1.1 Soziale Isolation – Folgen, Ursachen und Handlungsansätze
Martin Hafen
1.1.1 Einleitung
Im Vergleich zu allen bisherigen Gesellschaftsformen leben die Menschen in den wohlhabenden Ländern der heutigen Zeit zunehmend isoliert. Das hat Auswirkungen. Nicht nur, dass sich soziale Isolation negativ auf das Wohlbefinden auswirkt; fehlende soziale Beziehungen machen das Auftreten unterschiedlicher Krankheiten wahrscheinlicher und verkürzen statistisch gesehen die Lebenszeit. So zeigen Holt-Lunstad, J., Smith, T. B. & Layton, J. B. (2010) in ihrer umfassenden Übersichtsarbeit, dass soziale Isolation ein ebenso relevanter Risikofaktor für die Gesundheit ist wie Rauchen oder massives Übergewicht (Adipositas). Nun gibt es aber auch Menschen, die generell lieber allein sind und auf soziale Kontakte freiwillig verzichten. Weiter gibt es solche, die wohl gerne mehr sozialen Kontakt hätten, aber gut damit umgehen können, wenn sich diese Kontakte nicht ergeben. Die Wirkung sozialer Isolation als Risikofaktor für die psychische und körperliche Gesundheit eines Menschen scheint entsprechend von psychischen Einflussfaktoren abhängig. Im Vordergrund steht dabei das Gefühl der Einsamkeit, das in vielen Forschungsarbeiten in engen Zusammenhang mit sozialer Isolation gestellt und dem ein ungünstiger Einfluss auf die Gesundheit zugeschrieben wird (Elovainio et al., 2017).
In diesem Abschnitt geht es darum, sich aus einer interdisziplinären Perspektive mit unterschiedlichen Aspekten von sozialer Isolation und Einsamkeit zu befassen. Zuerst wird die Form der sozialen Isolation aus systemtheoretischer Perspektive näher bestimmt. Danach wird der Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Gesundheit im Detail ausgeführt. In der Folge wird nach Erklärungen für den engen Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Gesundheit gesucht. Und im letzten Abschnitt rücken Handlungsansätze zur Reduktion von sozialer Isolation und Einsamkeit in den Fokus.
1.1.2 Soziale Isolation – systemtheoretisch
Die soziologische Systemtheorie (Luhmann, 1994) wurde primär als Theorie sozialer Systeme konzipiert, etabliert sich aber sich immer mehr auch als Theorie psychischer und körperlicher Systeme (Fuchs, 2003, 2005). Sie bietet damit eine gute Grundlage für eine theoretische Analyse der sozialen Isolation und ihrer Folgen für die Psyche und den Körper eines Menschen. Die soziologische Systemtheorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Ebenen des Sozialen, des Psychischen und des Körperlichen analytisch strikt auseinanderhält. Auf jeder Ebene gibt es selbsterzeugende, selbstorganisierende (autopoietische) Systeme, die sich anhand ihrer spezifischen Operativität unterscheiden lassen. Die Operationen sozialer Systeme sind ausschließlich die Kommunikationen. Mit anderen Worten: Soziale Systeme reproduzieren sich dadurch, dass sie systemspezifische Kommunikationen aneinanderreihen und sich so von anderen Systemen unterscheiden. Die psychischen Systeme wiederum grenzen sich durch ihre spezifische Operativität – die Wahrnehmungen, Gedanken und Vorstellungen – von ihrer Umwelt ab. Die Operativität der körperlichen Systeme schließlich ergibt sich aus biologischen Prozessen. So bestehen die Operationen des Gehirns aus Verschaltungen von Nervenzellen und der Übertragung elektrischer Reize zwischen den verschalteten Zellen, wobei die Reize an den Schaltstellen (Synapsen) biochemisch umgewandelt werden.
Die Trennung der Systemebenen resultiert in der Vorstellung, dass die Psyche und der Körper eines Menschen nicht in der Kommunikation vorkommen, sondern die relevante Umwelt der Kommunikation und damit der sozialen Systeme ausmachen. Etwas anders formuliert: Die Kommunikation operiert mit einer hohen Eigenständigkeit, ist aber zu jedem Zeitpunkt auf die Operativität in der relevanten psychischen und körperlichen Umwelt angewiesen. Das Gleiche bei der Psyche: Aus der Perspektive des psychischen Systems sind die sozialen Systeme eine hochrelevante Umwelt, denn es wäre nicht in der Lage, sich mit anderen Psychen auszutauschen, wenn es keine Kommunikation gäbe. Trotzdem unterscheidet sich das psychische Geschehen grundsätzlich von der sozialen Operativität. Das lässt sich am Beispiel eines Seminars einfach illustrieren: Der Input einer Professorin und die nachfolgende Diskussion der Studierenden entspricht einer Abfolge von Kommunikationen, welche nicht ganz, aber weitgehend unabhängig von Gedanken und Wahrnehmungen ist, die – vollkommen im Stillen – während der ganzen Veranstaltung gleichzeitig reproduziert werden. Relevant für die Kommunikation sind nur die Gedanken, die in Form von Äußerungen oder Verlautbarungen in die Kommunikation einfließen, aber dann keine Gedanken mehr sind, sondern Kommunikationen, die durch das soziale System verarbeitet werden. Diese Verarbeitung kann im Sinne der beteiligten Psyche geschehen; das ist aber keineswegs zwingend der Fall. Die Psyche ihrerseits ist genauso wenig in der Lage, in die Kommunikation hineinzudenken, wie die Kommunikation in die Psyche hinein kommunizieren kann. Jedes psychische System bestimmt – bewusst oder unbewusst – selbst, welche Informationen es der Unterrichtskommunikation abgewinnt. Faktoren wie Aufmerksamkeit, Interesse und Vorwissen prägen diese Informationsverarbeitung in entscheidendem Ausmaß und unterstützen die systemtheoretische These, dass Information immer systemintern generiert und nicht eins zu eins von außen übertragen werden kann.
