1. Aiman al-Zawahiri: Vom ägyptischen Arzt zum «Weisen der Umma»
Die Geschichte von Aiman al-Zawahiri ist eine Parabel für die islamistische Bewegung an sich, besonders für die ägyptische, die seit ihrer Entstehung nach dem Untergang des Osmanischen Kalifats über eine besondere Ausstrahlungskraft für den arabischen Raum verfügte. Der Weg des späteren Nachfolgers von Bin Laden in den Terrorismus war keineswegs vorgezeichnet, ihm hätten Möglichkeiten offen gestanden, ein Leben als angesehenes Mitglied der ägyptischen Gesellschaft zu führen. Doch es sollte anders kommen.
Familie und frühe Prägung
Maadi, der südliche Vorort Kairos, in dem Aiman al-Zawahiri 1951 das Licht der Welt erblickte und seine Jugend verbrachte, entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.[1] Es war eine Art Gegenentwurf zur ärmlichen und chaotischen Metropole: Jüdische Familien und britische Offiziere siedelten hier, die feine Gesellschaft traf sich im örtlichen Sportklub. In den 1960er-Jahren entstand ein neues Viertel in Maadi, wo sich Angehörige der Mittelschicht, aber auch ärmere Ägypter niederließen. Hier lag auch die Wohnung, die Rabiʿ und Umaima al-Zawahiri, Aiman al-Zawahiris Eltern, bezogen.
Aiman hatte eine Zwillingsschwester, und zwei Jahre später wurde sein Bruder Muhammad geboren, der zu einem wichtigen politischen Weggefährten Aimans werden sollte und als jihadistischer Aktivist und Ideologe gilt.[2] Vater Rabiʿ al-Zawahiri lehrte als Professor an der Ain-Shams-Universität in Kairo Pharmakologie. Seine Vorfahren hatten durch ihr Wirken an der einflussreichen sunnitischen Lehranstalt der al-Azhar-Universität ebenfalls einige Bekanntheit. Auch mütterlicherseits konnte Aiman al-Zawahiri eine angesehene Familie vorweisen, darunter waren religiöse Autoritäten und auch Politiker, wie etwa der erste Generalsekretär der Arabischen Liga, ʿAbd al-Rahman ʿAzzam (1945–1952).
Aiman al-Zawahiri besuchte eine reguläre, also nicht-religiöse Schule und schrieb sich dann im Studienjahr 1968/69 in der medizinischen Fakultät an der Kairoer Universität ein (al-Zayyat 2004, 18). 1974 schloss er sein Studium mit «sehr gut» ab und absolvierte 1978 einen Master-Studiengang in Chirurgie.[3] In dieser Fachrichtung sollte er später in Pakistan promovieren. 1978 oder 1979 heiratete er Azza Ahmad Nuwair, die erfolgreich ein Philosophie-Studium beendet hatte und mit ihrem künftigen Ehemann neben der höheren sozialen Herkunft die strenge Auslegung der Religion teilte (Wright 2008, 67; al-Zayyat 2004, 17). Das Ehepaar bekam vier Töchter und einen Sohn.
Ein sozialer Hintergrund, wie ihn Aiman al-Zawahiri aufwies, war keinesfalls die Ausnahme in der ägyptischen Jihad-Bewegung, was mehrere Studien belegen.[4] Von 326 aktenkundigen Angehörigen der militanten Organisation, der auch al-Zawahiri angehörte, hatte etwa die Hälfte universitäre Ausbildungswege, davon waren 55 Prozent in modernen naturwissenschaftlichen Fächern, Ingenieurwissenschaften oder Medizin eingeschrieben. Das lässt auf ihre exzellenten Schulnoten rückschließen, da die Zugangshürden für diese Fächer in den arabischen Staaten sehr hoch waren (Sivan 1985, 118–119). Der Aufstand gegen das Establishment und das Eintreten für einen islamischen Staat waren also teilweise getragen von gebildeten Mitgliedern der urbanen Mittelschicht, erfuhren aber durchaus auch Unterstützung in den Armenvierteln der großen Städte.[5]
Bereits in früher Jugend soll Aiman al-Zawahiri ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein gezeigt und mit fünfzehn seine erste Untergrundzelle ins Leben gerufen haben (al-Zayyat 2004, 18). Besonders die Schriften von Sayyid Qutb (1906–1966), der als wichtigster Ideengeber der modernen Jihad-Bewegung gilt, beeinflussten den jungen al-Zawahiri. Qutb[6] hatte eine revolutionäre Befreiungstheologie entwickelt, deren erklärtes Ziel es war, die Herrschaft der Menschen über die Menschen zu beenden zugunsten der als gerecht und einzig legitim erachteten Herrschaft Gottes über seine Geschöpfe. Dies sollte durch eine politische Avantgarde geschehen, gegebenenfalls auch unter Anwendung von Gewalt. Insgesamt weisen viele Ausführungen Qutbs auffällige Ähnlichkeiten mit den Ideen der revolutionären Linken auf – freilich unter ganz anderen Vorzeichen und in Konkurrenz. Das ist nicht weiter verwunderlich, hatte doch die sozialistische und kommunistische Bewegung in der arabischen Welt bis in die 1960er-Jahre durchaus starken Zulauf. Eine wichtige Verbindung zwischen Aiman al-Zawahiri und Sayyid Qutb stellte Aimans Lieblingsonkel Mahfuz ʿAzzam aus der mütterlichen Linie dar (Wright 2008, 56–57), der einst in der Grundschule von Qutb unterrichtet worden war. Später wurde Mahfuz ʿAzzam nicht nur ein Aktivist der Muslimbruderschaft, sondern auch Anwalt von Qutb, den er gegen den Staat unter Führung von Gamal ʿAbd al-Nasir (Nasser) vertrat. Bevor Qutb hingerichtet wurde, soll Mahfuz ihn noch besucht haben. Seinem Neffen berichtete er später eindringlich von Qutbs Standhaftigkeit und seinem Leid im Gefängnis, was einen bleibenden Eindruck auf ihn hinterlassen sollte.
