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Entwicklungsbereiche
Dieses Kapitel ist ausgewählten Bereichen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Hörschädigung gewidmet und gibt Einblick darin, inwiefern eine Hörschädigung diese Entwicklungsbereiche beeinflussen kann. Es sensibilisiert für die Lebens- und Lernsituation betroffener Schüler und untermauert die in Kapitel 3 und 4 ausgeführten pädagogischen Maßnahmen zur Organisation und Durchführung hörgeschädigtenspezifischen Unterrichtes.
Zunächst wird die Hör- und Sprechentwicklung abgehandelt und der enge Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungsbereichen herausgestellt ( Kap. 2.1). Dem folgen Ausführungen zum Lautsprach- ( Kap. 2.2) und Gebärdenspracherwerb ( Kap. 2.3) sowie zum Thema Mehrsprachigkeit, in dem sowohl auf Bilingualität als auch Bimodalität eingegangen wird ( Kap. 2.4). Im Abschnitt zum/zur Schriftspracherwerb/-kompetenz ( Kap. 2.5) werden die produktive und perzeptive Seite sowie der Unterschied zwischen Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit berücksichtigt. Ausführungen zur kognitiven ( Kap. 2.6) und psychosozialen Entwicklung ( Kap. 2.7) von Schülern mit Hörschädigung runden dieses Kapitel ab.
2.1 Hör- und Sprechentwicklung
Kirsten Ludwig/Thomas Kaul
Die Funktion des Innenohres ist angeboren und entwickelt sich unabhängig von äußeren Reizen. Auch der Erwerb der Hörfähigkeit ist über ein genetisches System festgelegt, benötigt jedoch zwingend den Einfluss von Hörreizung. Diese geschieht bereits pränatal, so dass das Gehör schon vor der Geburt physiologisch aktiv ist. Mit der Geburt sind auch spezialisierte Detektorsysteme zur Sprachanalyse im Gehirn angelegt. Das Hören ist zu diesem Zeitpunkt noch kein bewusster Vorgang, hierzu sind nach der Geburt wesentliche Entwicklungen notwendig.
In der Säuglingsphase finden entscheidende Reifungsprozesse des Hörapparates statt, die wiederum von ausreichend akustischer Stimulation abhängen und auf Grund einer Hörschädigung massiv beeinträchtigt sein können. Hinsichtlich der Sprachanalyse werden die angelegten Detektorsysteme durch das Hören einfacher »Konsonant-Vokal-Kombinationen, Frequenzänderungen, Schallanfang und -ende aktiviert und trainiert« (Spreng o. J., 8). Die typischen präverbalen Sprachmuster, die Eltern in der Kommunikation mit ihrem Baby zeigen, sind ideal für diese Sprachanalyse beschaffen, beispielsweise durch eine langsamere Sprechgeschwindigkeit, längere Pausen, klare Segmentation und einen insgesamt größeren Frequenzbereich mit extremen Maxima und Minima (Szagun 2013, 37).
In den ersten Lebensmonaten kann ein gut hörendes Kind sämtliche Phoneme aller Sprachen auditiv voneinander unterscheiden. Diese allgemeine Fähigkeit geht zum Ende des 1. Lebensjahres verloren und spezifiziert sich auf die Phoneme, die in der Muttersprache unterschieden werden (Kral 2009, 10). Es entwickelt sich eine sprachspezifische kategoriale Wahrnehmung: »Damit wir die auditorischen Reize unterschiedlichen Ursachen zuordnen und so die auditorischen Objekte konstruieren können, müssen wir von der natürlichen Varianz der Umwelt abstrahieren« (Kral 2012, 31). Für die Spracherkennung ist dies immens wichtig, da beispielsweise ausgehend von der enormen Varianz von gehörten Phonemen gelernt wird, nur die Parameter zu abstrahieren, die für die Unterscheidung der Phoneme wesentlich sind.
Dies wirkt sich wiederum auch auf die Produktion gesprochener Sprache aus. Kinder mit Hörschädigung sind bereits hier in ihrer Sprechentwicklung gefährdet, denn was nicht gehört werden kann, kann später nicht auf natürlich imitativem Weg (ohne pädagogisch-therapeutische Förderung) gelernt werden. Je nach Art und Grad der Hörschädigung entwickeln die Kinder einen mehr oder weniger vollständigen Lautbestand. Durch eine frühzeitige Benutzung der Sprechbewegungsorgane werden die Bewegungsabläufe eingeübt und internalisiert.
