3 Hermeneutisches Fallverstehen als Grundlage von Fallbesprechungen
Gegenseitige Beratung braucht es dann, wenn Situationen unklar sind. Im Kontext palliativer und hospizlicher Begleitung, Betreuung und Behandlung sind das nicht nur Situationen, in denen es um ethische Entscheidungen wie den Verzicht oder die Fortführung lebenserhaltender Maßnahmen geht, sondern Situationen, in denen sich Fragen auftun, die sowohl den Umgang mit dem Patienten als auch den An- und Zugehörigen betreffen. Diese Situationen sind ganz unterschiedlicher Art, haben aber gemeinsam, dass sie uneindeutig sind und vor allem anderen erst einmal ›verstanden‹ werden müssen. Deshalb sind der Vorstellung des Konzepts der Palliativen Fallbesprechung im Folgenden noch Überlegungen zum hermeneutischen Fallverstehen vorangestellt.
3.1 Hermeneutisches Fallverstehen – Verschiedene Perspektiven
Beim hermeneutischen Fallverstehen geht es im Wesentlichen um das Aufdecken von Unzufriedenheit bei bereits eingetretenen Ereignissen, um Reue, Schuldgefühle und Schuldzuweisungen und um das Überprüfen und Entwickeln von neuen und besseren Lösungswegen. Existiert eine moralisch aufgeladene Problematik zu einem bestimmten Fall, so bietet sich ein retrospektives fallbezogenes Verfahren an, das Inhalte von bereits stattgefundenen sozialen Prozessen aufrollt (Steinkamp 2012, S. 184).
Um einen Überblick über die Besonderheit dieser Methode zu bekommen, kann es hilfreich sein, Verfahren verschiedener Ansatzweisen miteinander zu vergleichen. In der folgenden Tabelle wird das hermeneutische Fallverstehen kurz der Nimwegener Methode gegenübergestellt ( Tab. 2). Beide Verfahren unterscheiden sich vor allem in Situation, Perspektive und von den Zielen her.
Tab. 2: Vergleich: Nimwegener Modell und Hermeneutisches Fallverstehen (Steinkamp 2012, S. 184)
3.2 Objektive Hermeneutik
Das hermeneutische Fallverstehen wendet die Methodik der Objektiven Hermeneutik an, die seit den 1980er Jahren von Ulrich Oevermann fortwährend weiterentwickelt wird (Peter 2006, S. 1).
Raven (2016, S. 105) beschreibt in seiner Abhandlung »Objektive Hermeneutik« als ein rekonstruktionslogisches Paradigma und als dritten Weg zur Erkenntnis. Er vergleicht Objektive Hermeneutik mit anderen Verfahren der Erkenntnisgewinnung.
• Das klassisch-hermeneutische Paradigma, auch phänomenologisches Paradigma, interpretiert subjektiv beobachtete und erzählte Protokolle, die sich gegebenenfalls an einer Zeitachse orientieren.
• Die Denkweise der quantitativ-empirischen Methoden verfolgt mit ihren Datensammlungen von Kohortenstudien eher Auswertungen mengenmäßiger Art.
• Die Objektive Hermeneutik als rekonstruktionslogisches Verfahren steht als drittes existierendes Paradigma chronologisch gleichrangig neben den vorher genannten Verfahren, ist aber nicht so bekannt.
Die »Objektive Hermeneutik« (OH) gilt als »methodisch kontrollierte Form des Verstehens« des Sinns einer Handlung, die unter objektiver Perspektive betrachtet wird. Die Besonderheit dieses Verfahrens besteht darin, »dass soziale Handlungen […] auf bedeutungsgenerierenden Regeln beruhen« (Raven 2016, S. 103). Diese Regeln stehen der »Entschlüsselung der objektiven Bedeutungs- und Sinnstrukturen menschlicher Handlungspraxis zur Verfügung« (Raven 2016, S. 103). Sie versteht sich nicht als Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit i.S. des »klassischhermeneutischen Nachvollziehens«, bzw. »des subjektiv gemeinten Sinns einer sozialen Handlung«. Hier bestehe ansonsten das Risiko des Falschverstehens (Raven 2016, S. 103).
Die Methodologie der Objektiven Hermeneutik ist als ein Verfahren zur Analyse der »strukturellen Bedingungen für die autonome Gestaltung einer Lebenspraxis« entwickelt worden, welches bereits in den Anfängen der praktischen Sozialarbeit bei Interaktionen mit Familien Anwendung fand und hier zu Entschlüsselung und Aufdeckung »verborgener sinngebender Kräfte« diente, die strukturbildend und latent das familiale Geschehen lenken (Raven 2016, S. 106). Diese sog. sinngebenden Kräfte werden von Oevermann selbst als Fallstrukturgesetzlichkeiten bezeichnet.
