|1|Einleitung
Die Medical Humanities als begleitende Wissenschaften werden für die medizinischen Wissenschaften immer wichtiger. Darunter nimmt die Ethik, welche sich seit geraumer Zeit als eigenes Fach etabliert hat, eine zentrale Stellung ein. Längst gibt es an vielen Medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Medizinethik und für Studierende der Humanmedizin sind Ethikkurse inzwischen Standard.
Auch in der Psychotherapie werden seit den Anfängen immer wieder ethische Themen diskutiert. Allerdings hat sich im Psychologiestudium sowie in den psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungen die systematische Vermittlung von Psychotherapie-Ethik noch nicht durchgesetzt, obwohl der Bedarf klar gegeben wäre.
Im deutschsprachigen Raum existiert sehr wenig geeignete Literatur als Basis- oder Nachschlagewerke für praktizierende Psychotherapeuten für das Fach der Psychotherapie-Ethik. Im englischsprachigen Raum hingegen gibt es mehrere qualitativ hochstehende Referenzwerke (siehe z. B. Pope & Vasquez, 2010; Welfel, 2013; Keith-Spiegel, 2014). Diese liegen jedoch leider nicht in deutscher Sprache vor und wurden für die amerikanische Psychotherapie-Landschaft konzipiert. Im deutschsprachigen Raum existiert bislang kein kompaktes, fallbasiertes und leserfreundliches Übersichtsbuch zur Psychotherapie-Ethik. Diese Lücke wollen wir mit dem vorliegenden Band schließen.
Anliegen, Methodik und Aufbau des Buches
Ethische Fragen und Konflikte sind Teil des psychotherapeutischen Alltags. Kenntnisse und Kompetenzen im Bereich der Ethik sind somit Voraussetzung für eine professionelle Praxis. Entsprechend befassen sich verschiedene Kodizes im Bereich der Psychotherapie explizit mit ethischen Fragen und fordern die Übernahme von Verantwortung für eine sachgerechte Auseinandersetzung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit.
|2|Meta Code of Ethics der European Federation of Psychologists’ Associations (EFPA, 2005)
Art. 3.2.1: Obligation to have a good knowledge of ethics, including the Ethical Code, and the integration of ethical issues with professional practice.
Art. 3.3.6: Recognition that ethical dilemmas occur and responsibility is placed upon the psychologist to clarify such dilemmas and consult colleagues and/or the national Association, and inform relevant others of the demands of the Ethical Code.
Zugleich äußern Psychotherapeuten einen erheblichen Nachholbedarf an ethischer Orientierung (Rabenschlag, Steinauer, Heimann & Reiter-Theil, 2014). Das Spektrum relevanter Fragestellungen ist breit und umfasst Themen wie die Anwendung von Zwang, Grenzen der Schweigepflicht und Zeitknappheit im Umgang mit Patienten. Während in der Psychiatrie ethische Fragen schon länger in Lehrbüchern, Richtlinien und anderen normativen Texten behandelt werden, ist die Ethik in der Psychotherapie noch deutlich weniger ausgearbeitet. Psychiatrie-ethische Texte hingegen behandeln das psychotherapeutische Setting eher am Rande.
An dieser Stelle setzt das vorliegende Buch an: Es fokussiert auf ethische Fragen und Herausforderungen, die in der psychotherapeutischen Praxis entstehen und illustriert diese mit Fallbeispielen, die aus der Alltagspraxis stammen. Eingestreute Textkästen vertiefen relevante ethische Konzepte. Diese Herangehensweise möchte vermitteln, wie sehr ethische Überlegungen mit dem klinischen Alltag verwoben sind. Das Ziel ist eine praxisnahe Diskussion, die ethische Abwägungen nicht als separates Phänomen, sondern als integrativen Bestandteil psychotherapeutischer Praxis versteht.
