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E-Book

500 Meter

Trotz Multipler Sklerose um die Welt

AutorKnud Kohr
VerlagAufbau
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783841216717
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
'Ich wusste, ich konnte nur noch 500 Meter weit gehen, doch das reichte mir, um die Welt zu sehen.' Loslaufen statt aufgeben. Als Knud Kohr mit 37 Jahren erfährt, dass er an MS leidet, weiß er nicht, wie viel Zeit ihm bleibt, um das zu tun, was er schon immer machen wollte: Einmal um die Welt reisen. Manchmal an einem Stock, manchmal an zweien und manchmal fast symptomfrei wandert er über die Hochplateaus von Island und bei fünfzig Grad im Death Valley. Eine Horde alter laotischer Schnapsbrennerinnen stoppt sein Kreuzfahrtschiff auf dem Mekong, ein Maori-Häuptling lehrt ihn das Madenessen, und ein Kapitän namens 'Hurricane Johnny' lässt ihn sein 100 Jahre altes Schiff steuern. Bei jeder dieser Begegnungen lernt Knud Kohr mehr über seine Krankheit und über den Umgang mit ihr, und am Ende steht eine ermutigende Erkenntnis: Loslaufen ist besser als aufgeben... 'Die Krankheit ist stark und beeinflusst unser Leben in jeder Minute, bei jedem Schritt. Aber sie ist nicht stark genug, uns dazu zu zwingen, unsere Ziele aufzugeben.' Die berührende Geschichte eines Mannes, der seiner Krankheit die Stirn bietet und sich sein Leben zurückerobert.

Knud Kohr, 1966 in Cuxhaven geboren, studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Er lebt als Reisejournalist und Drehbuchautor in Berlin und schreibt für 'Neue Zürcher Zeitung', 'Tagesspiegel' und 'Abenteuer und Reisen'. 2009 erschien sein erster Roman 'In Cuxhaven'.

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Leseprobe

Währenddessen. Krank nach Kanada


Eine alte Dame stellte sich mir in den Weg. Zuvor hatte sie sich hilfesuchend auf dem Terminal Zwei des Münchner Flughafens umgesehen. Jetzt zeigte sie auf ihr Gepäck, das neben einem Rollwagen stand. Eine Reisetasche und ein Koffer.

»Können Sie mir eben helfen?«, fragte sie. »Die Sachen sind so schwer, ich krieg die da gar nicht rauf.«

Mein Gepäck war schon in Berlin-Tegel bis Toronto durchgecheckt worden. Bis zum Weiterflug waren es noch knapp zwei Stunden. Gerade überlegte ich, an welchem Zeitungsstand ich mich bis dahin langweilen sollte. In solchen Situationen ist meine Ritterlichkeit immer am stärksten. Gerade Damen gegenüber. Trotzdem zögerte ich. Eine Tasche, ein Koffer. Warum hatte sie ausgerechnet mich gefragt?

»Erst mal die kleine, zum Warmwerden«, scherzte ich und griff mit einem Ruck nach der Tasche.

Das alte, mit Lederflicken verzierte Ding aus Leinen war wesentlich schwerer, als es aussah. Ich setzte es noch mal ab und holte ein wenig Schwung. Wuchtete es vom Boden hoch und beförderte es mit einem kleinen Halbkreis durch die Luft in Richtung Gepäckwagen. Dabei verlor ich das Gleichgewicht. Die Tasche polterte zurück auf den Teppich und riss mich mit. Mein rechter Fuß suchte Halt und hakte dabei hinter dem linken ein. Ich fiel direkt vor der alten Frau auf die Knie. Sie blickte erstaunt.

»Das versuche ich wohl besser noch mal«, sagte ich viel zu fröhlich und griff erneut nach der Tasche. Die Frau musterte mich. Ein bisschen zweifelnd, ein bisschen mitleidig.

Dann sagte sie es: »Ich frage mal jemand anders. Sie sind ja auch nicht so gut zu Fuß.«

Während ich mich noch aufrappelte, sprach sie schon den nächsten Reisenden an. So unauffällig wie möglich griff ich nach meinem Rollkoffer und verschwand.

Warum war ich umgefallen? Ich konnte mich nicht erinnern, an welcher Stelle der Aktion ich den Halt verloren hatte. Vor einigen Monaten war ich regelmäßig gestürzt. Einfach so. Aber vor zwei Wochen hatte das aufgehört. Einfach so. Und egal, was die Ärzte mir in der Zwischenzeit einreden wollten: Ich war wild entschlossen, diese seltsamen Gleichgewichtsstörungen so schnell wie möglich zu vergessen.

