Wieder in der Schule
Šamorín, September 1945
Die langen, heißen Sommertage sind vorüber und die Blätter unserer Akazie haben sich goldgelb verfärbt. Während ich mit den Schulheften unter dem Arm die Hauptstraße entlanglaufe, sauge ich mit der Atemluft die melancholische Botschaft des Herbstes ein. Die letzten Überbleibsel des Sommers mit gelegentlichen Funken von Sonnenlicht überdecken ein zartes und bittersüßes Gefühl des Abschieds. Eine Schultasche aus Leinen, die Mami aus einem alten Rucksack geschneidert hat, ist stolz über meine Schulter geschwungen. Ich gehe wieder zur Schule.
Ich bin hier die einzige Überlebende, die wieder die Schulbank drücken will, und so besuche ich erneut meine alte Schule, die städtische Mittelschule von Šamorín. Erneut bin ich in der Abschlussklasse, in meinem alten Klassenzimmer. Genau wie früher hängt der Geruch nach ranzig gewordenem Öl im Raum. Die Tafel hat an denselben Stellen Risse. Wenn die Kreide über die Tafel quietscht, bekomme ich wie schon seit jeher Gänsehaut. Und auch das Läuten der Schulglocke am Ende der Stunde erschreckt mich immer noch.
Und doch ist nicht alles so wie einst. Andere Mitschüler. Andere Lehrer. Eine andere Unterrichtssprache. Unsere Stadt und die umliegende Gegend gehören nicht mehr zu Ungarn. Sie gehören jetzt wieder zur Tschechoslowakei. Viele meiner christlichen Freunde sind mit ihren Familien als alteingesessene ungarische Bauern und Landbesitzer auf die andere, die ungarische Seite der Donau umgesiedelt worden. An ihrer statt wurden neue Leute geholt. Tschechische und slowakische Lehrer unterrichten jetzt anstelle der ungarischen, die ich früher hatte. Und die ich geliebt habe. An der Schule findet sich kein einziges bekanntes Gesicht mehr.
Meine Klassenlehrerin war früher Frau Kertész. In den Lagern, bei der Zwangsarbeit, bei den endlosen Zählappellen und in überfüllten Viehwaggons habe ich immer wieder sehnsüchtig an sie gedacht. Da ich weder Papier noch Stifte hatte, schrieb ich ihr in Gedanken lange Briefe und berichtete darin von meinen Sorgen, meinem Schmerz und meiner Todesangst. Und ich betete, dass ich eines Tages zurückkehren würde und ihr diese Briefe wie ein Kapitel meiner Seele in die Hand drücken könnte. In Gedanken sah ich sie lächeln und mich loben.
Nun bin zwar ich zurückgekommen, aber nicht Frau Kertész, und niemand hier hat je von ihr gehört.
Kein Mensch erinnert sich an Herrn Apostol, der früher unser Rektor war und wie eine mächtige Zitadelle über die Schule wachte. Keiner kennt Herrn Kállai, den beliebten Sachkundelehrer, oder Fräulein Aranka, die kleine, alte Jungfer, durch die der Mathematikunterricht zum Synonym für blanken Terror wurde. Ich bin die Einzige, die sich an all diese Menschen erinnert. Und ich habe niemanden, mit dem ich meine Erinnerungen teilen könnte.
Nicht ein Jahr und zwei Monate lang war ich weg – nein, eine ganze Ewigkeit. Ich war auf einem anderen Planeten, im Reich der Vernichtungslager Polens und Deutschlands.
Als ich weggebracht wurde, war ich eine energiegeladene Dreizehnjährige mit langen, blonden Zöpfen und in glücklicher Erwartung der Überraschungen, die das Leben für mich bereithielt. Ich kam zurück als wissende, geläuterte Erwachsene, bar meiner Zöpfe und jeder Erwartung.
Die Haare wachsen jetzt wieder. Und ich habe zwei neue Freunde. Am dritten Schultag, als ich in der Pause alleine dastand, kamen Yuri und Marek auf mich zu und wollten wissen, wer ich sei. Als ich auf Slowakisch antwortete, sprangen sie vor Freude fast in die Luft. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass ich sie verstehen würde. Yuri ist aus der Sowjetunion und kann nur Russisch, Marek ist aus Böhmen und spricht Tschechisch. Beide Sprachen sind mit dem Slowakischen verwandt, deshalb können wir uns problemlos verständigen. Alle anderen Mitschüler reden nur Ungarisch, was mit dem Slowakischen rein gar nichts gemein hat. Sie sind Slowaken, die in Ungarn geboren und zur Schule gegangen sind und von der Regierung erst kürzlich »repatriiert« wurden. Weil ich hier geboren bin, kann ich sowohl Ungarisch als auch Slowakisch. Binnen kurzer Zeit habe ich durch meine Sprachkenntnisse eine gewisse Berühmtheit erlangt und mir die Position der Klassendolmetscherin erarbeitet. Und die Freundschaft von Yuri und Marek. Mittlerweile sind wir unzertrennlich geworden.
