13Einleitung
Die deutschen Besatzer handelten skrupellos und effizient. Ort des Verbrechens waren die Fosse Ardeatine, ein stillgelegtes Bergwerk am südlichen Stadtrand Roms. In dem verschachtelten Tunnelsystem hatte man einst Tuffstein abgebaut. Jetzt hallten Schüsse durch die mit Fackeln schwach ausgeleuchteten Gänge. Draußen in der mittäglichen Frühlingssonne fuhr ein Lastwagen nach dem anderen vor. Auf den Ladeflächen saßen die Gefangenen, insgesamt 335 Italiener, die Hände auf den Rücken gebunden. Bewaffnete SS-Männer trieben sie in Fünfergruppen tief ins Innere der Ardeatinischen Höhlen. Dort mussten sich die Opfer hinknien und wurden mit Schüssen ins Genick getötet. Das Blutbad dauerte Stunden. Es endete erst am Abend. Man schrieb den 24. März 1944.1
Das Massaker in den Fosse Ardeatine gilt als eine der grausamsten Taten, die deutsche Einheiten im Zweiten Weltkrieg auf der Apenninenhalbinsel begingen. Noch heute sind die Ardeatinischen Höhlen der Symbolort für deutsche Kriegsverbrechen in Italien, alljährlich legt der italienische Staatspräsident dort einen Kranz nieder.2 In Deutschland ist das Massaker hingegen weitgehend in Vergessenheit geraten. Auch der Name des Mannes, der den hundertfachen Mord organisierte, ist hierzulande nur noch wenigen ein Begriff: Herbert Kappler. Nach dem Krieg verbüßte der ehemalige SS-Obersturmbannführer und Leiter des Sicherheitsdienstes des »Reichsführers« SS (SD) in Rom eine jahrzehntelange Haftstrafe in einem italienischen Militärgefängnis.3 Sein Fall war ein regelmäßig wiederkehrender Streitpunkt in den deutsch-italienischen Beziehungen. Am 15. August 1977 sorgte Kappler dann für weltweites Aufsehen: Dem Kriegsverbrecher gelang die Flucht aus einem römischen Militärkrankenhaus, nach 32 Jahren in Haft.4
14Kappler war nicht der einzige deutsche NS-Täter, der 1977 noch in westlichem Gewahrsam einsaß. Im niederländischen Breda verbüßten die drei ehemaligen SS-Männer Joseph Kotalla, Ferdinand aus der Fünten und Franz Fischer lebenslange Haftstrafen.5 Ferdinand aus der Fünten, zu diesem Zeitpunkt 67 Jahre alt, hatte als SS-Hauptsturmführer zeitweise die sogenannte »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« (ZJA) in den Niederlanden geleitet und war mitverantwortlich für die Deportation Tausender Juden aus Amsterdam, unter ihnen die Familie Anne Franks. Der ehemalige SS-Sturmscharführer Franz Fischer (76) war Leiter des »Judenreferats« in Den Haag gewesen und Joseph Kotalla (68)6 führender SS-Wachmann im Konzentrationslager Amersfoort. Lange Zeit hatten im Kuppelgefängnis von Breda vier Täter eingesessen: Der ehemalige SS-Sturmbannführer Willy Lages war wegen einer Krebserkrankung bereits 1966 in ein deutsches Hospital im Harz überstellt worden. Kotalla starb 1979, aus der Fünten und Fischer wurden am 27. Januar 1989 begnadigt und entlassen ‒ nach knapp 44 Jahren in niederländischen Gefängnissen.
Während ihrer Haftzeit konnten Kappler und die »Vier von Breda« stets auf Hilfe aus ihrer Heimat zählen ‒ auch von höchster politischer Stelle: Bereits seit Beginn der fünfziger Jahre unterstützte die jeweilige Bundesregierung die Täter in rechtlicher, finanzieller und politischer Hinsicht. Dabei ging das Bonner Engagement, wie ich in diesem Buch zeigen werde, weit über das hinaus, was die Grundsätze des gesetzlich geregelten »Rechtsschutzes« vorsahen, der bis heute jedem Bundesbürger in ausländischem Gewahrsam prinzipiell zusteht.7 Zu einer Zeit, in der NS-Opfer in Deutschland um Anerkennung und vielfach um Entschädigungen kämpfen mussten, übernahm die Bundesregierung für inhaftierte Kriegsverbrecher ohne Zögern übermäßig hohe Anwaltskosten, zahlte monatliche Taschengelder, förderte umfangreiche Sport- und Kulturprogramme und sandte alljährlich zu Weihnachten sogenannte Liebesgabenpakete in die Gefängnisse, gefüllt mit Sardinenbüchsen oder Mettwürsten. Regelmäßig bekamen die Internierten Besuch von westdeutschen Diplomaten.8
15Bis 1989 gingen die rechtlichen und finanziellen Hilfeleistungen zudem mit massivem politischen Druck einher, der sich in Gnadengesuchen und zahllosen Interventionen bundesdeutscher Botschaftsmitglieder bei den zuständigen Stellen in den Haftländern äußerte.9 Auch verging kaum ein bilaterales Treffen auf höchster politischer Ebene, bei dem westdeutsche Bundespräsidenten, Kanzler, Außenminister oder andere Regierungsmitglieder nicht die Amnestie der Täter gefordert hätten.
