III. Platon
Platon tritt in seinen Dialogen selbst nie auf, sondern lässt Sokrates als Protagonisten das Wort führen. Darum weiß man nie, ob Platon oder Sokrates spricht. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die „Apologie des Sokrates“ Platons erste philosophische Schrift, in der er sich den Schmerz um den Tod seines Lehrers von der Seele schreibt.
These: Platons „Apologie des Sokrates“ gibt authentisch94 die Verteidigungsreden des Sokrates wieder.
Apologie des Sokrates – Das nächste Fremde
399 v. Chr. fand in Athen ein Prozess gegen den Steinmetz und Philosophen Sokrates statt, der mit einem Todesurteil endete. Was waren die Anklagepunkte? Wie verteidigte sich der Angeklagte? Worum ging es eigentlich? Was geht die erfolglose Verteidigungsrede uns nach gut 2400 Jahren danach an? Die Apologie des Sokrates thematisiert die grundlegende Frage, was wirklich wichtig im Leben ist. Damit liegen diese Frage, Konflikte und Argumentationen sozusagen wie ein Wasserzeichen in unserer europäischen Zivilisation, obwohl sie gegenwärtig vergessen sind und fremd anmuten.
„Die Moderne verleugnet ihre Herkunft, weil sie fürchtet, die Auseinandersetzungen mit ihr könnte sie überfordern – oder ihr gar ihre eigene Banalität vor Augen führen. … Verabschieden wir die Selbstverleugnung, und bekennen wir uns wenigstens zu einer gemeinsamen europäischen Phantasie! … Dazu braucht es nicht mehr als eine gute Bibliothek und den Griff ins Regal.“95
Wer ist Sokrates?
Sokrates wurde 469 v. Chr. in Athen geboren. Sein Vater Sophronikos war Steinmetz und von ihm übernahm Sokrates auch sein Handwerk. Seine Mutter Phainarete war Hebamme und von ihr übernahm er die Hebammenkunst96 als philosophische Methode.
Er selbst war mit Xantippe verheiratet und hatte bei seinem Tod zwei unmündige Kinder und einen erwachsenen Sohn.
Beide Eltern waren Bürger Athens und damit genoss Sokrates das volle Bürgerrecht Athens. Der dritten Zensusklasse gehörte er an. Vermögend war er nicht. Im Gegenteil: Er war so arm, dass er sich keinen Sklaven leisten konnte, sondern sich mit seiner Hände Arbeit das Brot verdienen musste. Einiges Gelächter brachte ihm das ein, weil Sokrates als Steinmetz fast immer dreckig und vom Steinstaub verklebt erschien. In dieser Hinsicht war er arm. Andererseits diente er beim Militär nicht als nackter Ruderer wie die ganz armen Bürger, sondern als Hoplit mit Schwert, Helm, Beinschienen und Schild, was er selbst finanzieren musste. Die Stadt verließ er nur zu Feldzügen im Peloponnesischen Krieg. Als Bürger Athens zeichnete ihn eine unbestechliche und strenge Gesetzestreue aus. Er kommt seinen bürgerlichen Pflichten nach: Militärdienst, öffentliche Religionsausübung und Richteramt.
Ob er hässlich wie ein Satyr war, darüber kann man streiten. Auf jeden Fall hat er kein geschriebenes Wort hinterlassen. Philosophisch ging er bei Anaxagoras von Klazemonai97 zur Schule und wurde naturphilosophisch unterrichtet. Allerdings interessierten ihn mehr das Zusammenleben der Bürger in der Polis und die Frage nach einem guten Leben. In aller Öffentlichkeit ging er den Fragen der praktischen Philosophie nach, hatte viele Schüler und Verehrer, von denen einige wie Alkibiades einen verdorbenen Charakter hatten und der Polis schadeten.
Einige Eckdaten zu seinem Leben:
431 – 429 | An der Belagerung von Potidaia nahm Sokrates als Hoplit teil. |
424 | An der Schlacht bei Delion nahm Sokrates teil und rettete Alkibiades. |
423 | Aristophanes führte die Komödie „Die Wolken“ auf. |
422 | An der Schlacht bei Amphipolis nahm Sokrates teil. |
406 | Sokrates war Prytane und Vorsitzender der Volksversammlung. |
404 | Athen kapitulierte im peloponnesischen Krieg und die Tyrannis der Dreißig wurde installiert, der Sokrates widerstand und die Befehle der Tyrannen ignorierte. |
399 | Sokrates wurde angeklagt: Er verderbe erstens die Jugend, missachte zweitens die öffentlichen Götter und führe drittens neue Götter ein. Mit dem Schuldspruch und Todesurteil endete der Prozess. Sokrates musste den Schierlingsbecher trinken, das heißt, er wurde durch Gift hingerichtet. |
Knapp sei an dieser Stelle sein Philosophieverständnis dargestellt, was später intensiv erläutert wird:
- Philosophie ist Dienst des Menschen an der Gottheit: prüfen, suchen und fragen; also Gehorsam gegenüber Gott: die prüfende Wahrheitssuche.
