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E-Book

Kanaillen-Kapitalismus

Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft

VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783518759967
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Soziophobie schrieb die taz, César Rendueles verbinde »eine antikapitalistische Haltung mit einem abgeklärten Wissen um die Komplexität von Gesellschaften«. Wissen darüber, wie die Welt vor der freien Marktwirtschaft aussah und wie die ökonomische Logik nach und nach alle Lebensbereiche durchdrungen hat, entstammt immer auch der Lektüre fiktionaler Literatur. In seinem neuen Buch erkundet Rendueles seine persönliche Lesebiografie. Anhand von Klassikern wie Robinson Crusoe und Kultbüchern wie American Psycho zeichnet er nach, wie der Kapitalismus sich uns einverleibt hat. Doch zugleich kann in Büchern, das zeigt Rendueles etwa an Kleists Michael Kohlhaas und an Science-Fiction-Romanen, auch der Geist der Revolte und solidarischer Utopien stecken. ]]>

<![CDATA[<p>Raul Zelik, 1968 in M&uuml;nchen geboren, ist Schriftsteller und Politikwissenschaftler und publiziert seit vielen Jahren zu den sozialen Konflikten in Lateinamerika. Bis 2013 lehrte er als Associate Professor an der Nationaluniversit&auml;t Kolumbiens in Medell&iacute;n. Seit 2016 ist er Mitglied im Bundesvorstand der Partei Die Linke.</p> <p>C&eacute;sar Rendueles, geboren 1975 in Girona, lehrt Soziologie an der Universidad Complutense de Madrid.</p> ]]>

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Leseprobe

9Prolog


Den größten Teil seines Lebens beschäftigte der Philosoph Immanuel Kant den Hausbediensteten Martin Lampe bei sich, den er 1802 entließ, nachdem die beiden sich aus nicht überlieferten Gründen überworfen hatten. Kant war damals 78 Jahre alt, begann unter Altersdemenz zu leiden und bediente sich kleiner Zettel, auf denen er Aufgaben und unerledigte Angelegenheiten notierte. Auf einem vermerkte er: »Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden.«1 Der Witz an der Angelegenheit besteht natürlich darin, dass es sich dabei um so etwas wie einen performativen Widerspruch handelt. So wie es ein todsicherer Weg in die Schlaflosigkeit ist, sich zum Einschlafen zwingen zu wollen, stellt das Aufschreiben einer Notiz über etwas, das vergessen werden muss, ein hervorragendes Mittel dar, um sich etwas ins Gedächtnis zu brennen.

Die umgekehrte Operation ist hingegen relativ einfach zu verwirklichen. In den neunziger Jahren entwickelte die US-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus ein elegantes Experiment, das die Möglichkeit nachwies, falsche Erinnerungen im Gedächtnis gesunder Erwachsener zu verankern, ohne dabei auf aggressive Techniken der Gehirnwäsche zurückzugreifen.2 Loftus wählte 24 Personen aus, denen man vier knapp geschilderte Kindheitserinnerungen vorlegte: Drei von 10ihnen beruhten auf Informationen eines Angehörigen und waren wahr, während die Forscher die vierte frei erfunden hatten (eine Geschichte darüber, wie die Person als kleines Kind in einem Einkaufszentrum verloren gegangen war). Loftus fragte, ob sich die Versuchspersonen an die vier Episoden erinnerten und ob sie diese, im Falle einer bejahenden Antwort, schildern könnten. Das eigentliche Überraschende war nicht, dass ein Viertel der Versuchspersonen der Meinung war, die fälschlicherweise erinnerte Episode habe sich tatsächlich ereignet, sondern dass sie diese mit Details ausschmückten und mit echten Emotionen schilderten. Bei ähnlichen Experimenten gelang es sogar, bei der Hälfte der Teilnehmerinnen falsche Erinnerungen zu induzieren.

Die Arbeit von Loftus fand ein enormes öffentliches Echo, weil sie im Widerspruch zur Theorie der unterdrückten Erinnerung stand, die in den Achtzigern in den USA eine Lawine von Strafprozessen wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ausgelöst hatte. In jenen Jahren hatten Tausende Personen Strafanzeige erstattet, nachdem sie sich im Verlauf einer Psychotherapie an vermeintliche, in einem verborgenen Winkel ihrer Psyche begrabene Übergriffe erinnert hatten. Loftus stellte den Wahrheitsgehalt dieser Erinnerungen mit dem ziemlich überzeugenden Argument infrage, dass Menschen, die Opfer traumatischer Erlebnisse geworden sind, diese gewöhnlich nicht vergessen, sondern sich eher obsessiv an sie erinnern.

11Loftus wurde zu einer berühmten, aber auch umstrittenen Persönlichkeit. Sie wurde, teilweise durchaus begründet, beschuldigt, sich auf der Seite der Täter und gegen die Opfer zu positionieren, und erntete die Feindschaft ihrer Kolleginnen und Kollegen. Sie wurde sogar bedroht und musste Leibwächter anheuern. Nichtsdestotrotz lassen die Versuche von Loftus, wie der Neurologe Oliver Sacks angemerkt hat, auch eine optimistische Interpretation zu. Vielleicht ist der fragile Charakter unseres Erinnerungssystems, von Begehren gesteuert und dementsprechend unzuverlässig, ein wichtiges Element der Vorstellungskraft und Empathie. Unser Gehirn ist ein gefräßiges und nicht gerade skrupulöses Organ, das fremde Erfahrungen gerne aufgreift und sie in den eigenen Bestand einbaut — unabhängig davon, ob sie real sind oder nicht. »Die Gleichgültigkeit gegenüber den Quellen«, schreibt Sacks, »erlaubt es, dass wir uns das, was wir lesen, was uns erzählt wird, was andere sagen, denken, schreiben und malen, genauso eindrücklich und intensiv aneignen wie unsere eigenen Erfahrungen.«3

