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E-Book

Verschieben wir es auf morgen

Wie ich dem Tod ein Schnippchen schlug

AutorMiriam Maertens
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783843718684
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Sie hat sich nie als Kranke gefühlt, wollte nie jemand sein, bei dem man zuerst an die kaputte Lunge denkt. Deshalb beschloss die Schauspielerin Miriam Maertens, einfach so zu leben, als wäre sie gesund. Sie will so sein wie alle Kinder, nichts versäumen, überall mitmachen, auch auf Klassenfahrt gehen. Die auffällige Sorge ihrer Mutter versteht sie nicht. Sie fühlt sich körperlich schwach, aber nie krank. Und sie kann sich durchsetzen, weil ihr Bruder mitkommt, der ihr den Rücken abklopft und mit ihr inhaliert. Mit sechzehn bricht sie die Schule ab, weil sie unbedingt ans Theater will - wie ihr Vater und ihre beiden älteren Brüder. Nur wenige wissen, dass Miriam Maertens vor jedem Auftritt und in den Pausen inhaliert, um auf der Bühne nicht atemlos zu sein. Mit Anfang Dreißig wird sie gegen den Rat der Ärzte schwanger. Erst als sie kaum noch Luft bekommt, ist sie bereit, sich auf die Liste für ein Spenderorgan setzen zu lassen. Es erfordert viel Kraft und noch mehr Mut, den eigenen Weg so unbeirrt zu gehen - aber das Leben ist es allemal wert.

Miriam Maertens wurde 1970 in eine Theaterfamilie hineingeboren. Seit ihrer Jugend ist sie Schauspielerin, seit 2005 ist sie festes Ensemblemitglied am Züricher Schauspielhaus. Darüber hinaus war sie auch in zahlreichen Fernsehproduktionen zu sehen.

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Leseprobe

EINE VEDDELER DEERN


Meine Mutter bewundere ich für die Fähigkeit, im Moment zu leben, für den Hang zum Genuss, die Liebe zum Leben, zur Natur. Sie ist ein impulsiver Mensch und absoluter Mittelpunkt unserer Familie, als Einzige keine Schauspielerin, aber wegen ihrer angeborenen Dramatik von uns Kindern oft »Suse« genannt (nach der großartigen Schauspielerin Susanne Lothar). Ihre Stärke und ihr gleichzeitig fast kindlich-naives Wesen haben mir geholfen, meine Krankheit stets gut zu bewältigen; allerdings weiß ich nicht, ob sie das alles ohne meinen Vater geschafft hätte. Ihr Mann stand für sie immer an erster Stelle. Kennengelernt haben sich die beiden auf Sylt. Zufall? Schicksal? Mein Vater musste jedenfalls zurück in den Dorfkrug, weil er glaubte, seinen Pensionsschlüssel dort liegen gelassen zu haben. Als er eintrat, sah er meine siebzehnjährige Mutter mit ihrer Cousine an einem Tisch sitzen. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick, wie man so sagt. Der Beginn der für mich beeindruckenden Lebens- und Liebesbeziehung meiner Eltern.

Meine Mutter wuchs als älteste von drei Töchtern in einfachen Verhältnissen im Hamburger Stadtteil Veddel auf. Sie ist eine richtige »Veddeler Deern«. Einerseits war sie stolz darauf, andererseits konnten wir Kinder sie aber auch beleidigen, wenn wir sie mit ihrer einfachen Herkunft aufzogen. Intendantensohn aus Harvestehude und Maschinenbautochter von der Veddel, eine wunderbare Mischung. Ein verrücktes Paar, wenn auch ganz anders als Harald Juhnke und Grit Boettcher.

Die Mutter meiner Mutter, unsere Omi Trudel, war eine ungeheuer fleißige Person, die stets gut für ihre Töchter sorgte. Bevor sie unseren Großvater Joachim heiratete, ging sie oft mit ihrer besten Freundin tanzen und entwickelte dabei anscheinend ein Faible für Bad Guys, wie man heute sagen würde. Das entsprechende Aussehen hatte ihr späterer Mann, mein Großvater, auch, aber vom Charakter her war er sensibel und fein. Wobei er regelmäßig gefährdet war, seinen ganzen Wochenlohn gleich am ersten Abend in der Kneipe loszuwerden, da er in seiner Großzügigkeit alle »Kneipeninsassen« mit einlud. Wovor Omi Trudel immer zitterte, weil sie ja ihre drei Töchter ernähren musste.

