3Einordnung der Provokativen Therapie
3.1Die Provokative Therapie – eine kognitive Verhaltenstherapie?
Die Provokative Therapie wird offiziell zur kognitiven Verhaltenstherapie gezählt. Das kann jedoch auf die falsche Spur führen.
Die reine Verhaltenstherapie, der klassische Behaviorismus, geht von einem ein Reiz-Reaktions-Schema aus und orientiert sich ausschließlich an Verhaltensweisen, die man direkt beobachten kann. Alles, was nur indirekt erschlossen werden kann, wie mentale und innerseelische Vorgänge, wird als spekulativ abgelehnt und landet in der sogenannten »Black Box«.
Aaron T. Beck, der Gründer der kognitiven Verhaltenstherapie, verließ nach einiger Zeit die reine Lehre und begab sich in diese Black Box (Beck 1991). Damit kam die Ratio ins Spiel. Er war ursprünglich Psychoanalytiker, aber statt von unbewussten Strukturen und weit in der Vergangenheit liegenden Ereignissen auszugehen, die das gegenwärtige Verhalten bestimmen, postulierte er dysfunktionale Kognitionen, die nicht realitätsadäquat sind und die dem Klienten teils bewusst seien oder bewusst gemacht werden könnten. Mit Kognitionen sind hier Vorstellungen, Einstellungen, Werte und Überzeugungen gemeint, die das Fühlen und Verhalten steuern. Sobald sich dysfunktionale Kognitionen durch Einsicht und Introspektion (Selbstbeobachtung) bewusst machen lassen, so seine Theorie, können sie korrigiert und in konkretes, verändertes, »realitätsadäquates« Verhalten umgesetzt werden.
Auch Albert Ellis, der die RET (Rational-Emotive Verhaltenstherapie) entwickelte, unterschied zwischen einem Auslöser, einem Glaubenssatz und emotionalen Konsequenzen (Ellis u. McLaren 2014). Auch hier stehen die Ratio und damit die Bewusstmachung an erster Stelle. Erst danach kommen die Emotionen.
Begriffe wie »dysfunktionale Kognitionen« und »realitätsadäquate Wahrnehmung« verleiten zu Grundsatzüberlegungen, die wir hier nur streifen wollen.
Heißt dysfunktional, dass der Klient nicht ausreichend an allgemein gültige Normen anpasst ist? Ist es Aufgabe des Therapeuten, ihn stromlinienförmig zu machen?19 Oder geht es darum, dass sich der Klient mit seinen Denkmustern selbst im Weg steht und unterhalb seiner Möglichkeiten agiert?
Ebenso vieldeutig ist der Begriff »realitätsadäquat«. Depressive Menschen sehen die Welt realitätsgetreuer und damit viel negativer als Nichtdepressive. Der nichtdepressive, optimistische Mensch neigt dazu, Unangenehmes auszublenden und eher das zu sehen, was ihm guttut und seine Stimmung hebt. Ein depressiv veranlagter Mensch sieht hingegen überall Widrigkeiten und bleibt so eher unter seinen Möglichkeiten. Er wird eher vorsichtig sein als mutig und sich nicht mit Erfolgen brüsten, sondern seine Leistungen eher abwerten. Man kann infrage stellen, ob diese realitätsgerechtere, depressive Sicht der Dinge wünschenswerter ist als die optimistische, verdrängende Strategie.
3.2Der emotionale Ansatz
Der Glaube an die Macht des Bewusstseins durchzieht die kognitive Verhaltenstherapie. Die moderne Hirnforschung hat jedoch inzwischen mit ausgeklügelten Methoden herausgefunden, dass wichtige Entscheidungen nicht rational und bewusst, sondern in Bruchteilen von Sekunden vor der Bewusstwerdung auf einer emotionalen Ebene gefällt und erst danach rational abgesichert werden. Was da genau passiert, ist noch nicht ganz klar, aber die Forscher gehen davon aus, dass emotionale Vorgänge vor der Ratio zum Tragen kommen.
Wir sind also damit mitten drin in der ›Black Box‹, die die moderne Hirnforschung versucht, weniger spekulativ und objektivierbarer zu machen. Nennen wir diesen Bereich der Glaubenssätze, Wünsche, Hoffnungen, Wertvorstellungen usw. in Abgrenzung zum rationalen Bewusstsein der Einfachheit halber »emotional geladener Bereich«, auch wenn uns bewusst ist, dass mancher das für eine unzulängliche Vereinfachung hält. Aber um deutlich zu machen, worum es uns hier geht, ohne allzu umständlich und philosophisch zu werden, muss diese Vereinfachung reichen.20
Der Provokative Ansatz wendet sich nicht an die bewusste Ratio, sondern direkt an diesen emotional geladenen Bereich der Klienten. Eine Bewusstmachung, also eine rationale Einsicht ohne emotionale Beteiligung, führt nicht zur Veränderung. Die Situation ist allen Beratern vertraut: Sie haben in der Beratungsstunde mit dem Klienten eine wunderbare neue Strategie ausgearbeitet, und der Klient versichert bereitwillig, dass er verstanden hätte: Er müsse etwas ändern! Leider ändert er aber gar nichts. Um Veränderungen im Denken, Fühlen und Verhalten auszulösen, müssen die Emotionen des Klienten getriggert werden.
