Das Präsenztier
Schwarzes T-Shirt, schwarzer Blazer aus Cord, Jeans, dazu als einzige kleine Extravaganz ein Paar hellbraune italienische Lederschuhe: Das ist die Berufskleidung des Romanisten und Philosophen Hans Ulrich Gumbrecht. So wie Mark Zuckerberg sich stets in ein weisses T-Shirt hüllt, so trägt Gumbrecht immerzu Schwarz. Silicon-Valley-Style. Eine solche grundlegende Entscheidung erleichtert einerseits das Leben, weil sie den Kopf frei macht für andere Belange. Andererseits wirkt sie stilbildend. Gumbrechts Gewandung erweist sich als cool, man könnte auch sagen: als sehr undeutsch und maximal antiprofessoral. In seinem Look verbirgt sich eine Pointe seines Lebens. Denn dieser Look erlaubt ihm, die wilden 1960er-Jahre der Bundesrepublik Deutschland in der unternehmerischen amerikanischen Gegenwart aufzuheben. Klar, das muss einem wie Gumbrecht gefallen. Wenn er kein Ironiker ist, so ist er doch ein «gambler», der mit den Erwartungen des Publikums zu spielen versteht.
Vor allem aber akzentuiert die schwarze Grundierung jenen Körperteil, der dem Betrachter sogleich auffällt, wenn er Gumbrecht zum ersten Mal begegnet: den markanten Kopf. Die weissen Haare, arrangiert in einer Mischung aus Bürstenschnitt und Wuschelfrisur, weisen in alle Richtungen. Dieser Mann ist voller Energie und Lebenskraft. Zwischen Nase und Oberlippe prangt wie ein Relikt aus vergangenen Tagen ein mächtiger Schnauz. Das Gesicht ist voller Furchen, die grünen Augen leuchten selbst dann, wenn sie kaum Schlaf gefunden haben. Coolness paart sich mit Strenge – und Anstrengung. Kaum hat sich der erste Eindruck gesetzt, beginnt Gumbrecht zu sprechen. Seine tiefe, sonore Stimme erzeugt einen Sog – und eine unheimliche Intensität. Gumbrecht ist erst ganz da, wenn er frei redet. Und wenn er redet, füllt er jeden noch so grossen Raum mit seiner Präsenz aus Physis und Phonetik. Die Leute hören ihm gebannt zu. Dann ist er in seinem Element, dann tritt er in Interaktion mit seinem Publikum, dann liest er in den Gesichtern der Zuhörer, dann berauscht er sich an sich selbst, dann läuft er zu Höchstform auf. In solchen Momenten scheint alles denkmöglich, die Fokussierung auf den Augenblick, in dem das Denken gerade stattfindet, ist total. Gumbrecht erweist sich als perfekte Stimmungsmaschine, als begnadeter Selbstbegeisterer, als ein Meister und Akteur des «hic et nunc». Was zählt, ist das, was hier und jetzt geschieht, was uns hier und jetzt berührt – und nichts ausserdem.
Damit steht Gumbrecht quer in der intellektuellen Landschaft all der Poststrukturalisten, die er persönlich kannte, deren Arbeit er schätzte und mit denen er immer wieder assoziiert wird. Doch diese Einordnung ist grundfalsch. Während die Poststrukturalisten alle Selbstgegenwart des Subjekts und alle Gegenwärtigkeit der Welt obsessiv und angestrengt als subjektive Illusion beziehungsweise Konstruktion zu entlarven versuchten, hält Gumbrecht stur an einer unmittelbaren Selbsterfahrung des Menschen fest, die stets einer konkreten Räumlichkeit und Zeitlichkeit bedarf.
Nehmen wir stellvertretend Jacques Derrida. Für ihn beruht die abendländische Metaphysik, die das Sein angeblich mit Präsenz gleichsetzt, auf dem System des «Sich-im-Sprechen-Vernehmens»,1 aus diesem «Phonozentrismus» folgen dann allerlei böse Dinge wie «Logozentrismus», «Ethnozentrismus» und «Phallozentrismus». Ganz anders Gumbrecht. Der grosse Gestus ist ihm zwar nicht fremd, doch bleibt er in seinen Exkursionen stets konkret, anschaulich, bodenständig. Was ihn an Derrida interessierte, ist deshalb weniger dessen Denken, Belesenheit oder Sprache als vielmehr die Aura. Und diese Aura eines bewundernswerten intellektuellen Gurus pflegte Derrida, daran erinnert sich Gumbrecht ganz genau, mit grosser Könnerschaft.2 Was zeigt: Der Mensch bleibt ein Präsenztier, das nur in einer je eigenen Umgebung funktioniert. Die Urszene der Gumbrechtschen Anthropologie lässt sich deshalb tatsächlich als altgriechische Seminarsituation ohne alle technischen Gadgets vergegenwärtigen: Einer hört sich selbst sprechen und tritt in Resonanz mit sich und seinem Publikum. Es ist dies eine Übung in angewandter, vorgeführter Geistesgegenwart. Ja, man kann sagen, dass Hans Ulrich Gumbrecht wie das perfekte Antidot zu Jacques Derrida und all seinen Jüngern wirkt: nicht Dekonstruktion, sondern Ambition, nicht relativieren, sondern imponieren, nicht das Parfum der Frivolität, sondern, wenn immer es möglich ist, echte, gelebte Intensität.