Da der Mensch mit seinem Körper und seiner Psyche nicht Teil des Sozialen, sondern relevante Umwelt ist, stellt sich die Frage, wie die Systemtheorie den Einbezug des Menschen in die Kommunikation beschreibt. Hierfür stehen die Begriffe „Person“, „soziale Adresse“ und „Inklusion“. Ausformuliert bedeutet dies, dass ein Mensch als Person in ein soziales System inkludiert und mit einer sozialen Adresse versehen wird. Die Konsequenz dieser Überlegung ist, dass jeder Mensch in jedem sozialen System eine andere Person ist und mit einer systemspezifischen sozialen Adresse versehen wird. Person und soziale Adresse stehen für die Erwartungen, die an den Menschen im jeweiligen System gerichtet werden. So wird von der Professorin etwas Anderes erwartet als von den Studierenden. Das deutet darauf hin, dass die Rolle ein wichtiger Aspekt der sozialen Adresse ist. Andere Aspekte, die eine mehr oder weniger große Bedeutung spielen, sind der Name, das Aussehen, das Geschlecht, das Alter und weitere Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, ob und wie ein Mensch als Person in ein bestimmtes soziales System inkludiert wird.
Der Begriff „soziale Isolation“ legt nun nahe, dass es sich um kommunikatives Geschehen bzw. Nichtgeschehen handelt. Soziale Isolation verweist aus der Perspektive der Systemtheorie auf eingeschränkte Inklusionsfähigkeit oder, um es anders zu fassen, auf eine erhöhte Betroffenheit von Exklusion (Hafen, 2015). Exklusion wird dabei nicht als soziale Operation (z. B. in Form einer Kündigung oder von Mobbing) verstanden, sondern einfach als Nichtinklusion. Die Kündigung selbst ist eine Form von Inklusion, weil die betroffene Person ja für die Kommunikation als relevant erachtet wird; aber natürlich verfolgt sie das Ziel, die Inklusionsfähigkeit dieses Menschen in Hinblick auf die im Fokus stehende Arbeitsstelle zu eliminieren. Das wiederum kann weitere Exklusionen nach sich ziehen, zum Beispiel aus dem Wirtschaftssystem, weil nach einer Kündigung das Geld knapp wird. Die eingeschränkte Inklusionsfähigkeit bedeutet entsprechend, dass es den Betroffenen trotz ihrer Bemühungen nicht gelingt, in sozialen Systemen Anschluss zu finden, weil ihre soziale Adresse (aus der Sicht der jeweiligen Kommunikationssysteme) beschädigt ist. Erwerbslosigkeit ist dabei nur eine Form von Exklusion. Es gibt auch eingeschränkte Inklusionsfähigkeit im Privatbereich – etwa, wenn man keine Freunde oder keinen Kontakt zur Kernfamilie hat. Erwerbslose und ältere Menschen sind darum überdurchschnittlich stark von sozialer Isolation betroffen, weil der wichtige Inklusionsbereich „Erwerbsarbeit“ weggefällt und es im privaten Bereich nicht immer einfach ist, neue Inklusionsmöglichkeiten zu schaffen (Abb. 1.1-1).
Abbildung 1.1-1: Einsamkeit in der Großstadt (Foto: © J. P. Poffet)
1.1.3 Soziale Isolation und Gesundheit
Körperliche und psychische Krankheiten entstehen in der Regel aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren, die einerseits im sozialen Umfeld der Individuen, andererseits aber auch im Körper und in der Psyche eines Menschen angesiedelt sind. Aus diesem Grund wird Gesundheit schon länger als biopsychosoziales Phänomen bezeichnet (Engel, 1977). So entfaltet auch soziale Isolation ihre ungünstige Wirkung auf die Gesundheit nicht alleine, sondern im Zusammenspiel mit anderen Einflussfaktoren. Im Vordergrund stehen dabei die psychischen Faktoren. Soziale Isolation wirkt als wahrgenommene Isolation und dann vor allem, wenn diese Wahrnehmung des Exkludiertseins oder der Qualität der Inklusion mit einer negativen Bewertung verbunden ist, was sich oft in Form des Gefühls der Einsamkeit manifestiert (Perlan & Peplau, 1981). Wir haben es bei sozialer Isolation entsprechend mit einem sozialen Risikofaktor zu tun, der im psychischen System eines Menschen einen weiteren Risikofaktor für die Gesundheit, nämlich die Einsamkeit, entstehen...