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Verändertes Selbsterleben bei Demenz: Was bedeutet „gute“ Demenzpflege?
Silvia Silva Lima, Geri Meier und Christoph Held
Während früher ausschließlich Schreckensbilder des Zerfalls und des Verlustes den Zustand von Patienten mit Demenz beschrieben, wissen wir heute, dass auch bei schweren Gedächtnis-, Denk- und Sprachstörungen eine einigermaßen geglückte Kommunikation mit den Betroffenen möglich ist – wenn auch in veränderter Form. Es käme vor allem darauf an, dass die Umgebung den Ausdruck und das Verhalten der Betroffenen deuten und verstehen kann.
Tag für Tag erleben Pflegende und Angehörige Demenz bei ihren Bewohnern als wechselhaftes und wenig vorhersagbares Geschehen.
Im vorliegenden Buch versuchen wir, den psychiatrischen Hintergrund dieses Geschehens zu beleuchten und pflegerische Maßnahmen davon abzuleiten. Fest steht: Die Pflege von Bewohnern mit Demenz erfordert im Alltag viel Zeit, anstrengende Überlegungen, einschneidende Anpassung, intensive Einfühlung und strapazierte Geduld. Sie widersetzt sich einer normiert ablaufenden Pflege-„Planung“.
1.1
Demenz und „Lebensqualität“
Demenz ist eine Begleiterscheinung einer älter werdenden Gesellschaft. Ein Teil der älteren und alten Menschen muss sich in dieser Lebensphase auf körperliche und geistige Beeinträchtigungen einstellen. Wenn wir davon ausgehen, dass alle pflegerische und betreuerische Unterstützung und Anstrengung dem Ziel dienen sollen, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, so muss zunächst dieser Begriff diskutiert werden. Zu Recht wird in zahlreichen ambulanten und stationären Pflegeinstitutionen die Lebensqualität mit einem subjektiven Wohlbefinden derjenigen, die mit einer Demenz leben, in Verbindung gebracht. Der britische Demenzforscher Tom Kitwood (2016) stellt in diesem Zusammenhang vier globale subjektive Zustände vor, welche die Grundlagen allen menschlichen Wohlbefindens ausmachen und auch bei Demenzbetroffenen – zumindest teilweise – gelebt werden können:
- das Gefühl, etwas wert und für andere wichtig zu sein,
- das Gefühl, etwas tun zu können,
- das Gefühl, mit andern noch in Kontakt treten zu können, sie zu erreichen und eine Antwort zu erhalten,
- das Gefühl der Hoffnung oder des Urvertrauens.
Von diesen Grundgefühlen ausgehend sollten demenzkranke Menschen – wie alle anderen Menschen auch – ermutigt und unterstützt werden, in ihrem Leben noch so viel wie möglich für sich selbst und auch für andere zu tun, ihren Tagesablauf selbst zu bestimmen und am Geschehen teilzuhaben.
1.2
Demenz, Selbsterleben und dissoziatives Erleben
An der schwierigen Erfüllung dieser Forderungen für die Lebensqualität bei Demenz setzen die Schwierigkeiten ein. Denn zerstörerischer als der Verlust des Gedächtnisses, der Orientierung und der Sprache wirken sich die Veränderungen im Selbsterleben der Betroffenen aus. Diese Veränderungen, die wir in den folgenden Kapiteln ausführlicher beschreiben werden, führen bei Demenz nicht nur zum allmählichen Vergessen der autobiografischen Zusammenhänge, also „wer man war“ und „was man im Leben gemacht hat“, sondern oft auch zum Verlust einer zentralen Kontrolle über eigene Wahrnehmung und Handlungen. Es kommt zu einer Art „Filmriss“ im eigenen Gedankenstrom.
In einem solchen Zustand, der in der Psychiatrie als dissoziativer Zustand bezeichnet wird, können keine Entscheidungen über sich selbst getroffen werden – in sehr späten Phasen der Krankheit können Betroffene kaum mehr entscheiden, ob sie aufstehen oder sitzen bleiben, weiterkauen oder schlucken wollen. Ganz allgemein können durch einen allmählichen Verlust einer zentralen Kontrolle zuerst die komplexeren Aufgaben des täglichen Lebens (z.B. die finanziell-administrativen Angelegenheiten) und später die basalen Aktivitäten des täglichen Lebens (z.B. Sich-Ankleiden, Sich-Waschen) nicht mehr von selbst erledigt werden.
Dauern dissoziative Zustände an oder häufen sie sich, wird dem Selbsterleben der Betroffenen langsam der Boden entzogen, sodass sie ihre eigenen Veränderungen häufig nicht wahrnehmen, sozusagen nicht in die Demenz mitnehmen können, über weite Strecken gleichsam ahnungslos sind. Die Wesensveränderung des Betroffenen bleibt dann paradoxerweise eine Feststellung, die nur noch Angehörige oder Pflegende machen können.
