EINE EINFÜHRUNG IN DIE WELT DER HORMONE UND MIKROORGANISMEN
Werden wir jetzt einmal ganz allgemein. Wir haben weiter oben den Begriff der Kaltblütigkeit verwendet. Er zeigt, dass man schon vor Jahrhunderten verstanden hat, dass sich unser Lebenssaft unter Belastungsbedingungen »erwärmen« kann und man dabei kämpferischer und leidenschaftlicher wird, dass es dabei aber schwierig sein kann, »die Nerven zu bewahren«. Leidenschaft dient oft dem Zweck der Fortpflanzung. Wenn wir von einem »heißblütigen« Mann sprechen, verengt sich der Blick automatisch auf die Geschlechtsaktivität. Der Treibstoff für diese Heißblütigkeit ist etwas, das den Körper tatsächlich stärker wärmt, ein Cocktail von Botenstoffen im Gehirn und im Blut. Der Begriff »Hormaos« aus dem Altgriechischen bedeutet »ich treibe an« und tatsächlich ist es so, dass Hormone Körperstrukturen aktivieren, also antreiben. Dabei kann der »Heißblütige« aber auch auf ein »kaltes« Gegenüber stoßen, das sich von seinen Anmutungen nicht erregen lässt – und der Grund dafür ist, dass dieses Gegenüber derzeit keine vergleichbaren Hormonflüsse erlebt. Man hat schon im Altertum erkannt, dass da im Blut etwas sein muss, das diese Wirkung erklärt, aber es dauerte eine Weile, bis man begriff, dass manche kleinen Drüsen, die keinen offensichtlichen Drüsengang haben, ihre Produkte ins Blut abgeben, und dass diese Drüsen Hormondrüsen sind, die einen »besessen« oder »warmblütig« machen.
Über endokrine Drüsen (griechisch; endo: innen; krinein: abscheiden) spricht man erst seit dem 19. Jahrhundert und seither basteln wir am Verständnis eines endokrinen Systems. Wir stellen uns vor, dass Hormone aus bestimmten Gründen abgegeben werden, dass sich alle Hormonflüsse rationell erklären lassen und dass das richtige Funktionieren dieses Hormonsystems Gesundheit anzeigt. In den letzten Jahrzehnten ist diese Überzeugung ins Wanken geraten. Das hängt einerseits damit zusammen, dass wir es nicht nur mit einigen wenigen Botenstoffen zu tun haben, die miteinander hierarchisch verschaltet sind, sondern stattdessen mit einer großen Vielfalt. Es war anfangs ein einfaches gedankliches System, in dem das Gehirn die Hormondrüsen steuert und Krankheiten des Hormonsystems sich daran erkennen lassen, welche Hormonspiegel man gerade im Blut bestimmen kann. Diese Betrachtungsweise ist nicht obsolet geworden, doch sie hat mittlerweile durch die Wissenschaft so viele Ergänzungen erfahren, dass sie hoch komplex ist. Wir ahnen, dass es wahrscheinlich 1000 Hormone gibt, und kennen heute nur etwa 100 davon genauer und können ihre wichtigsten Funktionen abschätzen.
Wenn wir hier ein Hormon betrachten, beispielsweise das Trijodthyronin der Schilddrüse, das als »das« aktive Schilddrüsenhormon schlechthin bekannt war, wissen wir heute, dass es mindestens 27 solcher Hormone gibt, die dem Trijodthyronin sehr ähnlich sind, mit ihm gemeinsam ausgeschieden werden und dessen Wirkung hemmen oder unterstützen können. Ähnlich komplex sieht es in der Nebenniere und überall sonst aus, wo die Forschung hinblickt. Wir kennen auch das Zusammenspiel der bekannten Hormone nur annähernd und wir verstehen auch häufig nicht, was es bedeutet, wenn Hormonspiegel im Blut schwanken. Wir wissen, dass das mit Biorhythmen zu tun haben kann, die von einer nicht genau bekannten Entität im Körper gesteuert werden, aber es kann sich auch um andere Ursachen handeln, darunter auch krankhafte. Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit ist besonders im Bereich des Hormonsystems immer verschwommener geworden, so sehr, dass normale Werte nicht unbedingt Gesundheit anzeigen müssen und von der Norm abweichende Laborwerte auch nicht unbedingt Krankheit. Beides kann in der Komplexität der Regelung entstehen und der Ausgang und die Bedeutung für den Menschen und seine Gesundheit sind oft ungewiss.
Das heißt nicht, dass wir die Leistungsfähigkeit des Hormonsystems nicht einschätzen können. Wer vital ist, hat beispielsweise ein gutes Hormonsystem und wird weitgehend Normwerte aufweisen. Es geht also bei der Beurteilung sehr darum, wie es einem geht. Wenn es Ihnen gut geht und Sie Ihr Leben kraftvoll leben können, wenn Sie mit den Belastungen des Lebens gut zurechtkommen, guter Stimmung sind und auch in etwa so alt aussehen, wie Sie biologisch sind, dann kann man mit Sicherheit sagen: Ihr Hormonsystem funktioniert. Da hat es weniger Bedeutung, wenn manche Laborwerte abweichen oder man einen »Knoten« in der Schilddrüse gefunden hat. Ebenso kann man über ein Sammeln von Beschwerden, die Sie vielleicht haben, Hinweise darauf finden, ob das Hormonsystem gestört ist und wo diese Störung vorliegt. Es gibt hier typische Beschwerden für die drei großen Hormondrüsen Schilddrüse, Nebenniere und Eierstock bzw. Hoden. Eine wichtige Möglichkeit der Beurteilung liefert uns auch der Hypothalamus, dessen Tätigkeit darauf abzielt, über Stimulierung der Hormondrüsen Homöostase herzustellen, also ein Gleichgewicht im inneren Milieu. Zwei der dabei beabsichtigten Resultate können gemessen werden. So liegt die Temperatur des Körpers, im Mund gemessen, bei gesunden Menschen bei etwa 36,8 Grad Celsius, mit einer Schwankungsbreite von einem halben Grad. Ist das Hormonsystem gestört und sind Schilddrüse, Nebenniere und Geschlechtsdrüsen zu schwach, verhallt der Befehl des Hypothalamus ohne Wirkung und dann schafft es der Körper nicht, diese Solltemperatur einzustellen. Auch der Blutdruck des Körpers sollte von der hormonellen Steuerung aus in einem Bereich um 120/70 gehalten werden, und zwar auch unter Belastungsbedingungen.