Ablauf wirklicher Bezüge und deren tatsächliches Protokoll sind in diesem Zusammenhang nicht in eine bloße zeitliche Reihenfolge gestellt. Protokoll und protokollierte Wirklichkeit werden nach Oevermann verknüpft zu den jeweiligen sog. Sequenzen, deren Sequentialität sich aus Folgen ergeben, die durch »bedeutungserzeugende Regeln« (Oevermann 2013, S. 75) gestaltet werden. Das erklärt, dass jede Anschlussstelle einer Sequenz Möglichkeiten beinhaltet, die sich aus Vollzügen der Vergangenheit ergeben und einer Entscheidung bedürfen, die sich mit entsprechenden Folgen auf die Zukunft auswirken werden. Raven (2016) stellt dies in seiner Abhandlung mit folgender Graphik ( Abb. 6) dar, die er als »Einheit der Handlung« bezeichnet. Neben der Graphik sind Begrifflichkeiten anhand eines Zahlenmodells erklärt.
Abb. 6: Einheit der Handlung (zugleich Modell der Logik der Sequenzenanalyse) (Mit freundlicher Genehmigung von Vandenhoeck & Ruprecht: Raven 2016, S. 114)
Der Wechsel von einer zur anderen Sequenzstelle erfordert die Auswahl einer möglichen Handlung, die sich infolge einer Routine, Krise oder Entscheidungskrise aus der vorherigen Lebenspraxis ergeben hat. Der Zwang zur Entscheidung erfordert jedes Mal die Autonomie des handelnden Subjektes (Oevermann 2008, zitiert nach Raven 2016, S. 107). Ferner ist an den Schnittstellen der Sequenzen eine Transformation möglich, also eine Veränderung des vorher angewendeten Musters. Und anstelle von Krisen können Subjekte auch mit Routinen, dem Gegenteil von Krise, den Wechsel von einer Sequenz zur anderen durchführen. Die Routine stellt den »erstrebenswerten Normalfall für die Praxis selbst« dar. Analog dazu bietet Oevermann das Beispiel an, dass Bildung das Ergebnis eines Prozesses von Krisenbewältigung und Lernen als Gegensatz dazu lediglich Routine ist (Oevermann 2013, S. 76 f). So entstehen regelgeleitete Muster von Lebenspraxis, die unter der Voraussetzung von »aktiven, humanen Potentiale[n]« (Raven 2016, S. 115) geleistet werden können.
Die Möglichkeiten zur Bewältigung von Krisen des Subjektes werden mit speziell bestimmten Parametern beschrieben, den sog. Auswahlparametern, die in Abhängigkeit zu sog. Erzeugungsparametern stehen (Raven 2016, S. 115-116; Tab. 3). Je nach momentaner Verfassung und vorhandenen Kompetenzen ist das Subjekt in der Lage, durch Entscheidung mit Hilfe der Erzeugungsparameter, seine Probleme zu bearbeiten.
Gemäß seinem momentanen Befinden kann das Subjekt seine individuelle Haltung an den Auswahlparametern ausrichten. Die Fähigkeit zu einer bestimmten Haltung des Subjektes ist ebenso abhängig von sprachlichen, kognitiven und moralischen Kompetenzen.
Eine Fallstruktur ergibt sich aus Verknüpfungen (oder Verkettungen) von Vollzügen innerhalb einer Lebenspraxis (Oevermann 2013, S. 90 f).
Tab. 3: Krisenlösung durch Zusammenspiel von Erzeugungs- und Auswahlparametern (Mit freundlicher Genehmigung von Vandenhoeck & Ruprecht: Raven 2016, Abb. 3, S. 116)
Hermeneutisches Fallverstehen ist das Aufdecken von langfristigen Haltungen (Peter 2006, S. 1 f) :
• Verhaltensstörungen, inkohärenten Lebenshaltungen in Psychotherapien, Therapien von Psychiatern, Fachärzten für Psychosomatik
• Verhalten, Überbehütung, Vernachlässigung in der Sozialen Arbeit: Familie im erzieherischen Prozess
• Ursachen von Erfolg, Misserfolg, Verhalten bei Schülern im Bildungsprozess (Schul- und Sonderpädagogik)
• didaktischen Studien in der Lehrerausbildung
• Motiven von Straftaten bei Analyse von Verhaltensmustern in der Kriminalistik
• Behinderung(en) in der Heilerziehungspflege: Menschen mit Beeinträchtigungen, Bewältigungsproblemen
• Compliance, Adherence, Non-Compliance, Chronizität im Krankheitsprozess in der...