Ich glaube, dass diese Beobachtung zumindest teilweise auch auf unser Verhältnis zur Geschichte und zu den Sozialwissenschaften zutrifft, bei denen es sich ebenfalls um ausgesprochen fragile Systeme handelt. Eines Sommers traf ich in einem Dorf an der nordspanischen Küste einmal zufällig katalanische Freunde. Ihre beiden Kinder beobachteten jeden Tag fasziniert die Bewegung von Ebbe und Flut, die an der kantabri12schen Küste sehr ausgeprägt ist. Mal ließ das Meer nur einen kleinen Sandstreifen frei, andere Male zog es sich mehr als hundert Meter zurück. An einem Morgen fragten die Kinder uns: »Aber wo ist hier das Wasser, wenn das Meer ganz, ganz normal ist?« Ähnlich verhält es sich auch in den Sozialwissenschaften. Wie unsere Erinnerung haben auch die Soziologie, die Psychologie, die Historiografie und die Wirtschaftswissenschaften etwas von einem Dämmerzustand, in dem wir, anders als im Traum, die Differenz zwischen Realität und Fantasie, zwischen wahr und falsch, zwar noch erkennen, die Unterscheidungen jedoch graduell, subtil und trügerisch werden. Die historischen Ereignisse kennen kein ganz, ganz normal. Sie bilden keinen felsigen Kern, den wir herausarbeiten können, indem wir ihn Schicht für Schicht von Sedimentablagerungen befreien.

Das Gute an dieser Beschränktheit ist, dass wir auch die Sozialwissenschaften in unser Leben eingebaut haben, als handele es sich um Primärerfahrungen, persönliche Erinnerungen und entfesselte Leidenschaften. Begriffe wie »soziale Klasse«, »Trauma« oder »Solidarität« sind Bestandteile unseres intimen Vokabulars, unseres Selbstverständnisses und unserer individuellen und kollektiven Sehnsucht. Das hat damit zu tun, dass wir in opaken Gesellschaften leben, die danach verlangen, erklärt und transformiert zu werden. Bei den großen Katastrophen, die unser Leben erschüttern, handelt es sich nicht nur um Naturkatastrophen — Missernten, Seuchen oder Erdbeben —, sondern vor allem um mysteriö13se soziale Prozesse — wie Ungleichheit oder Wirtschaftskrisen —, die wir verstehen müssen.

Dieses Buch untersucht das unsichere Gelände, auf dem sich Geschichte, Alltag und Fiktion miteinander verschränken. Es ist eine persönliche Geschichte des Kapitalismus, die anhand sehr heterogener literarischer Texte erzählt wird. Das Schlüsselwort lautet dabei »persönlich«. Mein Anliegen war nicht, systematisch und mit rigorosen literaturwissenschaftlichen Instrumenten zu analysieren, wie sich die Geschichte der Literatur mit der Evolution der kapitalistischen Gesellschaft verknüpft hat. Ich benütze die literarischen Texte auch nicht als Informationsquelle, um komplexe historische Phänomene zu untersuchen. Vielmehr habe ich mich bemüht, anhand von Romanen, Lyrik und Theaterstücken eine fiktive Chronik der politischen Dilemmata unserer Zeit zu verfassen.

Im Lauf der Geschichte haben sich die herrschenden Klassen immer wieder durch ihre armselige politische Vorstellungskraft ausgezeichnet. Die Angehörigen der Eliten waren völlig davon überzeugt, dass das politische System, an dessen Spitze sie standen — ob nun Sklaverei, Feudalismus oder Tyrannei —, unveränderbar war und die einzige Alternative zum Chaos darstellte. Es heißt, dass Ludwig XVI. von seiner Jugend an ein Tagebuch mit sich trug, in dem er über seine alltäglichen Sorgen nachdachte. Da die Jagd seine Lieblingsbeschäftigung war, sind die von ihm erlegten Tiere (189 ‌251 Stück in 13 Jahren) in seinem Heft minutiös registriert. Auch 14den von ihm gewährten Audienzen sowie Krankheiten wie Verdauungsstörungen, Erkältungen und Hämorrhoiden wird viel Aufmerksamkeit gewidmet. Wenn er weder jagte noch Audienzen gewährte oder krank war, beschränkte sich Ludwig XVI. auf den Tagebucheintrag »nichts«. Kurioserweise taucht das Wort auch an den berühmten Tagen der Französischen Revolution auf. Das Einzige, was der Monarch zu einem der folgenreichsten politischen Ereignisse der Menschheitsgeschichte zu sagen hatte, war »nichts«.4

Viele Jahre lang haben wir zugelassen, dass die Mächtigen »nichts« in unsere Tagebücher notierten. Bis zu dem Punkt, dass wir die Bemerkung am Ende schließlich selbst übernommen haben. Wir alle sind wie Ludwig XVI. geworden: kurzsichtig und, was noch schlimmer ist, skeptisch hinsichtlich der für möglich gehaltenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Wir tun so, als würden Kasinokapitalismus, Zeitarbeitsfirmen und transnationale Unternehmen auch in 1000 Jahren noch existieren. Das liegt...

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