- Die Götter philosophieren nicht, denn sie sind weise. Die Weisheit des Menschen besteht im Wissen um seine Grenzen – darum muss der Mensch philosophieren.
- Sokrates nimmt den Handlungsspielraum des Menschen zurück, indem er Grenzen aufzeigt und Kriterien der Bewertung sucht.
- Methoden des Sokrates: Ironie98 – Verunsicherung durch sich selbst klein machen; Maioitik – Hebammenkunst; Elenktik – Überführungskunst; Epimeleia – Seelsorge.
Sokrates treibt die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ um und sucht nach argumentativ belastbaren und praktisch lebbaren Antworten. Wer führt ein gutes Leben? Was ist wirklich wichtig im Leben? Wie ist es um meine Seele bestellt?
Seinen Zeitgenossen erscheint Sokrates als sonderbarer, wunderlicher Mensch, weil er sich nicht an den Mainstream hält.
Athen – Aufstieg, Fall und Demokratie
Ohne den historischen Kontext der sogenannten Pentekoetie99 und des Peloponnesischen Krieges100 kommt man an Sokrates nicht heran.
Der Mythos erzählt, dass Poseidon und Athena sich um Attika stritten. Diejenige Gottheit, welche den Menschen das Wertvollste schenkt, soll das Land erhalten. Poseidon ließ mit seinem Dreizack auf der Akropolis eine Quelle entspringen. Athene schenkte Attika den Ölbaum und erhielt das Land. Weil Athene die Schutzgöttin ist, heißt die Polis Athen und die attische Drachme zeigt die Eule der Athena. Der Halbgott Theseus machte Athen zur Stadt, zur Polis, baute das Rathaus und den Markt. So steht auch heute neben dem Buleutherion (Rathause) auf der Agora der Tempel des Theseus, das Theseion.
Um 624 erlässt Drakon Gesetze101, die öffentlich – und zwar in Stein gehauen – auf der Agora jedermann einsichtig waren. Gesetze machen einen Ort zur politischen Stadt, zur Polis. Einer der sieben Weisen, Solon, unternahm 594 eine Bodenreform und damit eine Bauernbefreiung. Durch die Konzentration von Grund und Boden in den Händen weniger, geriet Athen politisch in eine Schieflage. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer und gerieten in Schuldsklaverei. Damit kann man keinen Staat machen, denn dieser braucht ökonomisch freie Bürger, und die Existenz Athens als autarke Polis geriet in Gefahr. Mit der Einschränkung des Adels machte sich Solon bei den Aristokraten kaum Freunde, doch rettete er damit die Freiheit Athens und der Weg zur Demokratie wurde geebnet.
560 greift Peisistratos nach der Tyrannis und kann sie nach mehreren Anläufen gewinnen. Trotz militärischer und ökonomischer Erfolge konnte sich die Tyrannis nicht halten. Die Athener schätzten ihre bürgerliche Freiheit durch das Erlebnis des Gegenteils umso höher ein.
509 trieb Kleistenes die Entwicklung zur Demokratie voran. Isonomie, die Gleichheit eines jeden Bürgers vor dem Gesetz, die Popularklage, die Anklage durch einen Staatsanwalt, aber auch der Ostrakismos, das Scherbengericht, sowie der Schierlingsbecher wurden eingeführt. Schierlingsbecher, das heißt, der zum Tod verurteilte Bürger Athens wird nicht enthauptet oder erhängt, sondern trinkt das tödliche Gift der Schierlingspflanze. In den politischen Entscheidungen gewann die Volksversammlung auf dem Pnyx an Gewicht und der Adelsrat auf dem Areopag verlor an Befugnissen, bis er schließlich nur noch für sakrale Fragen zuständig war.
Die Perserkriege (500 – 479) veränderten und prägten das Selbstbewusstsein Athens in mehrfacher Hinsicht. Um 500 erhoben sich die Griechen an der heutigen Westküste der Türkei im „ionischen Aufstand“ gegen die persische Oberhoheit und plünderten Sardes. Der Perserkönig Daraios zog mit einem riesigen Heer nach Griechenland und wurde 490 bei Marathon fast allein von den Athenern unter Miltiades geschlagen. Zehn Jahre später unternahm Xerxes unter großem Aufwand einen zweiten Feldzug. Auch dieser scheiterte 479 in der Seeschlacht bei Salamis und in der Landschlacht bei Plataia an einigen verbündeten Stadtstaaten, unter denen Sparta und Athen führend waren.
Die Taktik bei Salamis entwickelte der Athener Themistokles und das hatte Folgen. Bislang waren nur Reiter, der Adel, und Hopliten, der Mittelstand, militärisch relevant. Nun wurden auf den Schiffen (attische Trieren) nackte, arme Ruderer (die Theten) benötigt und schlachtentscheidend. Nach dem Sieg über die Perser forderten die mittellosen Bürger...