Eingangs: Eine merkwürdige Umarmung
Ein Sommertag, Bahnhof Jena Paradies. Der Blick fällt auf eine riesige Werbefläche: In der Dusche steht eine dunkelhaarige Schöne und wird von einem schemenhaften Phantasiegebilde aus weißem Seifenschaum innig umarmt. Das Seifenwesen umschlingt das Menschenkind bergend und begütigend. Warum tut es das? Nun: um «Ihre Haut in Schutz zu nehmen», wie es die Bahnsteigreklame erklärt. Merkwürdig, da kommt einiges zusammen. «Ihre Haut», Abstand mithin, dieser Mensch wird gesiezt. «Schutz», Fürsorge also, für den verletzlichen Menschen. «Haut», die Membran, an der sich entscheidet, ob eine Berührung verletzend ist. In einer Seifenumarmung.
Die Zeichen und Spuren des Alltäglichen erzählen, was sich gerade in den Köpfen und Gefühlen einer Gesellschaft vollzieht. Und sie stellen einen unversehens auf einem Bahngleis vor Fragen wie diese: Was ist in einer Gesellschaft passiert, in der die Vorstellung anziehend sein soll, von Seifenschaum innig beschützt zu werden? Noch ein Blick, noch eine Verblüffung: Die weiße Seifenfigur auf der Werbewand ist weder Mann noch Frau, sie ist beides zugleich, und sie zeigt mit gleich zwei Ikonen der westlichen Kunstgeschichte eine auffällige Ähnlichkeit: Von Botticellis Venus mit ihrem gelösten Haar, dem um 1484 entstandenen Inbegriff der Erotik weiblicher Prägung, hat sie den Kopf und die fliegenden Haare. Und sie erinnert an den männlichen Gott Jupiter, der auf Correggios Gemälde von 1531 in Gestalt einer küssenden Wolke die makellos weiße Io umarmt.
Da rührt also ein Seifenschaumhersteller im akut krisengeschüttelten Europa dank einer gebildeten Werbeagentur an einen wunden Punkt: Berührung soll sein, nicht aber Verletzung. Verwundbarer als in der Dusche kann man seit Alfred Hitchcocks Film Psycho kaum wirken. Die plakatierte Seifenschöne indes erfährt eine Berührung, die wohltut, jenseits herkömmlicher Sexualitäten, und diese bietet einen Schutz, den sie genießt. In der Wirklichkeit realer Körper aus Fleisch und Blut hingegen bedeutet Berührung, wie jeder weiß, mehr. Sie kann elektrisieren, sie kann öffnen, bedrohen, verwunden, ekeln und unüberschaubar riskant sein. Das Dilemma liegt zu Tage: Die Verletzung, vor der jeder Schutz sucht, und die Zuwendung, die jeder braucht, sind die beiden Seiten derselben Offenheit für Nähe. Nähe soll sein, aber irgendwie nicht zu nah kommen. Bei anderen Menschen weiß man nie, wie gefährlich oder lästig sie sind: Seifenschaum, in den man sich selbst hüllt, ist sicherer.
Von dem Dilemma, das die kunstreiche Seifenumarmung ins Bild setzt, handelt dieses Buch. Es fragt, was heute Berührung bedeutet. Heute, während wir epochale Umbrüche am lebendigen Leibe erleben: Wo in unseren spätmodernen Gesellschaften jeder mehr Wohnraum für sich allein hat denn je, wo jeder ein Recht auf Unversehrtheit genießt und Körperverletzung geahndet wird. Wo Mobilität und digitale Technik unseren leiblichen Abstand herstellen. Wo jeder möglichst unbehelligt ein singuläres Körperkapital zu Markte tragen will, aber die Einsamkeit wächst und mit ihr auch Angst.
Die These meines Buchs lautet: Unsere Gesellschaft spürt beunruhigt, dass selbst die perfektesten Körper verwundbar sind, und dass sie doch notwendig der Nähe und Berührung bedürfen. Jeder trägt den Zwiespalt, Nähe zu brauchen und doch in seiner Verletzbarkeit vor unfreiwilliger Nähe geschützt sein zu wollen, am eigenen Leibe aus. Noch steht nicht fest, ob wir eher auf eine Gesellschaft zusteuern, in der Menschen angstlos zugewandt sein können und einander freiwillig nah kommen – oder ob es eine Gesellschaft sein wird, in der argwöhnische Verschlossenheit, Kontrollbedürfnis und eine aseptische Berührungslosigkeit vorherrschen. Beides liegt in der Luft.