Symptomatisches selbstschädigendes Verhalten entsteht durch subjektive, kontraproduktive Glaubenssätze. Kontraproduktiv deshalb, weil die Klienten die Weichen so stellen, dass das Denken, Fühlen und Verhalten den eigenen Wünschen und Zielen zuwiderläuft. Dadurch stecken sie fest. Sie haben das Gefühl, sie kommen nicht weiter und alles ist doof, sie selbst, die anderen, einfach alles. Je fester diese Glaubenssätze ausgeprägt sind, desto stärker sind sie emotional geladen21, wobei den Klienten die »emotionale Ladung« ihrer Glaubenssätze selten bewusst ist. Sie wissen meist nicht genau, warum sie sich so schlecht fühlen, und v. a. nicht, was sie ändern könnten. Die Absurdität erkennen sie meistens nur, wenn ein anderer sie darauf hinweist. Wenn dabei die Emotionen angesprochen werden und nicht nur der Kopf, kommt eine Veränderung in Gang.
Klienten kommen in der Regel mit einer vorgefertigten »Reportage« in die Beratung. Sie haben sich vorab zurechtgelegt, was sie dem Berater sagen wollen, und oft haben sie genau das Gleiche bereits mehreren Freunden oder auch anderen Beratern erzählt. Der Bericht hat wenig bis keine emotionale Ladung mehr. Um den Klienten aus seinen verkopften Reportagen in das Gefühl zu bekommen, unterbrechen wir ihn meistens sehr schnell, denn wenn wir ihn zu lange reden lassen, bleibt er im Kopf. Indem wir ihn unterbrechen, am besten mit einer unerwarteten Äußerung, schubsen wir ihn aus seinem starren Gleis und zwingen ihn zu neuen Sichtweisen und Gefühlen. Schon Milton Erickson sagte: Der beste Indikator für Veränderung beim Klienten ist die Unvorhersagbarkeit des Therapeuten.
Wenn man die Klienten nach der Sitzung fragt, ob sie überhaupt gemerkt haben, dass sie immer wieder unterbrochen wurden, sagt die Mehrzahl von ihnen: »Nein. Das hab ich nicht so empfunden.« Das liegt daran, dass wir den Klienten nicht mit irgendeinem eigenen Thema unterbrechen, sondern als Berater ständig in der »mentalen Unterhose« des Klienten sind, d. h., wir versuchen, so zu denken wir er und diese Denke provokativ zu karikieren. Von außen (im Plenum des Seminars z. B.) wirkt das immer anders als innerhalb des Zweiergesprächs.
Natürlich heißt das nicht, dass Sie die Klienten nie zu Ende sprechen lassen dürfen. Erfragen Sie Dinge, die Sie wissen möchten oder die Sie noch nicht verstanden haben. Versuchen Sie nur zu merken, wann der Klient in seine Kopfreportage verfällt. Dann haken Sie ein, gerne auch mitten im Satz, um den Klienten aus seiner Selbsthypnose zu werfen.
3.3Der systemische Aspekt
Als Noni Höfner in den 1960er-Jahren Psychologie studierte, galt das Augenmerk dem Individuum. Der Klient (damals noch Patient genannt) hatte Symptome, die es zu beseitigen galt. Der systemische Ansatz war noch in weiter Ferne.
Farrelly bezog mit seiner Provokativen Therapie von Beginn an das Umfeld des Klienten mit ein. Er arbeitete systemisch, auch wenn der Begriff »Systemische Therapie« noch nicht existierte. Er machte den Patienten ihren Eigenanteil an der Aufrechterhaltung ihrer Symptomatik klar und sorgte dafür, dass die Patienten aufhörten, um ihren Bauchnabel zu kreisen, dass sie den Blick hoben und sich darauf besannen, inwieweit sie mit anderen Menschen verzahnt sind und welche Wechselwirkungen zwischen ihnen und ihrem Umfeld bestehen.
Wenn man also unbedingt ein Etikett braucht, könnte man die Provokative Therapie als »Emotionale Systemische Verhaltenstherapie« bezeichnen.
3.4Der Provokative Ansatz und die Hypnotherapie
In der Hypnotherapie gibt es mannigfaltige Möglichkeiten, Trance beim Klienten zu induzieren. Auch der Provokative Ansatz löst innere Suchvorgänge aus, durch die Trancezustände gekennzeichnet sind – zum...