Das Engagement der Bonner Regierungen für die im westlichen Ausland inhaftierten NS-Täter ist ein bislang größtenteils unbekanntes Kapitel der bundesdeutschen Geschichte. Mit diesem Buch möchte ich diese Lücke schließen. Wie sah die Unterstützung für Kappler und die Vier von Breda im Einzelnen aus? Welche politischen Akteure10 traten jeweils in Erscheinung? Bei der Suche nach Antworten betrachte ich die staatlichen Hilfeleistungen nicht isoliert, sondern stelle sie in einen größeren Zusammenhang: das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur NS-Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht die Leitfrage nach den Beweggründen für die bundesdeutsche Kriegsverbrecherhilfe ‒ und inwieweit diese bis einschließlich 1989 vergangenheitspolitisch motiviert war.
Mit der Bezeichnung »Vergangenheitspolitik« hat Norbert Frei in seiner einflussreichen Studie aus dem Jahr 1996 den bundesdeutschen Umgang mit der »jüngsten Geschichte« und das politische Agieren in der Kriegsverbrecherfrage für die fünfziger Jahre zusammengefasst.11 Frei versteht die Vergangenheitspolitik der Regierung Konrad Adenauers (CDU) als »Prozess der Amnestierung und Integration der vormaligen Anhänger des ›Dritten Reiches‹« bei gleichzeitiger »normative[r] Abgrenzung vom Nationalsozialismus«.12 Sie bewirkte einen weitgehenden Stillstand in der Strafverfolgung nationalsozialistischer Taten. Die politisch-justiziellen Maßnahmen der Bundesregierung entsprachen der damaligen öffentlichen Meinung, in der Mehrheitsgesellschaft waren nationalistische Überzeugungen weit verbreitet.13 Nicht nur Politiker, sondern auch Publizisten und Privatleute forderten einen »Schlussstrich unter die Vergangenheit«14 ‒ und die damit verbundene »Lösung des Kriegsverbrecherprob16lems«.15 Die Vergangenheitspolitik schuf einen stärkeren Zusammenhalt innerhalb der einstigen NS-»Volksgemeinschaft«.
Die Bundesregierung zielte mit ihrer täterfreundlichen Politik nicht zuletzt auf potenzielle Wählerstimmen. Aus diesem Beweggrund besuchte Kanzler Konrad Adenauer im Wahlkampf 1953 inhaftierte Kriegsverbrecher im Zuchthaus Werl.16 Kritik an diesem Vorgehen, etwa von Seiten der linksliberalen Presse, gab es nur vereinzelt.
Ich möchte das Konzept der Vergangenheitspolitik erweitern und den damit verbundenen Phänomenen weit über die fünfziger Jahre hinaus nachspüren. Der von mir in den Blick genommene Zeitraum beginnt mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 und endet mit der Entlassung Ferdinand aus der Füntens und Franz Fischers im Januar 1989, zehn Monate vor dem Fall des Eisernen Vorhangs; er reicht von der Kanzlerschaft Konrad Adenauers über jene Willy Brandts bis hin zur Administration Helmut Kohls. Dieser Längsschnitt durch die Geschichte der Bonner Republik ermöglicht es mir, die Art, wie die wechselnden Regierungen im Dialog mit Interessenorganisationen und westeuropäischen Bündnispartnern mit der deutschen Schuld umgingen, in ein neues Licht zu rücken. Zugleich möchte ich beschreiben, inwieweit sich die Motive und Taktiken der Bonner Vergangenheitspolitik bis 1989 veränderten. Dabei stelle ich historiografische Stichwörter wie Liberalisierung und Wertewandel sowie das westdeutsche Erfolgsnarrativ auf den Prüfstand.17
Die Bonner Stellen begründeten ihr Engagement für inhaftierte NS-Täter stets mit »humanitären« Motiven.18 Zugleich wertete das Auswärtige Amt die Fälle Kapplers und der Vier von Breda als »belastende Hypothek«19 der Beziehungen zu Italien und den Niederlanden.20 In Wahrheit waren diese Gründe zu keinem Zeitpunkt alleinig ausschlaggebend....