Vorwort
Inklusion – Einhegung, Einschluss. Ein starkes Wort setzt sich durch, als Leitformel und Programm politischer, sozialer und pädagogischer Veränderung. Verlangt wird die Inklusion aller, die Hoffnung gilt einer inklusiven Gesellschaft. Das hört sich gut an, in Verbindung mit den neuen Leitvokabeln, die da lauten: Entwicklung und Teilhabe. Indes: Der Verdacht lautet, dass es weniger darum geht, Menschen einen Platz in einer Gesellschaft zu verschaffen und ihnen eine Möglichkeit zu eröffnen, ihre Lebensform zu finden und sie gestalten zu können, als individuelle Lebensform in einer Gesellschaft. Nein: Alle sollen gefangen, eingeschlossen und hinter die Grenzen einer Gesellschaft verbracht werden, die wohl als die beste alle Welten gelten soll. In der sie dann gut funktionieren sollen.
So recht möchte man das nicht glauben, schon gar nicht will man sich einer solchen Strategie anschließen. Einschließungspraktiken scheinen doch überwunden, spätestens seit der Kritik an den Inkarzerationsprozessen, denen psychisch Kranke ausgesetzt waren und sind. Antipsychiatrie und demokratische Psychiatrie sind zwar in mancher Hinsicht gescheitert, als Kritik des Wegsperrens bleiben sie präsent – sie sollten das wenigstens, wenngleich Skepsis gegenüber der Fähigkeit zur Erinnerung angesagt ist.
Inklusion für alle? Eine Utopie oder eine Dystopie? Könnte es sich um ein totalitäres Denken handeln, wie gut gemeint die Forderung nach Inklusion für jene klingt, die als behindert oder chronisch krank ausgeschlossen wurden oder sich – das markiert eine Differenz – als ausgeschlossen erleben. Gelingt Inklusion überhaupt ohne Exklusion? Wird nicht wieder eine Gruppe festgestellt, festgelegt und kategorisiert, nämlich die der zu Inkludierenden. Wer handelt eigentlich? Die, die doch schon drin sind und jetzt großzügig Inklusion durchsetzen, irgendwie paternalistisch und beruhigend gegenüber jenen, die sich bewusst und laut als Krüppelinitiativen artikuliert haben. Und so ganz nebenbei: Entstehen nicht schon wieder Unterschiede, nämlich zwischen jenen, die inkludiert werden sollen, und den anderen, die sich integrieren sollen? Wie die Geflüchteten, übrigens mit einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen, die behindert, erkrankt, vielleicht traumatisiert sind, von Kriegserfahrungen, Vertreibung, Flucht, Hoffnungen und deren Enttäuschung.
Die Debatte wird generalistisch geführt, tritt als Totalstrategie auf, eindimensional und sozialtechnisch, wenig dialektisch. Sie nimmt nicht die konkreten Subjekte in den Blick, nicht die von diesen erfahrenen Lebenslagen, Lebensformen und Lebenspraktiken, schon gar nicht ihre Subjektivität. Mit ihrem Bezug auf die Menschenrechte hat sie einen universalistischen Anspruch, aber ihr fehlt sogar noch die entscheidende Idee, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, in einer Gesellschaft als Menschen individuell eigenartig und eigenwillig zu wirken. Sie stellt sich kaum der Frage, wie diese Gesellschaft mit ihren Mitgliedern umgeht, die Frage nach einem guten Leben für alle klingt nicht einmal an. Inklusion bleibt abstrakt formalistisch und vereinnahmend, wird vorsichtig zurückhaltend, wenn es um die geht, die sich integrieren sollen. Vor allem: Sie zielt zwar – so zumindest die Lesart mancher – auf eine revolutionär andere politische Form der Gesellschaft, verzichtet jedoch auf eine kritische Untersuchung der gegebenen Gesellschaft. Selbst, wenn man jenen folgt, die die Debatte in den angelsächsischen Ländern gestartet haben und sich – wie Mel Ainscow wohl einmal gesagt hat – angesichts ihrer Dynamik ein wenig ›jetlagged‹ fühlen, selbst wenn man vorrangig pragmatisch und nicht theoretisch denkt, bleibt doch der Vorbehalt: Wie Möglichkeiten und Grenzen einer inklusiven Reform bestimmt sein sollen, wie nicht zuletzt in aller Inklusion die individuell subjektiven Rechte als solche geschützt bleiben. Übrigens auch das Recht, für sich zu bleiben. Und das gilt vor allem dann, wenn Inklusion auf Pädagogik bezogen wird. Mehrdeutigkeit bestimmt alle Pädagogik, macht möglicherweise sogar ihr Spezifikum und ihren herausfordernden Reiz aus. Sie kann nicht in eine Richtung aufgelöst werden – und das markiert wohl ziemlich präzise den Punkt, an welchem sich Pädagogik und Politik, vermutlich auch die Pädagogik und die neueren Spielarten einer Psychologie voneinander scheiden, die auf statistische Evidenz bei der Bestimmung von Problemlagen wie bei der Behauptung von Lösungen für diese abheben.