Da meine Großmutter zwei Kriege erlebt hatte, sorgte sie in puncto Lebensmitteln stets gut vor: Auf ihrem Kleiderschrank im Schlafzimmer standen noch in den Siebzigerjahren Konservendosen, damit Vorräte im Haus waren, falls wieder ein Krieg ausbrach und sie die Wohnung nicht mehr verlassen konnte.

Alle ihre Geburtstage feierte unsere Großmutter bei sich zu Hause, mit sämtlichen Tanten und Onkels, Cousinen und Cousins, und jedes Mal gab es Frankfurter Kranz, wobei ich mir von meinem Stück immer nur das abkratzte, was ich mochte: die Vanillecreme. Während der Alkoholpegel bei den Erwachsenen stieg, spielten wir Kinder meist Verstecken in dieser doch recht kleinen Wohnung.

Omi Trudel war eine bis zum Schluss schöne, in gutem Sinne auf sich achtende Frau. Ich habe sie auch als Erwachsene noch häufig besucht, und dann haben wir uns immer die neuesten Geschichten aus der Familie erzählt. Bis zu ihrem Tod blieb sie in der Wohnung auf der Veddel, versorgt von ihren Kindern.

Mein Großvater Joachim starb an Magenkrebs, als meine Mutter vierzehn Jahre alt war. Da die drei Töchter ihren Vater vergöttert haben, war sein Tod ein herber Schlag für sie. Auch für Omi Trudel, die fortan alles alleine stemmen musste, aber das schaffte sie, denn sie war stark und diszipliniert.

Bei meiner Mutter schlichen sich über die Jahre viele Ängste ein, die sie nicht mehr verließen, was wahrscheinlich auch mit dem frühen Verlust ihres Vaters zu tun hat. Als Kind war sie hingegen eine sehr mutige Person gewesen. Eng verbunden mit der Natur und eine leidenschaftliche Schwimmerin. Sie sprang sogar von den Elbbrücken ins Wasser, denn damals war die Elbe noch sauber. Ein echter Kumpel muss sie gewesen sein, fantasievoll und sehr beliebt bei den Jungs.

Es gibt ein Tagebuch, das noch immer bei uns zu Hause liegt und in dem ich als Kind gerne gelesen habe. Darin beschreibt sie, wie sie auf einer Klassenreise nach Sylt zum ersten Mal das Meer gesehen hat. Dass sie auf derselben Insel nur ein paar Jahre später in einem Tanzlokal zufällig ihren Mann fürs Leben treffen würde, konnte sie damals natürlich nicht ahnen. Die Tagebucheintragungen waren mit feinen Zeichnungen ergänzt, die mir besonders gefielen. Sie hatten so eine naive Schönheit, dass ich Sylt förmlich spürte, das Meer, die Möwen und Robben, die dort zu Hause sind.

Auch als erwachsene Frau hat meine Mutter noch gezeichnet und gemalt. Mich hat es als Kind immer beruhigt, wenn sie sich mit ihren Bildern beschäftigte. Leider hörte sie irgendwann damit auf und versuchte sich stattdessen als Tänzerin in der Lola-Rogge-Ballettschule im Hirschpark in Blankenese, was aber nicht lange anhielt, da es ihr für das harte Training ein wenig an Disziplin und Ausdauer fehlte.

Das Lesen war und ist noch heute eine große Leidenschaft meiner Mutter. Mindestens einmal am Tag nahm sie sich die Zeit, sich mit einem Buch zurückzuziehen. Dafür ließ sie alles im Haushalt stehen und liegen und war für uns Kinder nicht mehr ansprechbar. Die Kraft, die sie aus den unzähligen Geschichten schöpfte, machte sie stark und half ihr vielleicht auch, die ständige Sorge um mich besser auszuhalten. Sie war dann in einer anderen Welt, in der sie loslassen konnte.

Meine Mutter ist für alle kulinarischen Genüsse dieser Welt empfänglich. Wobei sie heute viel besser kocht als früher. In meiner Kindheit hatte Tiefkühlkost Hochkonjunktur bei uns, und vieles von dem, was es zu essen gab, stammte von Iglo. Meine Leibspeisen waren das Hühnerfrikassee und Fisch à la Bordelaise, meine beiden Brüder waren den Steaklets mit »Grillstreifen« verfallen. Aus heutiger Sicht ein fieser Fraß, aber damals dachte man sich nichts dabei. Unsere Mutter versuchte auch nicht, den Süßigkeitenkonsum von uns Kindern zu begrenzen, sodass wir dem Zucker komplett ausgeliefert waren. Sprite, Lift, Mezzo-Mix, das waren unsere Getränke. Mein Bruder Michael aß Kinderschokolade immer so, dass nur das Weiße übrig blieb, ein Trick, der mir persönlich nie gelang. Und natürlich Gummels, ich hatte immer eine Tüte in der Hand, egal, wo ich mich befand.

