Eingang
Herausgelockt. Endlich kann ich die zähe nasskalte Düsterkeit der langen dunklen Monate abschütteln, die Knospen öffnen für das, was die neue Zeit bringen mag. Leichtfüßig schreite ich den vom Winter gezeichneten Weg entlang. Zarte Düfte der aufkeimenden Natur dringen in meine Nase, erwecken die Lust auf mehr. Mehr Zeit draußen zu verbringen, mehr Licht und Grün einzuladen, das Dunkel und die Kälte eine Zeitlang aus dem Leben zu verbannen. Beschwingte Heiterkeit liegt in der Luft. Ob auch die Pflanzen sich freuen, endlich wieder ihr grünes Kleid präsentieren zu dürfen? Ob daher die Leichtigkeit rührt, die mich umgibt? Ich kann sie spüren, diese heitere Beschwingtheit, so als würde ich mit jedem Atemzug ein wenig Helium einatmen. Es lässt mich meinen Weg entlang schweben. Die Natur – erwacht zu voller Pracht reißt mich förmlich mit. Ich finde ihre Kraft in mir, könnte Bäume ausreißen oder ihnen einfach beim Wachsen zuschauen. Ich entscheide mich für das Zweite und finde sogleicheine Parkbank, die mich zum Verweilen einlädt. Noch ist die Sonne nicht kraftvoll genug, um mich in den Schatten zu zwingen. Mich ihr entgegenreckend genieße ich das wohlige Gefühl, von angenehmer Wärme umhüllt zu sein. Zarte Wölkchen an einem blassblauen Himmel fangen meinen Blick. Im leichten Blau könnte ich versinken. Versonnen betrachte ich das langsame Schweben des wattegleichen Weiß, gebe mich meinen Gedanken hin, schließe sie den Wolken an und spüre, wie die Friedlichkeit des Dahingleitens auch eine tiefe Ruhe in mir hervorbringt. Frühlingshafte Wonne gepaart mit gleichförmiger Gelassenheit. Ein sich langsam näherndes Abrollgeräusch auf dem Kiesweg holt mich sanft zurück. Ein älterer Herr schiebt seinen Gehwagen auf der Mitte des Parkweges vor sich her. Auch ihn hat möglicherweise die Sonne herausgelockt. „Wie schön“, denke ich, „sicher möchte auch er sich an der aufkeimenden Natur erfreuen.“ Mit zum Boden gerichtetem Haupt geht er unsicheren Schrittes seinem Vehikel hinterher. Mir scheint, als müssen sich seine Füße erst wieder an die ungewohnte, außerhäusliche Belastung gewöhnen. Das Betrachten des alten Mannes setzt eine liebevolle Bewegung in meinem Herzen frei und macht mir zeitgleich die Vergänglichkeit meines eigenen Seins bewusst. Ich schaue ihn an. Der Kies knirscht erneut. Rollgeräusche dringen an mein Ohr und nähern sich stetig -Gesprächsfetzen – ein Lachen. In gemäßigtem, nicht forschem Tempo überholen zwei vom Frühling beschwingte Radfahrer den Langsamen. „Könnt ihr denn nicht aufpassen? Immer diese Raserei!“, zetert der Alte sogleich. „Die haben auch keine Achtung mehr vor dem Alter!“, brummelt er, während er sich die letzten mühevollen Meter zur Nachbarbank erkämpft. „Oh“, denke ich, „das Alter trägt schwer!“ Auf mein Ohr hoffend, verfällt der Eingeschränkte in einen deutlich vernehmbaren Monolog über all das, was ihm auf der Welt missfällt. Nicht achtend dessen, was ihn umgibt, schimpft er beständig weiter. In Ermangelung eines gleichgesinnten Ansprechpartners verklingen langsam seine Ausführungen und auch er gibt sich der naturuntermalten Stille hin. Ein zarter Lufthauch trägt herausforderndes Gezirp an meine Ohren. „Oh, sie unterhalten sich“, denke ich. Ob auch sie sich freuen, sich gegenseitig ihre frühlingshafte Begeisterung zuzuträllern. Ich lausche, gebe mich ihrer Melodie hin. Für einen kurzen Augenblick glaube ich, ich könne sie verstehen, möchte gerne ein Teil ihres Gespräches sein, ihnenauch von mir etwas erzählen. Doch mein Verstand bremst mich aus: Du bist ein Mensch, du kannst doch gar nicht fliegen! „Wie schade“, denke ich! Dabei würde ich doch so gern die Welt aus anderen Augen sehen. Hoch oben kreisen, um meinen Horizont zu erweitern, neue Perspektiven einzunehmen, meine Sichtweisen zu verändern. Einmal von oben auf das Leben schauen, seinen Sinn und Zweck neu entdecken.
