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E-Book

Praxisbuch Jungen in der Schule

Pädagogische Handlungsmöglichkeiten für Lehrerinnen und Lehrer

AutorReinhard Winter
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl166 Seiten
ISBN9783407631091
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Jungen werden heute vielfach als Bildungsverlierer bezeichnet. Auch wenn diese Bezeichnung dramatisiert: Am schlechteren Schulerfolg von Jungen ist erkennbar, dass es Schwierigkeiten gibt; zudem erleben Lehrkräfte ihr Verhalten immer mehr als herausfordernd. Bislang blieben die Diskussionen um Jungen in der Schule in Fakten und Klischees stecken. Ideen für eine Veränderung finden sich kaum. Aber wo können Lehrkräfte ansetzen, damit sich Jungen weniger anstrengend verhalten? Was brauchen Jungen, um Schule gut zu bewältigen und nicht noch mehr zurückzufallen? Was können Lehrer_innen dazu beitragen? Diese und andere Fragen beantwortet das Praxisbuch. Es stellt Hintergrundwissen zur Verfügung, um »männliches« Verhalten von Jungen verstehen und erklären zu können, entwickelt Anwendungsthemen, auf die es in der Arbeit mit Jungen in der Schule ankommt, und enthält Vorschläge zur Beziehungsgestaltung. Eine umfangreiche Sammlung aus erprobten Spielen und Übungen ermöglicht eine direkte Umsetzung in der schulischen Praxis.

Dr. Reinhard Winter ist der profilierteste Jungenexperte im deutschsprachigen Raum. Er ist Diplompädagoge und in der Leitung des Sozialwissenschaftlichen Instituts Tübingen (SOWIT). Er arbeitet in der Jungen- und Männerberatung, in der Jungenforschung sowie in der Qualifizierung von Lehrern und Fachkräften in der Sozialen Arbeit zu Jungenthemen.

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Leseprobe

1Bedenkliche Symptome


Dafür, dass Jungen fachlich in den Blick genommen werden, gibt es gute Gründe: Jungen werden im Geschlechtervergleich häufiger als Problemträger identifiziert, sie tragen einen guten Teil dazu bei, dass Lehrkräfte die Arbeit in der Schule als anstrengend, heraus- oder sogar überfordernd erleben. Große Dramen und Exzesse sind zwar selten, wie sie sich etwa vor einigen Jahren in der Rütli-Schule in Berlin abgespielt haben. Dennoch fordert der Alltag mit vielen Jungen in der Schule Lehrkräfte heraus und bringt manche an ihre Grenzen. Sorgen um Jungen sind genauso berechtigt wie um die Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihnen arbeiten.

Dass es in vielen Bereichen in der Schule Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt, gehört sowohl zum Alltagswissen, wie es auch durch Studien belegt ist. Ein Teil der Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, die sich in Untersuchungen als Mittelwerte abbilden, ist nur klein, meist ist die Vielfalt unter Jungen größer, als der Vergleich des Durchschnitts zwischen Mädchen und Jungen. Dennoch gibt es Trends und Tendenzen, die auf Entwicklungspotenziale oder Förderbedürfnisse hinweisen, und die vielleicht als ein Mosaikstein neben anderen bedeutsam sind. Meistens ist bei diesen Unterschieden ungeklärt, ob nach den Tendenzen Jungen »so sind« oder ob sie »so geworden« sind: also ob die Tendenzen genetisch angelegt sind oder biografisch erworben und gelernt wurden.

1.1Jungen und Schule: Daten und Fakten


Achtung, Stereotypenalarm!
Geschlechtervergleiche sind immer mit Vorsicht zu behandeln, weil die Informationen die Wahrnehmung beeinflussen. Damit schaffen sie erst die Wirklichkeit, die sie abzubilden vorgeben. Sie können das Denken in Stereotypen verfestigen und fördern die selektive Wahrnehmung!

Wenn ich neu in eine Schule komme, frage ich oft: Wie ist es denn bei Ihnen, wenn Sie im Lehrerzimmer über Schüler reden, wie groß ist denn der Anteil der Jungen? Immer liegt diese Quote weit über den Mädchen: bei 75 Prozent, meistens bei 80 Prozent oder 90 Prozent. Jungen machen in der Schule Probleme, was an Störungen, Regelverletzungen, an ihrem auch bewegungsfreudigen, »wilden«, verbal-prahlerischen oder kampfeslustigen Verhalten auffällig wird, aber auch an der Wiederholerquote oder bei den Noten; Jungen sind im Durchschnitt während des Unterrichts weniger aufmerksam; Störungen gehen mehr von Jungen aus als von Mädchen, das gilt auch bei Vorfällen außerhalb des Klassenzimmers. Und auch bei Extremen wie der totalen Schulverweigerung sind überwiegend Jungen vertreten (es gibt keine exakte Statistik, geschätzt sind etwa zwei Drittel aller Schulverweigerer männlich).

Neben solchen eher qualitativen Wahrnehmungen in Schulen gibt es eine ganze Reihe harter Fakten und belastbare Daten, die darauf hindeuten, dass es mit Jungen in der Schule oft gar nicht so gut läuft:

  • Bildungsstatistiken belegen seit Jahren den schlechteren Schulerfolg von Jungen. Am Ende (Zahlen: 2015) verlassen 5 Prozent der Jungen, aber nur 3 Prozent der Mädchen die Schule ohne Abschluss. Mit einem Hauptschulzeugnis beenden 14 Prozent der Jungen ihre Schulkarriere, aber nur 10 Prozent der Mädchen. Bei den Realschulabschlüssen liegen Mädchen und Jungen etwa gleichauf. Aber die Abiturquote von Mädchen ist seit 1981 höher als bei Jungen. Fast ein Drittel aller Mädchen (31,8 Prozent) die 2015 die Schule verlassen haben, hatte die allgemeine Hochschulreife; bei den Jungen ist es nur knapp über einem Viertel (25,6 Prozent).