Auch unser Fernsehkonsum wurde nicht streng reglementiert. Dementsprechend gut kannten wir uns mit den diversen Fernsehsendungen aus: von »Einer wird gewinnen« über »Dalli Dalli« bis zu »Spiel ohne Grenzen«, von »Fantomas« bis »Detektiv Rockford« mit James Garner, den Michi verehrte. Oft war es allerdings eher Glückssache, ob man unserem Schwarz-Weiß-Fernseher eines der damals nur drei verfügbaren Programme entlocken konnte. Die lose Antenne wurde in der Hoffnung auf ein klares Bild in einer ganz bestimmten Position auf das Gerät gelegt. Wenn sich die ideale Lage der Antenne nicht fand, also nur Flimmern und Rauschen erschien, wurde das Gerät zusätzlich noch geschlagen. Manchmal nützte das, manchmal aber auch nicht, sodass wir Kinder heulten vor Wut, wenn wir uns auf eine bestimmte Sendung gefreut hatten. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb mein Bruder Michi so ein Fernsehapparate-Fanatiker geworden ist und nur die besten der besten Modelle bei sich zu Hause stehen hat. Es lebe die moderne Zeit.

Für alle Rechnungen, die ins Haus kamen, war meine Mutter zuständig. Mein Vater wollte sich mit Geld nicht beschäftigen. Sie stapelte die »blauen Briefe« von der Deutschen Bank auf dem Schreibtisch, so lange, bis sie sich nicht mehr stapeln ließen, um dann, manchmal erst Wochen später, in Wehklagen über den aktuellen Kontostand auszubrechen. Mein Vater beruhigte sie dann immer mit den Worten: »Nur, wenn man Geld in hohem Maße ausgibt, kommt wieder neues rein.«

Auch für Waschmaschine und Heizung war meine Mutter verantwortlich. Beides lief nicht immer bei uns, was im Winter natürlich eine Katastrophe war. Für solche Fälle wurde ein Bekannter meiner Eltern gerufen. Ein Mann mit Latzhose, der auch jedes Jahr den Weihnachtsbaum aufstellte, da mein Vater sich damit ebenfalls nicht befassen wollte. Er konnte und wollte ja nicht mal eine Glühbirne eindrehen.

Einmal ging dieser Mann allerdings zu weit. Er rief meine Mutter zu sich in den Keller, damit sie ihm kurz half. Als sie unten ankam, zog er seine Latzhose aus und wollte wohl mehr als die handwerkliche Unterstützung beziehungsweise eine andere, als meine Mutter gedacht hatte. Er ward nie wieder gesehen. Und mein Vater musste von nun an am 24. Dezember den Baum selber aufstellen.

Meine Mutter ist sehr emotional, ein richtiger Bauchmensch. Zusätzlich zu »Suse« verpassten wir ihr auch noch den Spitznamen »Nili«, wegen ihrer Leidenschaft für Nilpferde. »Das Nilpferd ist das gefährlichste Tier Afrikas«, diese Beobachtung lässt sich durchaus auch auf den Charakter meiner Mutter übertragen. Ungeheuer impulsiv und wechselhaft. Und mein Vater war immer ihr Wärter.

Nilpferde brauchen Wärter, sonst sind sie verloren.

Entsprechend wimmelte es bei uns zu Hause nur so von Nilpferden – als Tasse, als kleine Gummifigur, als Stofftier, als Aschenbecher und vieles mehr. Eines dieser Tiere hatte eine besondere Funktion in der Familie: das finnische Mumin, ein nilpferdartiges Trollwesen. Unser Reisemumin. Wenn mein Vater auf Gastspiel ging oder es eines von uns Kindern in die Ferne zog, legte unsere Mutter es in den Koffer. So war immer ein Stück von ihr bei uns.

Für mich waren meine Eltern immer ein Vorbild in Sachen Liebe. Alle Hindernisse haben sie gemeinsam zu überwinden versucht; manchmal ging das auch ohne Worte. Als Kind habe ich mir oft Fotos von ihnen angeschaut,...

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