Vorwort
Viel habe ich Flüchtlingen bisher nicht geholfen. Dafür gab es Gründe, wahrscheinlich keine besonders guten. Einmal habe ich es doch getan. Meine Kirche hatte ein altes, zum Abriss vorgesehenes Verwaltungsgebäude wieder in Betrieb genommen, um Flüchtlingen, die am Hamburger Hauptbahnhof gestrandet waren, eine Übernachtung zu bieten. Für eine Spätschicht hatte ich mich eingetragen. Junge Leute, die alles organisierten, wiesen mich ein, gaben mir eine signalorange Helferweste und stellten mich in den Speisesaal hinter einen riesigen Suppentopf. Der Saal war eilig und billig eingerichtet worden. Getränkekisten mit Brettern darauf dienten als Tische und Bänke. Ich wärmte die Suppe auf und kochte Tee. Dann kamen die Busse, einer, zwei, drei – bis nach Mitternacht, und brachten Menschen: Familien mit kleinen Kindern, junge Männer einzeln und in Gruppen, dunkel und ärmlich gekleidet, zu dünn für den Winter. Einen inneren Widerstand musste ich anfangs überwinden, dann ging es. Die Suppe, die Bananen, der Tee wurden höflich angenommen. Sprechen konnten wir nicht miteinander. Irgendwann fiel mir auf, dass ich hier schon einmal gewesen war. Damals war der Saal nicht mit Getränkekisten und Brettern, sondern mit einem schweren langen Tisch und mächtigen Stühlen möbliert gewesen. Auf ihnen saßen Bischöfe, Professoren und Oberkirchenräte, um das theologische Examen abzunehmen. So ändert sich die Welt: Damals wurde ich hier von meiner Obrigkeit geprüft – jetzt teilte ich Flüchtlingen Suppe aus. Letzteres war mir angenehmer.
Am nächsten Morgen saß ich wieder an meinem Schreibtisch, noch müde von der Nachtschicht. Ich blätterte in meiner Bibel. Ich suchte nach etwas, das mich aufwecken könnte. Ich blätterte hin und her, vor und zurück, schließlich kam ich zum Propheten Jesaja und dort zu den «Völkersprüchen». Das sind Weissagungen über die Nachbarn Israels: Ägypten und Babylon, Moab und Tyrus, die Assyrer und Philister. Ein lautes, schrilles Weh wird da gerufen über einzelne Reiche und Städte.
Sieh, Damaskus hört auf, eine Stadt zu sein,
und wird zur Trümmerstätte, zum Trümmerhaufen.
Die Städte der Aroer werden verlassen für immer,
und es wird aus sein mit dem Königtum aus Damaskus.
Alle Völker der alten Welt überfällt dieses Wehgschrei.
Ha, ein Tosen vieler Völker, wie das Tosen des Meeres!
Ein Brausen der Völkerschaften, wie das Brausen gewaltiger Wassermengen!
Er schilt sie, und sie fliehen in die Ferne,
sie werden gejagt wie die Spreu auf den Bergen vom Wind
und wie wirbelnde Blätter vom Sturmwind.
Am Abend, siehe, da ist Schrecken,
und ehe es Morgen wird, sind sie nicht mehr da.[1]
Quer las ich nun über diese Kapitel hin mit all ihrem Weh und Ach, dem Schelten und Fliehen, den zertretenen Völkern und vernichteten Städten, dem Geschrei und der Totenstille danach. Ich fand keinen Halt, keinen Ausblick.
Wächter, ist die Nacht bald hin? Wächter, ist die Nacht bald hin?
Der Wächter spricht: «Wenn auch der Morgen kommt, so wird es doch Nacht bleiben.»[2]
Endlich stieß ich auf einen Vers, bei dem ich anhalten konnte. Den las ich genau, einmal, zweimal, dreimal.
Dies ist die Last für Arabien: In der Wüste, im Gestrüpp der Wüste müsst ihr übernachten, ihr Karawanen der Dedaniter. Den Durstigen bringt Wasser, die ihr wohnt im Lande Tema, bietet Brot den Flüchtigen. Denn sie fliehen vor dem Schwert, vor dem gezückten Schwert, vor dem gespannten Bogen, vor der Gewalt des Kampfes.[3]
Dieser Vers sollte mich noch länger begleiten.