Inklusion verlangt, kluge Entscheidungen konkret zu treffen, im Bewusstsein darum, dass sie politisches und moralisches Urteilen verlangen, bezogen jedoch auf Individuen und die von ihnen zu wählenden Möglichkeiten der Lebensführung. Das Feld sollte sichtbar werden, in seinen Begrenzungen, auf der einen Seite die Inklusion als Einschluss in das Ganze, auf der anderen Seite die Freiheit und Autonomie der individuellen Subjekte. Hier zeigt sich der sachliche Grund dafür, von einer sozialpädagogischen Auseinandersetzung mit Inklusion zu sprechen. Die sozialpädagogische Perspektive unterscheidet sich jedenfalls von anderen darin, dass sie einerseits die Spannung zwischen gesellschaftlichen Bedingungen menschlicher Entwicklung und individueller Subjektivität und Selbstwahrnehmung zu wahren, wenn nicht sogar in dem Sinne aufzuheben sucht, den Hegel dem Begriff der Aufhebung gegeben hat; das Soziale, sei es in Gestalt der Gesellschaft oder eher der von Gemeinschaft, bleibt ebenso wichtig wie die subjektiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in dem noch sich zeigen, was als eigene Lebensform beschrieben wird. Die eigene Lebensform fügt sich aus Sozialem und Individuellem, aus Natur und Geist – um es in einer Weise zu formulieren, die traditionell wirkt und doch im thematischen Zusammenhang nicht vergessen werden darf; sie entsteht bedingt durch Natur und Gesellschaft, immer im Zusammenhang mit Kultur, niemals aber determiniert, sondern immer aus einem Verhältnis heraus, das Subjekte praktisch gestalten. Sie verhalten sich gegenüber der Welt und gegenüber sich selbst.
Die sozialpädagogische Denk- und Handlungsweise bleibt vorsichtig gegenüber einem Vorrang der Sozialpolitik. Das hat nicht zuletzt einen Grund in dem fundamentalen Wandel, der der Sozialpolitik allzumal aufgrund der irritierenden Denkwechsel seitens der Sozialdemokratie widerfahren ist. Diese ist heute der Garant des falschen Neoliberalismus geworden, fatalerweise in all ihren sozialpolitischen Maßnahmen. Die sozialpädagogische Denk- und Handlungsweise unterscheidet sich zudem darin, dass sie immer Veränderungen, Entwicklungen, mithin Prozesse im Blick hat, nicht bloß auf Strukturen setzt, sondern sich vergegenwärtigt, wie Menschen in diesen und an diesen lernend sich bilden. Sie bleibt der Pädagogik verpflichtet, nicht nur, weil pädagogisches Denken und Handeln das Tun der anderen ermöglichen und ihnen Lebensformen eröffnen möchte, die zu finden sie auf Unterstützung angewiesen sind. Vor allem jedoch: Sozialpädagogik lässt sich von einem durchaus emphatisch gemeinten Begriff des Subjekts und seiner Subjektivität leiten. So manche haben diesen dekonstruiert, einige haben das Subjekt für tot erklärt. Nur: Was bleibt dann eigentlich, um Menschen in ihrer Lebendigkeit, in ihrem Eigenwillen und der Absicht zu begreifen, sich selbst zu erfassen, zu entwerfen, zu bestimmen und zu verwirklichen? Das tote Subjekt, das dekonstruierte Subjekt, sie sind dann wohl Funktionen, vielleicht auch Algorithmen. Daran mag etwas sein. Soll es dabei bleiben?
Das Buch ist in mehrfacher Hinsicht ein Versuch. Ein Versuch, weil die Überlegungen gleichsam neben der Debatte entstanden sind, diese immer wieder kommentierend. Statt die Thematik einzuengen, sich zu fokussieren, das Problem auf den Punkt zu bringen, will das Buch Rahmungen anbieten. Dafür arbeitet es pointillistisch und nennt viele Punkte, an die eben zu denken wäre. Es versucht, vergleichsweise breit angelegt und zuweilen assoziativ Überlegungen anzustellen, die das Thema rahmen und diskutieren; man kann sagen, dass es Teil eines hermeneutischen Prozesses wurde, der das Geschehen zu verstehen suchte und sucht. Deshalb mäandriert es manchmal, in Bereiche hinein, die man nicht erwarten würde. Das ist Absicht.
Das Buch will also Denkmöglichkeiten für eine Hermeneutik eröffnen, die man verwerfen kann. Immerhin geht die Debatte täglich weiter. Deshalb hat das Schreiben viel länger gedauert als erwartet, am Ende war es gar nicht so recht abzuschließen. Ich bin überhaupt nicht sicher, ob ich ihm und seinen Gedanken morgen noch zustimmen werde. Es kann sein, dass mich jemand überzeugt, die Akzente demnächst anders zu setzen, andere Perspektiven zu sehen. Erstaunlicherweise finde ich das erfreulich, weil es zeigt, wie wir alle in einem Prozess der Veränderung des Denkens und Handelns stehen. Nicht leugnen kann es einen normativen Anspruch: Es geht mir allerdings darum, darüber nachzudenken, wie allen Menschen die Möglichkeit eröffnet werden kann, sich gut zu entwickeln, vor allem das Maß an Subjektivität und Autonomie zu finden, das...