Für das Buch wurde neben den drei Autoren eine Begleitgruppe aus zehn erfahrenen Psychotherapeuten aus dem deutschsprachigen Raum zusammengestellt. Die Begleitgruppe setzte sich aus Fachpersonen unterschiedlicher psychotherapeutischer Orientierung zusammen. Folgende Fachpersonen mit Spezialisierung in personenzentrierten, psychodynamischen, kognitiv-verhaltenstherapeutischen und systemischen Ansätzen waren in der Begleitgruppe vertreten:
Rainer Bürki, Privatpraxis, Zürich, Schweiz,
Annette Cina, Université de Fribourg, Fribourg, Schweiz,
Daniel Hell, Stiftung Privatklinik Hohenegg, Meilen, Schweiz,
Imke Knafla, Institut für angewandte Psychologie, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz,
Batya Licht, Sanatorium Kilchberg, Schweiz,
Vera Luif, freie Praxis, Zürich, Schweiz,
|3|Simone Munsch, Université de Fribourg, Fribourg, Schweiz,
Stefanie Neubrand, sysTelios Klink, Wald-Michelbach, Deutschland,
Binia Roth, Praxisgemeinschaft Schlüsselberg, Basel, Schweiz,
Daniel Sollberger, Psychiatrie Baselland, Liestal, Schweiz.
Die Begleitgruppe hat in einem ersten Schritt die wichtigsten ethischen Themen in der Psychotherapie bestimmt und anschließend zu den ausgewählten Themen klinische Fallbeispiele beigesteuert. Die im vorliegenden Buch diskutierten psychotherapie-ethischen Themen, Herausforderungen und Probleme wurden von der Begleitgruppe direkt aus ihrer klinischen Praxis generiert.
Der Aufbau des Buches orientiert sich an diesen wichtigsten ethischen Themen in der Psychotherapie. Diese Fokussierung zielt auf die Sensibilisierung der Psychotherapeuten für ethische Fragen und soll eine Basis schaffen, auf der Psychotherapeuten bei der Beurteilung moralischer Fragen in der eigenen psychotherapeutischen Praxis aufbauen können.
Jedes Kapitel beginnt mit einem oder mehreren Fallbeispielen, die eine besondere ethische Frage aufwerfen. Im Anschluss an die Darstellung der jeweiligen ethischen Grundlagen zum Thema in jedem Kapitel werden die Fallbeispiele in abschließenden Subkapiteln unter dem Titel Reprise des Falls noch einmal aufgenommen und diskutiert.
Ein weiteres Element des Buches bilden in die einzelnen Kapitel eingestreute Textkästen, in denen folgende prominente ethische Theorien, Begriffe und Modelle vertieft werden:
Prinzipien der biomedizinischen Ethik nach Beauchamp und Childress,
Moral versus Recht,
Deontologie und Konsequentialismus,
Tugendethik,
Care-Ethik,
Einwilligungsfähigkeit,
das Dammbruch-Argument,
Paternalismus,
Shared decision making,
Ziviler Ungehorsam,
Zusätzlich wird an verschiedenen Stellen im Buch in grau hinterlegten Textkästen der Bezug zu den berufsethischen Richtlinien oder Standesregeln der wichtigsten psychotherapeutischen Berufsverbände in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie der European Federation of Psychologists’ Associations (EFPA) hergestellt.
|4|Ziele des Bandes
Einen kompakten und fallbasierten Überblick zu ethischen Fragen und Herausforderungen im psychotherapeutischen Kontext zu liefern, welcher zur systematischen Vermittlung von Psychotherapie-Ethik im Psychologiestudium sowie in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung eingesetzt werden kann.
Vertiefung prominenter ethischer Theorien, Begriffe und Modelle sowie Bezugnahme auf berufsethische Richtlinien und Standesregeln.
Sensibilisierung von Psychotherapeuten für ethische Fragen, die eine Basis für die Beurteilung moralischer Fragen in der eigenen psychotherapeutischen Praxis schafft.
Danksagung
Hiermit möchten...