Nachdem die intellektuelle Revolution der französischen Philosophen eher spurlos an Gumbrecht vorüberging, scheint nun aber die Technik sein Verständnis des Menschen ernsthaft herauszufordern. Im digitalen Zeitalter wandelt sich das In-der-Welt-Sein in fundamentaler Weise: Alle starren wir auf einen Bildschirm – und sind dadurch mit allen zugleich lebenden Menschen auf dem Globus in Äquidistanz verbunden. Die Dimension der konkreten Räumlichkeit verschwindet. Alle kennen die merkwürdigen Alltagssituationen, zu denen dies führt: Man sitzt zusammen im selben Restaurant, also in unmittelbarer körperlicher Nähe, und kommuniziert über das Smartphone miteinander. Der Anwesende ist abwesend, der Abwesende anwesend. Wenn die Räumlichkeit schwindet, dann verändert sich auch die subjektive Erfahrung der Zeit. Im digitalen Zeitalter ist die Vergangenheit auf dem leuchtenden Bildschirm jederzeit abruf- und verfügbar, vergeht also gewissermassen nicht mehr; zugleich wirkt die Zukunft zunehmend entrückt, ja unvorstellbar – sie kommt, wenn überhaupt, nur noch als Katastrophenszenario in den Blick. Wir leben längst in einer «breiten Gegenwart der Simultaneitäten» (Gumbrecht), ohne dass wir Bedeutung und Tragweite dieser Entwicklung schon abschätzen könnten. Und wir mögen uns mit Gumbrecht ständig fragen: Was werden wir, was wird der heutige Mensch einst gewesen sein?
Das ist der Blick, mit dem sich Gumbrecht dem Geschehen seiner unmittelbaren kalifornischen Gegenwart zuwendet. Als er 1989 einen Ruf nach Stanford annahm, war ihm nicht bewusst, dass er ins Auge des Sturms zog. Doch machten ihm dies seine neuen, wirklich hervorragenden Studenten bald klar. Sie wollten keine akademischen Exerzitien absolvieren, sondern von den «humanities» fürs Leben lernen, um dieses Leben in den meisten Fällen durch Programmieren vor einem Bildschirm zu verändern. Und Gumbrecht entschloss sich, die Aufgabe anzunehmen, mit der ihn der Zufall bedachte: berührter und berührender Beobachter dessen zu sein, was sich um ihn herum im Silicon Valley ereignet, «hic et nunc».
Die digitale Revolution findet an einem ganz bestimmten Ort statt – und hat eine ganz eigene Geschichte. Damit bestätigt sie Gumbrechts Grundsatz, wonach Raum und Zeit zwangsläufig das menschliche Denken und Handeln bestimmen. Im Fall des Silicon Valley ist die Situation – in den Worten des Internetunternehmers Peter Thiel – durchaus paradox: «Die technologische Internetrevolution war eigentlich dazu gedacht, die Tyrannei des Ortes und der Geografie zu durchbrechen. Und doch fand alles hier an diesem Platz statt.»3 Wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass auf einem kleinen Territorium zwischen den beiden Städten San José und San Francisco, die kaum 50 Kilometer auseinanderliegen, eine intellektuelle Intensität entsteht, die das Zusammenleben aller Menschen auf der Erde für immer affiziert und verändert? Ist es Zufall, ist es Planung, ist es Geschick? Was sind die treibenden Kräfte, wie genau ticken die Köpfe dieser hier und jetzt sozialisierten Menschen, wie sehen sie die Welt heute und morgen? Um die ganz spezifische Räumlichkeit und die besondere Zeitlichkeit des Silicon Valley dreht sich dieses Buch vor allem, alteuropäisch gesprochen: um den Geist des Silicon Valley, der längst zum Weltgeist geworden ist.
Zugleich liefert der Band Bausteine für die einzigartige Biografie eines «intellectuel sensible» an der Schnittstelle zwischen alter und neuer Welt, die erst noch zu schreiben ist. Impressionen vermischen sich mit Reflexionen, Irritationen mit Interventionen. Sie sind Ausdruck der Faszination, jene Gegenwart zu fassen, die unsere Zukunft bestimmen wird. Nichts bleibt, wie es ist – nur, was wird aus dem permanenten Wandel? Was ist vergangen, noch bevor es sich bewährt hat? Was wird sich bewähren, obwohl es sich erst in Ansätzen zu erkennen gibt? Peter Sloterdijk hat Gumbrecht einmal zu Recht einen «grossen Erinnerer» genannt.4 Dieser Sohn zweier Ärzte aus Würzburg schöpft aus dem reichen Fundus der Geistesgeschichte der letzten zweieinhalbtausend Jahre – und vermag deshalb in eigenwilliger Weise über die Berührung durch die Gegenwart zu schreiben, die unsere Zukunft sein wird, so als wäre sie bereits Vergangenheit. Daraus ergibt sich ein eigener Ton der Gelassenheit – und ein Duktus der konzentrierten Wahrnehmung. Gumbrecht ist in jeder Zeile seiner Texte ganz da: einerseits ganz bei sich, andererseits ganz in der Welt. Ausgerechnet er, der an der wohl technischsten und kapitalistischsten Eliteuniversität der neuen Welt lehrt, beweist damit, warum es die «humanities» mehr denn je braucht: Sie sind eine Lektion in freier, grosszügiger Lebenszugewandtheit, in der Vermittlung zwischen Bibliothek und Berührung durch die Welt. Darum könnte dieses Buch auch einen ganz anderen Titel tragen: Vom Nutzen und Vorteil der Geisteswissenschaften für das intensive Leben (und das jederzeit riskante Denken).
Aber das wäre schon wieder alteuropäisch gedacht. Denn Leben ist Denken «in actu». Und Denken ist Experimentieren «in actu». Wer will schon belehren, wenn es doch noch so viel zu begreifen gibt!
René Scheu, August...