1. Gott
Probiert es aus!
Ich verstehe, warum ihr nicht an Gott glauben könnt. Es ist doch kein Wunder. Bei all den korrupten religiösen Gelehrten. Den Priestern mit ihren widerlichen Missbrauchsskandalen und ihren schwulen Callboys. Den kleingeistigen muslimischen Predigern, die junge Frauen belästigen. Ekelhaft diese Doppelmoral, diese Heuchelei. Wer soll die denn noch ernst nehmen können? Hüben wie drüben dasselbe. Wahnwitzige Mullahs mit menschenverachtenden Fatwas, prunksüchtige Bischöfe in ihren Protzbauten. Und dann dieser Aberglaube und dieses weichgespülte Gesülze von der Liebe Gottes bei all dem Leid. Ja, ich verstehe das. Und natürlich: die Kriege im Namen der Religion und die Hexenverbrennung, die Massaker an »Ungläubigen«, der Terror. Wie soll man da noch an einen Gott glauben?
Als Kinder haben viele von euch ja noch geglaubt, dass es einen Gott gibt. Und ihr glaubt ja auch immer noch, nur nicht an Gott: an das Schöne und Gute, an die Gerechtigkeit und die Liebe. Ja, an die Liebe glaubt ihr. An die Liebe wollt ihr glauben. Hormonen und Evolution zum Trotz. Ihr glaubt ja auch an Empathie und Solidarität. An die Kunst und an Bach. An das Universum und dass wir irgendwo alle eins sind, miteinander verbunden. An die Freiheit. An die Vernunft. Und manchmal sogar an eine irgendwie undefinierbare höhere Macht. Nur Gott würdet ihr sie niemals nennen, nein, Gott nicht und Allah schon gar nicht. »Gott« hat vorerst ausgedient, war schon in zu vielen Mündern, hat so einen langen Bart. Da klebt zu viel miefender Ballast dran. Alles, nur nicht Gott. Reaktionärer geht’s wirklich nicht.
Früher, als ihr jung und naiv wart, habt ihr es mal probiert mit Gott. Da habt ihr ein Stoßgebet gesprochen oder ihr habt Ihm einen Deal angeboten: Wenn du dafür sorgst, dass ich die Playstation bekomme, werde ich fromm. Genützt hat das nicht immer etwas. Manchmal, da habt ihr sogar flehend gebetet. Als es euch richtig mies ging. Und als eure Oma im Sterben lag. Aber Gott hat nicht geantwortet, und Oma starb. Und mit Oma starb auch euer Glaube an Gott, der schließlich nicht tut, was ihr Ihm sagt. Und als ihr später in den Nachrichten die schrecklichen Bilder von verhungernden Kindern und ausgebombten Familien saht, habt ihr euren letzten Glauben an einen lieben Gott verloren. Und dann wurdet ihr als Kind auf der Straße verprügelt, einfach so. Wie konnte Gott das zulassen? Ein kleines, unschuldiges Kind! Seitdem ist es endgültig vorbei mit eurem Glauben an Gott. Manchmal, da würdet ihr zwar gerne glauben, aber es geht ja nicht. Für euch ist der Gott eurer Kindertage jetzt tot wie Oma. Manchmal denkt ihr, dass ihr vielleicht einfach religiös unmusikalisch seid, euch fehlen die transzendenten Vibes, sagt ihr. Gott ist einfach nicht euer Ding, zu freaky, zu weit weg. Ich versteh das. Aber irgendwann könntet ihr euch jetzt auch mal vom naiven Gottesbild eurer Kindheit verabschieden und auch erwachsen werden. Denn Gott ist viel größer.