Der britisch-polnische Soziologe Zygmunt Bauman hat in der letzten Publikation vor seinem Tod Retrotopia beschrieben, wie grenzüberschreitende Krisen und Szenarien unkalkulierbarer Gewalt uns Bürger der westlichen Welt heute an unsere Verwundbarkeit erinnern.[1] Wir hatten es fast vergessen, obwohl, wie Zygmunt Baumans Werk deutlich macht, die Moderne von Anfang an dieses Doppelgesicht trägt: In ihr wirken die universellen Gleichheitsideale der Aufklärung, die körperliche Grausamkeit und den physischen Schmerz durch das Recht einhegen wollen, ebenso fort wie die erfahrene Realität barbarischer Gewalt.[2]
Wir spätmodernen Individuen hatten uns gründlich abgedichtet, mit einer undurchdringlichen Siegfriedhaut, Ohrstöpsel eingesetzt, Blick aufs Smartphone gesenkt, unstörbar, um allen Wettbewerben beweglich gewachsen zu sein. Doch selbst der flüchtigste Blick auf die Bildschirme führt uns vor Augen: Millionen gefährdeter Menschen in Europas unmittelbarer Nachbarschaft zeigen multimedial unabweisbar, was reale Verletzbarkeit ist, vor der Staaten sie nicht schützen. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev gibt in seinem Essay Europadämmerung zu bedenken, dass besonders die Bürger des Westens im Zeichen der Flüchtlingskrise und der Instabilität des europäischen Gefüges der eigenen Verletzbarkeit neu gewahr werden, die sie doch seit 1945 hinter sich lassen wollten.[3]
Um die menschliche Verletzbarkeit geht es mir in diesem Buch.[4] Die Krisenbefunde will ich wörtlich nehmen und ihnen nachgehen: am Körper. Er ist ein Schauplatz des Wandels. Die Moderne mit ihrem Anspruch, allen gleichermaßen Raum und Schutz für die Entfaltung des Selbst zu geben, hat dem Körper – nach und nach – das Recht auf Unversehrtheit ebenso erkämpft wie die stete Erweiterung des räumlichen Abstands, den er zu anderen Menschen einnehmen kann; sie hat ihn in der Zeit der Industriemoderne als Arbeitsvermögen formiert, hat ihm dann im spätmodernen Wettbewerb um das größte Körperkapital, zumal im Netz, immer mehr Perfektion abverlangt, immer mehr Gesundheit verkauft und ihm ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zugesichert; sie hat ihn älter, pflegebedürftiger werden lassen, damit verletzlicher und zugleich immer kinderloser.
In diesem Sinne steht der Körper gegenwärtig auf der Schwelle zwischen gestern, heute und morgen: Noch prägt das Bild vom perfekt gestalteten individuellen Körper, den die Gesundheits-, Sport-, Ernährungs- und Wellness-Industrien geformt haben, die geläufigen Vorstellungen davon, wie man in der spätkapitalistischen Gegenwart am besten auftreten sollte. Doch diese Vorstellung bekommt Risse und wird porös. Es zeigt sich, dass Menschen sich höchstens für ein paar Jahre ihrer Lebenszeit und nur an wenigen Orten der Welt aus der Verletzbarkeit herauswünschen können. Drumherum, also fast immer und überall, brauchen sie die Nähe anderer. Viele sind einsam. Viele wachen auf, in berührungsloser Gesellschaft, und sehen sich danach um, wo es etwas Berührung gibt, notfalls auch für Geld. Oder sie entwerfen neue Ideen für freiwillige Nähe, also für eine Spätmoderne, die Verletzlichkeit respektiert und den Menschen als berührbar versteht.
Mit gutem Grund: Selbst, wenn man Europas expansive Gewaltgeschichte vor Augen hat, ist es doch unbestritten, dass sich das moderne Recht mehr und mehr dem Schutz vor Gewalt zugewandt hat. Es gilt heute als unmoralisch, die Verletzlichkeit anderer durch eigene Macht auszunutzen. Skeptischen Beobachtern gehen zwar Fortschrittsdiagnosen nur noch zögerlich über die Lippen, doch hier ist das Wort einmal angebracht: Es gibt diesen Fortschritt, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nach und nach errungen wurde. Niemand soll einem anderen ungebeten oder gar gewaltsam zu nahe kommen. Was für den Menschen im Allgemeinen zutrifft, gilt im Besonderen für Frauen, Kinder und Alte, deren Unversehrtheit allzu lange kaum der Beachtung wert schien – man denke nur an die Heerscharen von Dienstmädchen, die in bürgerlichen Haushalten den Übergriffen der Hausherrn ausgesetzt waren. Seit ein paar Jahrzehnten erst wird die spezifische Schutzbedürftigkeit einer jeden und eines jeden Kindes in Deutschland garantiert, in Gestalt von Verfassungsgrundsätzen und Straftatbeständen. Das könnte gelassener machen und offen für andere.
Doch der historisch so junge Schutz vor Übergriffen scheint für viele noch spürbar fragil. In Sachen unfreiwilliger Berührung ist die Gesellschaft endlich hochaufmerksam. Die brodelnde Debatte um die massenhaften sexuellen Belästigungen, die unter dem Hashtag #Me-too geführt wird, beweist es eindrucksvoll.[5] Ein weiterer Fortschritt wird deutlich: Die Normen haben sich tatsächlich verschoben. Endlich ist breitenwirksam und öffentlich sagbar, dass der Körper ein einklagbares Recht hat; über erlittenen Machtmissbrauch muss nicht mehr geschwiegen werden....