Obwohl ich ein ganzes Schuljahr versäumt habe, sind meine Mitschüler so alt wie oder sogar älter als ich. Während der ungarischen Besatzung hatte ich die Möglichkeit, nach vier Jahren Grundschule in die Mittelstufe zu wechseln. In der Tschechoslowakei und der Sowjetunion dauert die Grundschule fünf Jahre.
Nach wie vor kann ich kaum glauben, dass ich jetzt zur Schule gehe und wie früher in einer Welt der Fächer, Hausaufgaben, Lehrer, Mitschüler und Prüfungen lebe. Meine Schulfreunde kämpfen mit nichts anderem als Matheproblemen, russischer Grammatik und ihren Aufsätzen in slowakischer Sprache. Wie sehr wünschte ich, ich könnte genauso sein wie sie.
Zwei russische Soldaten gehen vorbei und stoßen quiekende Laute der Begeisterung aus. Den Vorwurf, Mädchen seien ihnen gleichgültig, kann man diesen Russen definitiv nicht machen. Einer versucht, mir den Weg zu versperren, doch ich weiche ihm mit geübtem Elan aus und eile weiter die Straße entlang. Die Rollläden der Geschäfte sind zu, obwohl es schon fast acht Uhr morgens ist. Seit dem Ende des Krieges öffnen die Geschäfte nicht mehr um acht. Es gibt kaum etwas zu verkaufen, deshalb bleiben viele den ganzen Tag lang geschlossen.
Eine große sowjetische Flagge hängt über dem Eingang der Schule und überdeckt mit ihrem Stern beinahe die kleinere, rotweiß-blaue Flagge der Tschechoslowakei. Die Schulglocke läutet, als ich die breite Treppe zum Eingang erreiche. Vor der Schule ist niemand zu sehen; alle Schüler sind bereits hineingegangen. O Gott, bin ich vielleicht zu spät dran? Wie spät ist es denn? Von hier aus kann ich die Turmuhr nicht sehen. Und warum gibt es eigentlich das Acht-Uhr-Läuten der Kirchenglocken nicht mehr?
Mit einem Stechen in der Magengegend eile ich in mein Klassenzimmer. Beim Eintreten wirft mir der Lehrer einen fragenden Blick zu. Aber Pan Černiks kantiges, fast viereckiges Gesicht mit den freundlichen, blauen Augen wirkt eher amüsiert als verärgert, als er mein Auftauchen mit einem Kopfnicken registriert. Die Dielen knarren, als ich auf Zehenspitzen zu meinem Platz in der hintersten Reihe gehe und mich verlegen an Yuri und Marek vorbeiquetsche. Yuri schämt sich immer für mich, wenn ich zu spät komme. Er räuspert sich missbilligend und fragt mit gepresster Stimme: »Hast du die Hausaufgaben? Ich geb’ sie für dich ab.«
»Hast du deine schon abgeliefert?«
»Ja. Er hat schon alles eingesammelt.« Yuri schnappt mir das Blatt aus der Hand und geht nach vorn zu Herrn Černiks Tisch:
»Pan učitel. Herr Lehrer. Hier sind die Aufgaben von der Friedmannowa.«
Pan Černik nickt erneut, lächelt milde und beginnt mit der Stunde, in dem Fall Gesundheitslehre. Obwohl das Slowakische relativ neu für mich klingt, kann ich Pan Černik dank seiner deutlichen Aussprache recht gut verstehen. Er unterrichtet mit besonderer Rücksicht auf die ungarischsprachigen Schüler, macht nach jedem Satz eine kleine Pause, stellt Verständnisfragen, wiederholt wichtige Punkte und wartet dann geduldig, bis alle fertig geschrieben haben. Wir haben keine Bücher, deshalb müssen wir den Stoff der jeweiligen Stunde komplett aufschreiben.
Vor dem Krieg gab es für jedes Fach einen anderen Lehrer. Jetzt unterrichtet Herr Černik sämtliche Fächer, mit Ausnahme von Russisch. Das kann er nämlich nicht. Er ist Slowake aus dem Hügelland im Norden, ein kräftig gebauter Mann mit breiten Schultern und einem freundlichen, wenngleich müde wirkenden Gesicht von leicht dunkler Hautfarbe. Fräulein Drugowa, die Russischlehrerin, ist energisch und drall und hat ihr hellbraunes Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Genossin Drugowa pflegt eine präzise und fast schon kompromisslose Art des Unterrichts. Sie hat keinerlei Bewusstsein dafür, dass manche Besonderheiten des Russischen komisch wirken könnten – zum Beispiel, dass sie Hitler immer als »Gitler« bezeichnet oder zu Hans immer »Gans« sagt –, und betrachtet unser allfälliges Gelächter als persönlichen Affront.
Genossin Drugowas Lust am Unterrichten passt hervorragend zu meiner Lust am Lernen. Ich bin wie eine Musikerin in ihrem Orchester und lerne Russisch in dem ähnlich unbarmherzigen Tempo, in dem sie dirigiert. Gedichte von Puschkin und Lermontow, Erzählungen von Gogol und Lazhechnikow, die Theaterstücke von Tschechow. Für mich verwandelt Genossin Alla Drugowas gnadenloser und bierernster Frontalangriff den Russischunterricht in ein Liebesfest des Lernens.
Der...