorzüglich strukturelle Merkmale und biografische Auswirkungen von Flucht erkennen und die pädagogischen Ansatzmöglichkeiten im Land des Asyls reflektieren. Ich habe bereits an anderer Stelle einige hochschuldidaktischen Erfahrungen mit dem Buch erörtert (Schroeder 2017a). Nachfolgend berichte ich aus der Seminararbeit im Wintersemester 2016/17 mit Erstsemestern im Bachelor Lehramt für Sonderpädagogik.
Raum-Zeit-Analyse
In die fluchtbedingte Habitusanalyse lässt sich gut mit der Karte »Enaiats Reise« einsteigen, die auf den letzten Buchseiten angehängt ist ( Abb. 1.1). Sie zeigt Enaiats Fluchtweg, der ihn von Afghanistan über Pakistan, den Iran, die Türkei und Griechenland nach Italien führt, wo er nach kurzen Aufenthalten in Venedig und Rom schließlich in Turin von einer italienischen Familie aufgenommen wird. Dem Text ist zu entnehmen, dass er bei Fluchtbeginn ca. zehn Jahre alt gewesen ist, in Turin ist er dann 18 Jahre alt.
Als erstes fordere ich die Studierenden auf, pädagogisch relevante Fragen an die Karte zu stellen. Obwohl einige berichten, sie hätten das Buch bereits in der Schule gelesen, braucht das etwas Zeit, denn sie haben im Unterricht gelernt, solche Texte literatur-, aber nicht erziehungs- und bildungswissenschaftlich zu interpretieren. Deshalb frage ich zum Beispiel: Die Karte ist mit »Enaiats Reise« überschrieben. Was waren denn seine »Reisemotive«? Ist »Reise« überhaupt ein angemessener Begriff? Die Diskussion ergibt, dass es sich migrationssoziologisch bei dieser »Reise« um eine transnationale Zwangsmigration (Pries 2008) handelt: Die Mutter schickt Enaiat weg, um ihn vor den Taliban zu schützen. Der weitere Weg durch fünf Nationalstaaten wird erzwungen, weil er dort überall ohne Aufenthaltsrecht lebt und somit nicht bleiben kann, und zweimal sogar abgeschoben wird.
Viele transnationale Migrationsbiografien entstehen, weil die jungen Geflüchteten zumindest...