Bis zur Kontrolle von Pass und Handgepäck kam ich gut voran. Ich schob entschlossen einen Fuß vor den anderen und fand festen Halt auf dem stumpfen Boden. Dann wurden meine Schritte langsam schwerer. Als ob ich Skistiefel anhätte und damit über eine riesige Fußmatte mit hohen, starren Borsten gehen müsste. Zweimal blieb ich hängen. Kleine, ungelenke Sprünge sorgten dafür, dass ich nicht wieder fiel.

Leute, die an den Kontrollen hinter mir gestanden hatten, strömten auf dem Weg zum Gate rechts und links an mir vorbei. Mein rechter Fuß begann sich immer weiter nach außen abzuspreizen, bis ich ihn nur noch im Winkel von sechzig, siebzig Grad aufsetzen konnte. Wären meine Füße Uhrzeiger gewesen, sie hätten ungefähr fünf vor zwei angezeigt.

Die Position meiner Füße zu korrigieren war plötzlich unmöglich. Sie taten nicht weh, aber sie gehorchten mir nicht mehr. Ein weiterer Blick nach unten. Jetzt hatte jemand meine Füße auf Sommerzeit umgestellt. Fünf vor drei. Als noch sechs Gates zwischen mir und meinem Ziel lagen, begann ich mich an der Wand abzustützen. Noch immer war reichlich Zeit. Ich schleppte mich in die nächste Toilette und setzte mich in einer Kabine auf den Deckel.

Zum ersten Mal hatte ich sechs Monate zuvor Schwierigkeiten beim Gehen bekommen. Bei einer Urlaubsreise durch Portugal wachte ich eines Morgens im Hotel auf und bemerkte, dass ich mein rechtes Bein nur noch wenige Zentimeter heben konnte. Selbst über die Badezimmerschwelle kam ich nur dann, wenn ich das Bein aus der Hüfte heraus über das kleine Hindernis wuchtete. Treppensteigen wurde unerklärlich schwierig: Auf dem Weg nach unten musste ich mit einer Hand das Geländer greifen und mich mit der anderen an der Wand abstützen, um nicht mit dem Kopf zuerst anzukommen. Und auf dem Rückweg ins Zimmer blieb ich oftmals an der Kante der Stufen hängen und musste einen neuen Versuch unternehmen. Jedenfalls mit dem rechten Bein. Ausschließlich mit dem rechten Bein, um genauer zu sein.

Schon einige Tage vor dem Urlaub hatten sich vergleichbare Symptome gezeigt. Doch da dachte ich noch, dass meine berufliche Situation daran schuld wäre. Ich hatte in dieser Zeit viel zu viel Stress. Vor kurzem hatte ich mich von einer Filmfirma getrennt, für die ich zwei Jahren lang Drehbücher entwickelt hatte, und war nun sicher, dass ich binnen kürzester Zeit qualvoll verhungern müsste. Mein ganzer Körper war vor Stress verkrampft, und in den Urlaub war ich zusammen mit meiner Freundin mehr oder weniger geflohen.

Unsere Reise begann in Lissabon, meiner Lieblingsstadt. Dort hoffte ich Ruhe zu finden. Aber die Erstarrung im Bein löste sich nicht. Im Gegenteil: Von Tag zu Tag wurde sie schlimmer, bis ich den Fuß auf den gepflasterten Straßen nur noch nachschleifen konnte. Leider besteht die Altstadt von Lissabon fast nur aus Kopfsteinpflaster, steilen Hügeln und engen Wegen. Es gab also reichlich Gelegenheit zum Nachschleifen.

Jeden Morgen versuchte ich mir einzureden, dass diese seltsame Lähmung über Nacht verschwunden war. Doch spätestens mittags musste ich mir eingestehen, dass ich mir in die Tasche log. Was war eigentlich los? Leute, die plötzlich anfangen zu humpeln oder Gleichgewichtsstörungen bekommen, haben in der Regel einen Schlaganfall erlitten. Oder einen Gehirntumor. Aber so was merkt man doch, oder? Und außerdem war ich so gut in Schuss, wie man es als 37-jähriger Schreibtischarbeiter sein kann, der weder raucht noch trinkt, auf sein Gewicht achtet und zweimal pro Woche im Fitnessstudio trainiert. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun.