Al-Zawahiri selbst schrieb, dass die Verhaftungswelle gegen die islamistische Bewegung 1965 unter Nasser (vgl. Kepel 2005, 28–33) und die Hinrichtung Qutbs 1966 die «Initialzündung für die jihadistische Bewegung in Ägypten gegen die Regierung» waren (al-Zawahiri 2010, 8). Damit steht al-Zawahiri exemplarisch für den Beginn der jihadistischen Mobilisierung, die Ende der 1960er-Jahre unter Nasser begann und sich unter seinem Nachfolger Sadat in den 1970er-Jahren vollends entfaltete.
Al-Zawahiri war beseelt von der Idee einer revolutionären Avantgarde, wie Qutb sie beschrieben hatte, die handstreichartig die Macht im Staat übernehmen und so möglichst unblutig und schnell den Weg zu einem islamischen Staat ebnen würde. Die mehrheitliche Position in der Muslimbruderschaft hingegen war keineswegs revolutionär, sondern sah vor, die Volksmassen einzubinden, ihnen beharrlich ein islamisches Bewusstsein zu vermitteln und so sukzessive durch Erziehung hinter sich zu scharen.
Jihadistische Zellen in Ägypten
Anwar al-Sadat hatte 1970 das Präsidentenamt nach dem Tod von Gamal ʿAbd al-Nasir übernommen, der in der Hochphase des Kalten Krieges sein Land am Sowjet-Block orientiert hatte. Diese Phase des ägyptischen Sozialismus war zunächst – nach Jahren der noch immer unter Großbritanniens Einfluss stehenden Monarchie – von vielen als hoffnungsvoller Aufbruch in die wahre Unabhängigkeit verstanden worden. Doch der Sechstagekrieg 1967, in dem Israel Teile Ägyptens besetzen und die ägyptische Armee vernichtend schlagen konnte, war der Anfang vom Ende des arabischen Sozialismus und seiner Anführer. Er läutete zugleich das Erstarken der Islamisten ein, da die Schuld für den verlorenen Krieg hauptsächlich den säkularen Herrschern und dem Abweichen der Muslime von ihrer Religion zugeschrieben wurde.
Es war daher deutlich, dass Anwar al-Sadat nicht weitermachen konnte wie bisher, als er Nasser, die «von Holzwürmern zerfressene Ikone» (al-Zayyat 2004, 23), politisch beerbte. Sadats Herrschaft war gekennzeichnet durch den endgültigen Bruch mit der Sowjetunion und die zunehmende Orientierung an den USA sowie die damit einhergehende Liberalisierung der Wirtschaft. Al-Zawahiri spricht hier vom «russisch-nasseristischen Zeitalter» einerseits und dem «amerikanisch-sadatistischen» andererseits (al-Zawahiri 2010, 13). Ganz im Sinne des Kalten Krieges und des Blockdenkens versuchte Sadat die linke Opposition, also Nasseristen und Kommunisten, zu schwächen. Dazu bediente er sich des religiösen und rechten politischen Rands, der sich nun in Ägypten immer freier entfalten konnte (Heikal 1983, 114–118; Ibrahim 1980, 426; Gaffney 1994, 80–112). Inhaftierte Mitglieder der Muslimbruderschaft wurden entlassen, und zwei ihrer Monatsmagazine nahmen ihre Arbeit wieder auf (Sivan 1985, 120). Es entstand eine Art Symbiose zwischen der politischen Führung und den Islamisten, insbesondere der studentischen «Gamaʿa Islamiya» (Islamische Vereinigung; GI).[7] Allerdings entglitt dem Staat im Laufe der 1970er-Jahre zunehmend die Kontrolle über die sich neben den «offiziellen» Islamisten ausbreitenden militanten Untergrundzirkel, die sich nun immer mehr gegen Sadats Regierung selbst richteten (Ibrahim 1980, 426; Haikal 1983, 128–132; Gaffney 1994, 80–112[8]). Die Radikalen forderten Staat und Gesellschaft mit...