Man kann diese Anzeichen eines funktionierenden Hormonsystems gut und bequem zu Hause überprüfen. Wenn Sie morgens im Bett aufwachen und den Blutdruck messen, dann bekommen Sie hier ein Maß für den Blutdruck während des Liegens und im Ruhezustand des Schlafs. Wenn Sie jetzt aufstehen, ist das eine große Veränderung für den Körper, und wenn der Füllungsdruck der Adern nicht stimmt und ein Ungleichgewicht im Volumenmanagement besteht, fällt der Blutdruck deutlich ab, und zwar bereits in einer Zeitspanne von einer halben Minute. Auch hier haben Sie einen klaren Hinweis, dass die Nebenniere die Anweisung des Hypothalamus und der dazwischen geschalteten Hypophysenicht befolgen kann, Homöostase herzustellen. Blutdruck – und auch Temperatur – kann jeder messen und wenn er dabei auf Normalwerte stößt, kann das großes Selbstvertrauen wecken in Bezug auf den Hormonhaushalt und die Fähigkeit des Körpers, unzählige Botenstoffe sanft zu regulieren, wo es notwendig ist, und in anderen Bereichen einzugreifen, wenn eine Über- oder Unterfunktion bestimmter Drüsenzellen eingetreten ist. Es gibt jedoch auch andere Ebenen der Homöostase wie die Regelung des Säure- und Basenhaushalts oder des Sauerstoff- und Stickstoffgehalts im Blut, die in Eigenmessung viel mühsamer bestimmt werden können. Hier hilft eine ärztliche Untersuchung, denn mit Laborwerten lassen sich das Hormonsystem und seine Funktion auf andere Weise darstellen. Doch hier gibt es oft zirkadiane Rhythmen, die beachtet werden müssen, oder Fehlbestimmungen verschiedener Ursachen können die Werte auch mal verfälschen.
Das Interessante: Den »Körper« als Organismus, als Einheit, wie man das früher definiert hat, gibt es gar nicht. Stattdessen haben wir hier nach heutigen Erkenntnissen einen riesigen Vielzeller mit etwa 40 Billionen Zellen, die alle aus einer einzigen Ursprungszelle abstammen und die dieser Vielzeller mit seinen eigenen Hormonen zu regulieren versucht. Er kann das aber nur in enger Abstimmung mit etwa 60 Billionen einzelnen Zellen, die auf seinen inneren und äußeren Oberflächen leben, und die jede für sich ein Individuum darstellen, das mitreden will. Dies geschieht auch über Botenstoffe. Zum Großteil sind es Bakterien, die über die Produktion von Botenstoffen mit dem Vielzeller Mensch kommunizieren und ihn beeinflussen wollen. Diese Botenstoffe sind ebenso Hormone und teilweise machen sie sich sogar Hormondrüsen des Vielzellers zunutze, übernehmen also sogar die Rolle einer Steuerzentrale, wie es der Hypothalamus ist. Zumindest gilt das für niedere Lebewesen. Die Forschung hat hierfür in der Pflanzenwelt eindrucksvolle Beispiele gefunden. Rhizobakterien, die auf Tomaten leben, bilden beispielsweise Trehalose, und diese veranlasst die Pflanze, Hormone zu bilden, mit denen mehr Wasser zurückgehalten wird. So überlebt die Tomatenpflanze in Dürreperiode und mit ihr die Rhizobakterien. Es ist quasi eine Zweckgemeinschaft oder Fahrgemeinschaft, bei der aber der Beifahrer ans Steuer geht. Vergleichbar ist es mit dem Gehirn eines Säugetiers in einer Durstperiode, das mit der Bildung des sogenannten adrenocorticotropen Hormons (ACTH) die Nebenniere dazu bringt, Aldosteron zu bilden, das an der Niere Wasser einspart.1 Die Bakterien werden hier zur Herrscherschicht über die Pflanze, die sie besiedeln, und machen sich die Pflanze untertan.
Auch wir sind dem Willen der Bakterien, die unseren Darm besiedeln, zu einem gewissen Grad ausgeliefert. So kann es geschehen, dass Sie Lust auf Süßes haben, wenn Pilze in Ihrem Darm leben, und das vor allem darum, weil diese Pilze gerne Zucker essen. Der Pilz teilt uns sein Begehren über Botenstoffe mit, die ins Gehirn gehen und es dazu anregen, die Aufnahme von süßen Nahrungsmitteln in Betracht zu ziehen. Die Anzahl an Botenstoffen, die so ein Bakterium ausschütten kann, ist noch nicht bekannt, ebenso wenig wie die genaue Anzahl der Botenstoffe unseres Gehirns, die derzeit auf etwa 100 geschätzt werden. Aber was bekannt ist: Je ähnlicher diese Botenstoffe unseren eigenen Botenstoffen sind, die im Blut kursieren, desto stärker ist auch die Wirksamkeit. Und diese Botenstoffe übermitteln nicht nur Information, sie verändern sie auch. In unserem...