Es gibt diesen Atheisten-Spruch: Ich bin vom Glauben zum Wissen konvertiert. Hört sich besserwisserisch und arrogant an, aber wo sie recht haben, haben sie recht. Wenn ich jemanden nach dem Weg zu einer Quelle frage, weil ich durstig bin, und man antwortet mir: Ich glaube, hinten rechts und dann links, dann wieder rechts und dann viele hundert Kilometer geradeaus – da ist vielleicht eine Quelle. Also, ich weiß nicht. Das scheint eine ziemlich unsichere Angelegenheit zu sein. Und umso länger ich unterwegs bin und umso durstiger ich werde, desto unwohler werde ich mich doch fühlen, wenn ich mir nicht einmal sicher sein kann, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Ja, die Gläubigen »glauben an das Ungesehene« (Koran, 2:4). Das heißt jedoch nicht, dass wir blind glauben sollen, ohne zu verstehen, ohne die Vernunft zu gebrauchen. Wer nichts über Gott weiß und nur mutmaßt, der ist tatsächlich blind. Gott ist ein verborgener Schatz, der entdeckt werden will, heißt es in einer Überlieferung des Propheten Hz. Muhammadsaw. Wir müssen uns jedoch selbst auf die Suche machen, aus freien Stücken.
»Tatsächlich besteht ein großer Unterschied zwischen einem Glauben an Gott und einem Wissen von Gott«, schreibt Hz. Ahmadas. Es gibt drei Formen der Erkenntnis. Du kannst den Rauch sehen und daraus folgern: Da müsste irgendwo ein Feuer brennen. Du kannst auch zum Feuer laufen und es mit eigenen Augen sehen Aber es ist etwas ganz anderes, wenn du das Feuer selbst spürst, seine Wärme fühlst und dich in das Feuer begibst – das ist die maximale Gewissheit, haqq-ul yaqin. Es gibt viele Gläubige, die nur den Rauch sehen und schlussfolgern, dass irgendwo ein Feuer brennt. Sie beobachten und kommen zu dem Schluss: Ja, es müsste Gott geben. Es sollte, könnte, hoffentlich, wäre schön. Damit geben sie sich zufrieden. Was ist das für ein Larifari. Es geht hier schließlich nicht um irgendetwas – es geht um die alles entscheidende Frage: Was ist der Sinn unserer Existenz?
Ich verstehe nicht, woher diese Gleichgültigkeit kommt. Diese unfassbare Entschlossenheit, tiefergehende Fragen nach Gott zu verdrängen, bis man wieder einschlafen kann und sich nicht mehr nachts hin und her wälzt, weil man nicht weiß, woher man kommt und wohin man geht. Warum fehlt auch vielen religiösen Menschen die Beharrlichkeit, dem Rauch mal auf den Grund zu gehen, zu schauen, ob da wirklich irgendwo ein Feuer ist? Das geht nicht in der Theorie oder allein durch viel Nachdenken. Durch Reflexion kommt ihr höchstens zu dem Punkt: Da müsste es Feuer geben, denn ich sehe Rauch. Wollt ihr das Feuer sehen, müsst ihr euch bewegen. Ohne Bewegung, Anstrengung und Praxis läuft da nichts. Wenn ich einen Marathon rennen will, reicht es auch nicht, Laufmagazine zu lesen und Sportschuhe zu kaufen. Das ist für den Einstieg vielleicht motivierend, aber ohne Training kommst du nicht weit. Ohne Praxis und Handeln keine Erfahrung mit Gott, ohne Erfahrung ist Gott nur eine Idee, eine Hülse. Nichts weiter als eine absurde Vorstellung, vielleicht auch nur eine Projektion eurer selbst.