1.3
Paradoxe Pflegesituation
Wegen diesen Gegebenheiten führt Demenz zu einer völlig anderen Pflege- und Betreuungssituation als bei Krankheiten geistig intakter Menschen, die ihre Symptome und die daraus resultierenden Bedürfnisse reflektieren und ihre Entscheidungen, welche Unterstützung sie annehmen oder ablehnen möchten, selber treffen können. Menschen mit fortgeschrittener Demenz dagegen können darüber oft keine eindeutigen und zuverlässigen Angaben machen.
In solchen Situationen bekommt der Begriff Lebensqualität eine zusätzliche Dimension. Die Befragung der Betroffenen um ihre Befindlichkeit, die oft vergebliche Ergründung ihres eigentlichen „Willens“, das Anbieten zahlreicher Auswahlmöglichkeiten können bei den Betroffenen Angst und Leiden noch verstärken. Lebensqualität würde für den Bewohner in dieser Situation bedeuten, dass seine Bedürfnisse durch andere Menschen wahrgenommen, erraten, gedeutet und möglichst erfüllt werden.
1.4
Demenz und Würde
Von außen betrachtet kann eine solche Unterstützung als Übergriff aufgefasst werden, als ethischer Fehler, indem die Würde des Betroffenen tangiert sein kann. Gerade bei demenziellen Erkrankungen ist der Appell an die Würde der Betroffenen zwar wichtig und notwendig, hilft aber dem um eine Entscheidung seines Handelns ringenden Helfer im pflegerischen Alltag oft recht wenig. Wenn eine Hilfestellung für einen Menschen mit fortgeschrittener Demenz vor dem Hintergrund der krankheitsbedingten Gegebenheiten geschieht, kann die Würde des Betroffenen aber durchaus gewahrt werden. Würdelos – weil Leid verstärkend – hingegen ist es, ihn zu überfordern.
1.5
Medizinische Diagnostik und Pflegekonzepte
Medizinische Erfassungsskalen, wie z.B. der häufig verwendete Minimentalstatus nach Folstein, das Zeichnen einer Uhr oder eine Erfassung von Alltagsressourcen, mit denen versucht wird, aufgrund von Ressourcendefiziten einen „Schweregrad“ der Krankheit zu erfassen, helfen bei der alltäglichen Betreuung und Pflege oft nicht weiter.
Auch bestimmte Pflegekonzepte, die das oft rätselhaft wirkende Verhalten der Betroffenen vor einem bestimmten Hintergrund zu deuten und in ein bestimmtes Schema zu zwängen versuchen, z.B., dass ein Bewohner ausschließlich in der „Vergangenheit“ lebt und seine Umgebung und Betreuung entsprechend gestaltet werden sollten, müssen hinterfragt werden.
Jeder demenzbetroffene Mensch erlebt seine veränderte Wahrnehmung und fragmentierte Erinnerung nämlich unterschiedlich und verknüpft seine oftmals zerrissenen Gedanken immer wieder neu. Darum erleben Pflegende und Angehörige das Bild der mittelschweren bis fortgeschrittenen Demenz als sehr wechselhaftes Geschehen. Geistige Höchstleistung zeigt sich dann gleichzeitig neben geistiger Fehlleistung. Die Gewissheit über sich selbst und den eigenen Körper kann von einem Moment zum anderen verloren gehen.
1.6
Das „dritte“ Auge und Ohr entwickeln
Viele Pflegende und Angehörige von Patienten mit einer Demenz sind über die Jahre der Betreuung wahre Künstler einer hilfreichen, aber diskreten Unterstützung geworden und können ihre Patienten mit Zuwendung, nonverbaler Kontaktaufnahme, manchmal mit scheinbar belanglosem Plaudern, mit Vertrauen und Schonung erreichen. Sie haben eine Art drittes Auge oder drittes Ohr für die Bedürfnisse der Betroffenen entwickelt und können bei ihnen verweilen, ohne ständig etwas zu fragen, zu wollen oder zu erklären. Weil ihnen das veränderte Selbsterleben der Betroffenen geläufig ist, können sie im Alltag am meisten helfen, indem sie den „Filmriss“, den die Betroffenen erleben, nicht ständig wieder „zusammenkleben“ wollen. Sie akzeptierten dieses Geschehen und fordern weder ein Echo noch eine Bestätigung ihrer Unterstützung.
Weil die Pflegenden darüber hinaus gemerkt haben, dass verändertes Selbsterleben auch mit Angst, Wahn, Halluzinationen und Unruhe verbunden sein kann, wissen sie um die Wirkung von Zuwendung und Begleitung, Schutz und Geborgenheit.
1.7
Kann die Qualität der Demenzpflege erfasst werden?
Dieses empirische Wissen der Pflegenden, das wir in diesen gesammelten Beiträgen ausbreiten wollen, entzieht sich häufig einer konzeptuellen Anwendung und einer wissenschaftlichen Auswertung. Die wichtige und berechtigte Frage nach einer „guten“ Demenzpflege kann deshalb nicht eindeutig, nicht mit „Evidenz“ beantwortet werden. Auch wissenschaftliche Studien mit scheinbar objektiven Kriterien, wie z.B. die Menge der...