Nach einigen Minuten auf der Toilette gelang es mir, die Füße wieder in eine parallele Stellung zu bringen. Dann ging ich zum Spiegel und starrte mein Gesicht an. Atmete konzentriert ein und aus. Das hatte mir eine Ärztin geraten, die am Stadtrand von Berlin nach Prinzipien der Traditionellen Chinesischen Medizin praktizierte. Sie war mir von einem Freund empfohlen worden, der unter Hodenkrebs litt. Nachdem sie ihm den rechten Hoden schon abgeschnitten und alle Schulmediziner zur Amputation auch des zweiten Hodens geraten hatten, war er in einem letzten Versuch zu der unerschrockenen Ärztin nach Zehlendorf gegangen, die viele Jahre zuvor ihre schulmedizinische Karriere zugunsten alternativer Behandlungsformen beendet hatte. Sie war erfolgreich gewesen und hatte den Krebs meines Freundes mit speziellen Tees aus hochwirksamen Kräutern, Hölzern und Muscheln zum Stillstand gebracht. Vorläufig.

»Knud, fahr doch mal zu ihr raus«, hatte der Freund am Telefon gesagt. »Vielleicht kann sie ja was für dich tun. Ich kann nur sagen: Auf einem Ei steht es sich prima. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Vier Tage später fuhr ich an den Stadtrand. Die Ärztin war sehr nett zu mir gewesen. Hatte mich ausführlich untersucht, mir zwei neue Termine gegeben und dann auch für mich eine Teemischung zusammengestellt, die ich alle paar Tage selbst kochen und in Flaschen umfüllen musste. Das Gesöff schmeckte furchtbar und rumorte ständig in meinem Magen. Aber ich hatte das Gefühl, etwas zu tun. Auch ein Buch hatte die Ärztin mir mitgegeben, das die Prinzipien der chinesischen Medizin erklärte. Es lag ungelesen in meinem Schreibtisch.

Nun stand ich in einer Flughafentoilette. Gleich würde ich einen Fotografen treffen, mit dem ich noch nie zusammengearbeitet hatte, um für ein Münchner Hochglanzreisemagazin in die kanadischen Wälder zu fliegen und mit Indianern vom Stamm der Ojibwe im Tipi zu wohnen. Zwischen Elchen, Wölfen und Bären. Wenn ich auf einem glatten Teppich ging, musste ich mich nach einigen Metern an der Wand abstützen. Meine einzige Waffe war ein Plastiktütchen mit Kräutergranulat, das mir die Zehlendorfer Hodenretterin verschrieben hatte. War ich eigentlich völlig wahnsinnig geworden? Das Lachen des Mannes im Spiegel sah verbeult aus und hörte sich rostig an. Noch eine Dreiviertelstunde bis zum Abflug nach Kanada. Zeit zu gehen.

Draußen fiel mir das Gehen wieder etwas leichter. Am Gate stand ein Mann, von dem ich wusste, dass er Thomas hieß. Als er mich sah, begann er zu grinsen. Am Telefon hatte er mir erzählt, dass ich ihn an seiner Glatze leicht erkennen würde. Da ich mir aus Haarmangel ebenfalls den Kopf nass rasierte, hatten wir Gelegenheit, Witze über unsere nicht vorhandenen Frisuren zu machen. Nicht der schlechteste Auftakt, wenn man sich nicht kennt und trotzdem am Ende der Welt miteinander zelten soll.

Thomas trug ein brüllend buntes T-Shirt. Vor seinen Füßen stand die für Fotografen typische, bis zum Bersten gefüllte Tasche mit Handgepäck. Als wir uns die Hand schüttelten, fiel mir auf, dass er nicht nur keine Haare auf dem Kopf hatte, sondern auch keine Augenbrauen. Keinen Bartschatten. Nichts. Auf den ersten Blick sah Thomas aus wie ein netter Bewohner von Alpha Centauri, der sich verflogen hat. Oder seinen wohlverdienten Jahresurlaub auf der Erde verbringt. Auch ihm war etwas aufgefallen.

»Fuß verknackst?«, fragte er.

»Ach, das ist bloß …« Mit einer unbestimmten Geste in Richtung meiner Füße ließ ich die Antwort sterben. »Lass uns mal einchecken.«

Damit schlurfte ich an ihm vorbei. Dass wir in den nächsten Jahren mehrere Monate auf vier Kontinenten verbringen und uns manches Mal Dinge voneinander erzählen würden, die allenfalls noch unsere Frauen, aber sonst...

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