Ich habe den Eindruck, dass ein Großteil derjenigen, die meinen, dass sie Gott anbeten, sich selbst anbeten. Sie beten ihre eigenen Wünsche an. Sie objektivieren Gott aus ihrer subjektiven Sicht heraus und machen ihn zum Gegenstand ihrer eigenen Interessen. Ein Gott, der sich so verhält, wie ich es möchte, ist ein Self-made-God: leicht zu konsumieren und zu vermitteln, aber leider nicht mehr als ein Konstrukt. Ein Gott, auf den die eigenen Maßstäbe und Bedürfnisse übertragen werden, ist nicht echt. So ein Gott ist nur ein Produkt des eigenen Egos. So ein Glaube kann nicht befriedigen. Es geht ihm um Selbstgefälligkeit und Bestätigung eigennütziger Interessen. »Die Wahrheit ist, dass wir den lebendigen Gott unmöglich sehen können, ehe nicht eine Art Tod uns ereilt«, schreibt Hz. Ahmadas. Wenn wir uns ernsthaft auf die Suche nach Gott machen, bedeutet das Geduld, Demut, Reflexion und Streben, bedeutet vollkommene Hingabe und dann Erkenntnis.
Anstrengung. Leidenschaft. Hingabe. Ihr wisst doch sonst, wie das geht. Ich hörte mal eine Profi-Musikerin sagen: Ich habe Gott einen Brief geschrieben, aber keine Antwort erhalten; deswegen glaube ich nicht mehr an Ihn. Ich glaube an die Musik, sie gibt meinem Leben Sinn. Sie spielte seit Jahren Geige. Man stelle sich vor, sie hätte vor Jahren gesagt: Ich habe mir heute eine Geige gekauft und Noten lesen gelernt, aber es hat sich nicht schön angehört. Ich glaube, Musik ist nichts für mich − Wer weiß denn besser, wie wichtig üben, üben, üben ist, als jemand, der wirklich gut in einer Disziplin ist? Das ist, wie wenn jemand, der abnehmen will, sagt: »Ich habe heute weniger gegessen und Sport gemacht, aber ich wiege immer noch so viel wie vorher«, − und der daraus schließt, das ein Leben mit Sport keinen Sinn ergibt. Wie ernst kann man das nehmen?
Dass man dranbleiben muss, stundenlang, wochenlang, monatelang, dass man langsam auf den Geschmack kommt, sich langsam steigert, langsam erste Erfolge sieht, das kennen wir doch aus anderen Bereichen des Lebens. Warum soll es im Glauben und im Gebet zack, zack gehen? Diese selbstgefällige Anspruchshaltung zeigt nur, dass ihr eigentlich keine Lust habt. Ihr sucht nicht ernsthaft, ihr verdrängt die Frage nach Gott lieber. Für das weltliche Leben wird jahrelang gelernt und studiert, trainiert, geübt, geschuftet, geackert und gemacht. Aber wenn es um Gott geht, schaltet ihr in den Service-Modus und fragt nur, was euch geboten wird. Religion soll gute Gefühle machen und für mich da sein, wenn es mir gerade passt. Vornehmlich zur Geburt, beim Heiraten und Sterben. Reduziert auf die Funktion einer kitschigen Duftkerze: sorgt für gute Atmosphäre und die passende Stimmung. Ihr sagt: Ich bete, wenn mir danach ist. Für mich ist Religion jedoch keine Duftkerze, sondern das lebensnotwendige Licht, nach dem ich mich ernsthaft auf die Suche machen muss. Am Anfang steht ein Bedürfnis, ein Entschluss, eine Sehnsucht, ein Ziel. Wer nur trainiert, wenn er Lust hat, wird nie einen Marathon laufen. Woher diese Fastfood-Mentalität, wenn es um den Glauben geht? Gott ist keine Wunschmaschine.
Es geht nicht ohne Anstrengung, ohne Jihad, und Jihad heißt übersetzt nichts anderes als Streben, und zwar in erster Linie im Kampf gegen sich selbst. Dafür brauchen wir Ausdauer und Disziplin, religiös gesprochen Standhaftigkeit und Geduld: »Und diejenigen, die in Unserer Sache bestrebt sind – Wir werden sie gewiss leiten auf Unseren Wegen. Wahrlich, Allah ist mit denen, die Gutes tun.«(29:70). Der Mensch bleibt...