Kindergeschrei reißt mich aus meinen Höhenflügen. Zum noch laubfreien Baum, der förmlich zum Klettern einlädt, rennen, gefolgt von der Obacht gebenden Mütterschar, eine Horde Knirpse. Mit Leichtigkeit erklimmt einer schon bald eine beachtliche Höhe, andere nesteln haltsuchend im unteren Geäst des kraftvollen Gewächses. Sorgenvolle Blicke sind auf die gerichtet, die sich außerhalb der Griffweite der hinaufstarrenden Mütter befinden. Ermahnungen, Rückrufe, aber auch Ansporn sind ihren Zurufen zu entnehmen. Schnell findet jedes der Kinder einen Platz auf dem Baum und die Situation beruhigt sich. Einige sind auf den Boden zurückgekehrt. Sie spielen Fangen um den Baum herum, während die sicheren Kletterer sich mit ihren Konkurrenten wetteifernd noch höher hinauftasten. Ich bin stiller Beobachter, niemand beachtet mich, selbst der Alte hat die Ruhe in sich gefunden. „Bin ich schon mit der Natur, der Bank verschmolzen?“, geht es mir durch den Kopf. „Sicher nicht, denn sonst würde ich nicht das harte Holz der eher unbequemen Parkbank in meinem Rücken spüren.“ Meine körperliche Wahrnehmung rückt in den Hintergrund, denn ein neues Geschehen bindet meine Aufmerksamkeit. „Das ist ja spannender, als fern zu sehen“, denke ich, „was für eine Vielfalt!“ Ein Rascheln in der Hecke, kratzende Schritte, eine kleine schwarze Nase ist das Erste, was sich in mein Blickfeld drängt. Es folgt ein weißer, flauschiger Körper auf vier Beinen. „Fuchur, der Glücksdrache“, ein Erinnerungsbild an die unendliche Geschichte schießt durch meinen Kopf. Verzückt stelle ich fest, dass das weiße Fellknäuel ihm verblüffend ähnlich sieht. Seinem wichtigsten Organ folgend, lässt sich der Vierbeiner vom ansprechenden Duft seiner zahlreichen Vorgänger leiten. Völlig versunken in seiner Welt gleitet sein Riechorgan den Boden entlang. Er verharrt kurz, um sich gleich wieder fortreißen zu lassen. Am anderen Ende der schwarzen Leine hängt ein junges Mädchen. Auch sie scheint tief versunken zu sein. Völlig eingetaucht in eine Welt, die ihre Aufmerksamkeit vollständig absorbiert, versinkt sie förmlich in ihrem Smartphone und lässt sie sich von dem Hund durchs Leben ziehen. „Ob sie wohl in ihrem Handy die von anderen Menschen eingefangenen und hochgeladenen Frühlingsimpressionen anschaut und sich an ihnen erfreut?“, frage ich mich. Es ist ihre Entscheidung und somit immer die richtige Wahl. Auch ich habe die Wahl und so besinne ich mich zurück, schließe meine Augen und lausche dem Vogelkonzert. Lasse mich von dem melodischen Zwiegesang in eine andere Welt hineintragen.
Als ich nach einer zeitlosen Dauer meine Augen wieder öffne, erblicke ich, wie sich in unendlicher Langsamkeit zwei Gestalten nähern. Sich das Leben in winzigen Schritten erschließend, erkundet ein kleines Mädchen die Welt an der Hand der geduldigen Oma. Den kurzen Zeigefinger in die Luft gestreckt, scheint ihre Neugier grenzenlos zu sein. Leise dringen auch ihre Fragen an mein Ohr. „Datt denn?“, fragt die Entzückte die Oma. „Ein Vogel – eine Blume – ein Baum“, antwortet die Geduldige. In der unnachahmlichen Art, wie nur kleine Kinder sich bücken können, nimmt das Mädchen einen Kiesel in die Hand und betrachtet ihn von allen Seiten. Wie einen Rohdiamanten wendet sie ihn vor ihren alles aufsaugenden Augen. In einem unachtsamen Moment der Älteren verschwindet der Stein im Mund der Erforschenden. „Mit allen Sinnen wahrnehmen“, geht es mir durch den Kopf. Als die Oma, die üblichen „Ihh“ und „Bah“ Laute ausstößt, kann ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Nach einigem Hin und Her wird die steinerne Errungenschaft widerwillig gegen einen Keks ausgetauscht. „Ausgetrickst“, denke ich. Stolz die Leckerei in Händen haltend, wird die Erkundungstour im Kinderwagen sitzend fortgesetzt. Alle sind zufrieden – ich auch. Die Zeit rinnt dahin, ich habe das Gefühl für sie verloren. „Habe so viel gesehen und doch nichts erlebt, dabei intensiv gelebt“, denke ich. Verspüre keinen Drang, meinen Platz zu verlassen, Dinge zu tun, die vermeintlich wichtiger sind als das, was mir der Moment zu bieten hat. Ob jemand meine Sicht teilt? Sich wie ich am Kleinen erfreuen kann? „Braucht es immer die großen Reize, die spektakulären Geschichten, um etwas zu erzählen?“, durchstreift es meinen Kopf. Meine Gedanken haben mich wieder auf ihre Seite gezogen. Ich bin mir ihrer bewusst. Sie ziehen lassend richte ich meinen Blick in die Ferne.
Gekicher holt mich ins Hier zurück. Die fest ineinander verwobenen Hände nehme ich als erstes wahr. Sich albern neckend, tänzelt ein Liebespaar den Weg entlang. Als würde ich einen mit Liebe gefüllten Raum betreten, wird auch mein Herz...