In den Monaten danach begann ich, die Bibel neu zu lesen – als ein Flüchtlingsbuch. Im Grundbuch der abendländischen Kultur entdeckte ich nun Geschichten, Lieder, Gebete, Klagen und Visionen von Geflohenen, Vertriebenen, Deportierten, Ausgezogenen, Entkommenen, Heimatsuchenden, Migranten und Wanderern aus dem Morgenland. Vieles sah ich neu oder las es anders. Es war eine lange Neu-Lektüre dieses alten Buches. Währenddessen folgten die unterschiedlichsten Ereignisse aufeinander: Viele Menschen, aus unterschiedlichen Ländern, kamen nach Europa, dann nur wenige, weil die Fluchtrouten gesperrt wurden, bis sie andere Routen fanden oder auf dem Weg starben. Die einheimische Bevölkerung reagierte sehr unterschiedlich: Anfangs begrüßten viele die Flüchtlinge freundlich, dann beschimpften einige sie, manche zeigten Größe, andere äußerten Skepsis oder Befürchtungen. Feindseligkeit und Gelassenheit, Euphorie und Ernüchterung, Gewöhnung und Erschöpfung wechselten sich ab. Manchmal schien wieder Ruhe einzukehren, aber das täuschte. Denn gleichgültig, ob viele oder wenige kamen, das «Thema» blieb, und die «Krise» wird bleiben. Die «Flüchtlingskrise» ist nicht nur ein aktuelles Problem, sondern eine epochale Herausforderung – und dies nicht allein in politischer, polizeilicher oder diakonischer, sondern auch in kultureller und damit religiöser Hinsicht, denn sie stellt die grundsätzliche Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Deshalb lohnt sich ein frischer Blick in das Grundbuch europäischer Kultur. Es ist ein Buch von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Heimatverlust und Heimatsuche sind seine Kernthemen. Durch Vertreibung und Flucht verloren die Israeliten ihre alten Gottesbilder und fanden im Exil andere Vorstellungen der Gottesbeziehung und des menschlichen Zusammenlebens. Erst mit dem Verlust von König, Tempel und eigenem Land entstand der Glaube an den einen Gott, fand die Religion ihren Ort in der Sprache, wurde das Buch zum neuen Tempel, bildete sich eine humane Moralität.
Vielleicht ist dies ein gemeinsames Kennzeichen der drei monotheistischen Weltreligionen, dass sie von Flüchtlingen und Heimatlosen ausgingen. Der Polytheismus ist eine Religionsform für verwurzelte Völker: Ihre Götter haben feste Wohnsitze – diesen heiligen Berg, jenen Hain, diese Quelle, jenen Tempel. Der Glaube aber an nur einen Gott, der auf der ganzen Welt zu Hause ist und zugleich nirgends, ist ein Glaube von Menschen, die keine sichere Heimat mehr haben, die ihren Ort auf dieser Erde erst suchen müssen und deshalb auf einen Gott hoffen, der so wie sie nicht sicher wohnt, aber mit ihnen geht. So war es bei den Israeliten, deren höchstes Fest an die Flucht aus Ägypten erinnert. Ähnlich war es bei den ersten Christen, die Palästina verlassen mussten und in alle Welt ausschwärmten. Ähnlich war es auch bei den Muslimen: Ihre Zeitrechnung beginnt mit der Flucht Mohammeds aus Mekka (im Jahr 622 nach christlicher Zählung).
Wer in dieser Perspektive die Bibel liest, dem geht auf, dass sie ein Menschheitsbuch ist, in dem sich die Erfahrungen der Gegenwart widerspiegeln können. Das heißt natürlich nicht, dass aus den biblischen Erzählungen und Weisungen unmittelbar Erkenntnisse darüber zu gewinnen wären, wie man heute mit Flucht- und Wanderungsbewegungen umgehen sollte. Aber die Wahrnehmung dafür wird geschärft, dass das Abendland aus dem Morgenland stammt und ohne dieses nicht zu denken ist, dass das Grunddokument des vermeintlich Eigenen ein Buch der Fremden ist, dass es Geschichten und Gedanken enthält, die dazu anstiften, eine eigene Balance aus Barmherzigkeit und Besonnenheit, Nüchternheit und Nächstenliebe zu finden.
Wenn man die Bibel heute mit diesem Fokus liest und anderen zum Lesen gibt, dann sollte man versuchen, etwas miteinander zu verbinden, was scheinbar gegensätzlich ist, nämlich eine existentiell engagierte Lektüre und die Einsichten, die die historische Bibelwissenschaft erarbeitet hat. Meist steht beides unverbunden nebeneinander: hier die erbauliche Nacherzählung und dort die akademische Rekonstruktion. Wenn man aber die Bibel als Flüchtlingsbuch betrachtet, lässt sich beides verknüpfen. Man kann verstehen, dass die biblischen Geschichten zwar dem widerstreiten, was die nüchterne Historiographie feststellt, aber dadurch ganz neue Lebensperspektiven und Sinnhorizonte eröffnen.
Die Bibel als Sammlung antiker Schriften ist etwas ganz anderes als die Bücher, die man heute kennt. Die allermeisten von ihnen wurden nicht von einzelnen Autorenpersönlichkeiten verfasst, sondern entstanden in einem langen Prozess des Redens und Hörens, des Nacherzählens und Weitersagens, dann des Aufschreibens und Fortschreibens, des Redigierens und Komplettierens. Deshalb ist es fast unmöglich zu sagen, welcher Vers «ursprünglich» oder «später hinzugefügt» ist. Diese Unterscheidung ist zwar unerlässlich, weil sie dazu anstiftet, den überlieferten Text kritisch zu untersuchen, aber sie ist zugleich eine moderne Frage, die den...