Die Entwicklung des Gehörs ist aufs Engste mit der Entwicklung der Stimmgebung und des Sprechapparates verbunden. Dies zeigt sich im Lallen des Babys, das sich mit der Reifung des Hörsystems charakteristisch verändert (Klinke 1998, 88). Etwa im 3. bis 4. Lebensmonat produziert das Baby in der ersten Lallphase erste sprachrelevante Laute. Es beginnt, Vokale zu bilden, und experimentiert mit den Bewegungsabläufen, was mit entsprechenden Berührungs- und Bewegungsempfindungen im Mund- und Rachenbereich einhergeht. Die Rückkopplung erfolgt zunächst über das Fühlsystem als taktil-kinästhetische Wahrnehmung. Die Empfindungen werden lustvoll erlebt und wiederholt. Diese Phase ist auch bei Kindern mit Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit zu beobachten, wobei Säuglinge mit hochgradigem Hörverlust bereits hier auffällig sind, da sie weniger intensiv und variantenreich lallen. Später erfolgt die Rückkopplung über die vorbewusste auditive Eigenwahrnehmung, die zur Aktionswiederholung führt, »mit dem Ergebnis nicht nur eines quantitativen Zuwachses des Lallens, sondern auch der zunehmenden qualitativen Differenzierung. Das Ausbleiben dieses Phänomens ist folglich ein dringlicher Hinweis auf eine Störung dieses auditiven Regelkreises« (Kruse 2014, 246) bedingt durch eine periphere oder zentrale Hörschädigung.
In der zweiten Lallphase, etwa zwischen dem 6. und 8. Lebensmonat, erfolgt die Rückkopplung über die auditive Fremdwahrnehmung. Das Kind lernt, dass auch andere Schall produzieren, und zwischen ihm und seinen Bezugspersonen entstehen Lalldialoge. Per Nachahmung produziert das Kind Lautkombinationen, die in der Muttersprache vorkommen. Sie lernen zu dieser Zeit, Konsonanten und Vokale zu Silben oder Silbenketten nach Zeitmustern der Muttersprache zusammenzuschließen und zu kombinieren (kanonisches Babbeln). Dabei beginnen sie gleichzeitig zu lernen, die Artikulationsorgane aufeinander abzustimmen. »In dieser Phase entwickeln sich die phonologischen Kategorien« (Kral 2012, 29), was entscheidend von der Hörerfahrung abhängig ist.
Babys mit unversorgter Hörschädigung verstummen in der zweiten Lallphase je nach Grad des Hörverlustes mehr oder weniger, denn die eingeschränkte auditive Rückkopplung verhindert, sich als Geräuschquelle erleben zu können und immer wieder erleben zu wollen. Das zieht nicht nur eine geringere Lautproduktion, sondern auch eine Verringerung der Lautkombinations- und Artikulationsübung nach sich. Masataka (2006, 56) berichtet für Kinder mit Hörschädigung von mitunter elf- bis 49-monatigen Entwicklungsverzögerungen und davon, dass die Kinder generell weniger babbeln und ihr Phonemrepertoire weniger variantenreich ist als das gut hörender Kinder.
Bei gut hörenden Kindern wird im Weiteren die audio-phonatorische Rückkopplung als Basis zum komplexen Sprechenlernen ausgebaut (Spreng o. J., 9). Ihre ursprüngliche Fähigkeit zur nicht-muttersprachlichen Phonemdiskrimination geht gegen Ende des 1. Lebensjahres verloren (Klinke 1998, 89).
Phonematisches Hören oder auch phonematische Differenzierungsfähigkeit ist Voraussetzung, die einzelnen Phoneme in der gesprochenen Rede deutlich heraushören und voneinander unterscheiden zu lernen. Hörschädigungen führen dazu, ähnlich klingende Laute (z. B. b/p, p/pf, k/g) nicht klar diskriminieren zu können. Besonders deutlich und nachteilig zeigt sich eine Schwäche in der phonematischen Differenzierung beim Erlernen der Schriftsprache. Dann bereitet die Phonem-Graphem-Zuordnung und Verschriftlichung auch sehr lautgetreuer Wörter den Schülern Schwierigkeiten ( Kap. 2.5).
Die Hörentwicklung bis zum 2. Lebensjahr ist durch Stabilisierung des Gelernten, Detailausreifung und Steigerung der Verarbeitungsgeschwindigkeit gekennzeichnet. Hinsichtlich Lautspracherwerb und späterem Schriftspracherwerb sind die Verbesserung der Frequenzwahrnehmung und die Entwicklung der phonematischen Differenzierungsfähigkeit bedeutsam. Letztere geht mit der Entwicklung höherer kognitiver Leistungen einher und ist von der Qualität und Quantität des sprachlichen Inputs seitens der Erwachsenen abhängig (Spreng o. J., 14).
Für die Sprechentwicklung ist die Ausbildung der taktilen Rückkopplungssysteme entscheidend, die Informationen über die Sprechmotorik und Konfigurationen im Ansatzrohr (z. B. Lippen, Zunge, Gaumen) rückmelden. Ebenso müssen sich Verknüpfungen mit dem Atemzentrum sowie der Atemmuskulatur etablieren (ebd., 13f.).
Bis zum 6. Lebensjahr ist das Gehör gut hörender Kinder zunehmend in der Lage, Störgeräusche zu unterdrücken, und sie lernen das Lauschen. Durch...