    Während ihrer Schulkarriere werden Jungen mehr »abgeschult«, das bedeutet, dass sie eine Schule mit einem höheren Bildungsziel verlassen müssen. In Hamburg z. B. sind zwei Drittel aller Schüler, die am Ende von Klasse sechs das Gymnasium verlassen müssen, Jungen.

    Auch wenn sie das Abitur schaffen, zeigen sich bei den Noten Unterschiede. In Nordrhein-Westfalen (keine bundesweite Erhebung nach Geschlechtern) lagen z. B. im Jahr 2015 nicht einmal ein Fünftel (19,3 Prozent) der Jungen im Einserbereich (1,0 bis 1,9), aber ein Viertel der Mädchen (25,1 Prozent). Während der Zweierbereich relativ ausgeglichen ist, führen im Dreierbereich jedoch die Jungen mit 30,0 Prozent, während nur 22,5 Prozent der Mädchen in diesem Feld lagen.

  • Jungen sind oft »später dran« als Mädchen, sie scheinen sich im Durchschnitt langsamer zu entwickeln, vor allem sprachlich. Das wurde in Kindergartenstudien belegt und verlängert sich am Übergang in die Schule. Mädchen werden häufiger als Jungen vorzeitig eingeschult; umgekehrt werden Jungen in der Schuleingangsphase mehr zurückgestellt. Kinder mit intensivem Sprachförderbedarf sind häufiger Jungen, was z. B. schon bei Einschulungsuntersuchungen festgestellt wird.

  • Lesekompetenz gilt unter Schulforschern als wichtige Schlüsselqualifikation für den weiteren schulischen Erfolg und Chancen am Arbeitsmarkt. In Deutschland sind die Geschlechterunterschiede bei den schulischen Leistungen im Vergleich zu anderen Ländern relativ hoch, vor allem beim Lesen. Die Studien belegen immer wieder, dass Jungen in der Lesekompetenz schlechter abschneiden als Mädchen: In der aktuellen PISA-Studie aus dem Jahr 2015 wurde bei Mädchen wieder eine deutlich höhere Lesekompetenz gemessen (520 Punkte) als bei Jungen (499 Punkte); mehr Mädchen als Jungen wurden als besonders lesestark getestet, dagegen ist der Anteil der Jungen bei den leseschwachen Schülern höher.

  • Werden Leistungsfragen zunehmend häufiger und regelmäßig untersucht, ist dies für die Einstellung zur Schule und in Bezug auf das Wohlbefinden in der Schule ungleich weniger der Fall. Eine ganze Reihe von Daten belegt, dass Jungen sich in der Schule weniger wohl und aufgehoben fühlen als Mädchen, die Geschlechterunterschiede sind in diesen Statistiken oft noch gravierender: Jungen fühlen sich in der Schule offenbar viel weniger wohl als Mädchen. Nach der IGLU-Studie (Bos u. a. 2005) fühlt sich ein Fünftel der Viertklässler-Jungen in der Grundschule überhaupt nicht wohl (aber nur 7,7 Prozent der Mädchen).

    Ähnliche Hinweise finden sich auch in Bezug auf weiterführende Schulen. Auf die Frage »Wie gefällt es dir derzeit in der Schule« antworten Jungen in der Evaluation eines Modellprojekts durchgängig negativer als Mädchen (Bilz u. a. 2007, S. 38). In der neunten Klasse gefällt es einem Viertel der Jungen in der Schule nicht oder überhaupt nicht.

    In einer Studie zum Wohlbefinden in der Schule in der Klassenstufe acht (Hascher/Hagenauer 2011) wird festgestellt, dass Jungen in vielen Bereichen deutlich belastet sind. In den Dimensionen »Freude in der Schule«, »positive Einstellung zur Schule«, »Selbstwert«, »Sorgen« und auch »körperliche Beschwerden« geben Jungen teils erheblich schlechtere Werte an als Mädchen. Lediglich im Bereich »soziale Probleme« scheinen Jungen weniger belastet.

    So betrachtet ist es kein Wunder, dass viele Jungen nicht gerne in die Schule gehen. Der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen ist hier erheblich: Der Aussage »Ich gehe gerne in die Schule« stimmt nicht einmal ein Drittel (31,8 Prozent) der Jungen stark zu (aber 45 Prozent der Mädchen); dagegen sagt jeder fünfte Junge (20,4 Prozent), dass dieser Satz für ihn überhaupt nicht stimme (aber nur rund 8 Prozent der Mädchen) (IGLU-Daten, Bos u. a. 2005, S. 194).

  • In Jungenaugen wird Schule oft als nicht so wichtig bewertet; Schule hat bei Jungen oft kein so gutes Image. Das heißt nicht, dass Jungen Schule generell ablehnen, etwa mit der Behauptung Schule sei »reine Zeitverschwendung«: Immerhin 85 Prozent der Jungen lehnen diese Aussage völlig ab, aber 94 Prozent der Mädchen. Aber viele Jungen hängen die Bedeutung der...

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