Sterben. Die Gebrauchsanleitung.
Alles, was wir wissen müssen, um Sterbende gut zu begleiten
Teil 1
Sabine Stengel
Einleitung
Warum dieses Buch?
Das Sterben naher Angehöriger, der Tod von Menschen, die wir lieben, versetzt uns in einen Ausnahmezustand und bringt uns an unsere Grenzen. Dieses Buch soll Sie in dieser Situation mit den wichtigsten Fakten unterstützen. Strukturiert und Schritt für Schritt erfahren Sie, was Sie wissen müssen und was genau in welcher Situation zu tun ist.
Warum fällt es den meisten Menschen so schwer, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen oder sogar darüber zu reden? Dank der Hospizbewegung der vergangenen 25 Jahre sind Sterben und Tod in unserer Gesellschaft kein Tabu mehr. Doch haben die meisten Menschen Angst, sich mit der Vergänglichkeit ihres eigenen Lebens oder dem ihrer nächsten Angehörigen und Freunde auseinanderzusetzen. Tod und Trauer sind kein Schulfach, obwohl sie jeden von uns unser ganzes Leben lang betreffen. Einerseits ist Sterben aus sicherer Distanz in den Medien allgegenwärtig. Andererseits wird über den Tod und das Sterben nicht geredet und wenig informiert. Unwissenheit macht unsicher, Halbwissen schadet.
Was bringt mich zu diesem Thema? Tod, Sterben und Trauer sind Begleiter meines Lebens. Trauer habe ich als Kind durchlitten. Nach tränenreichen Abschieden von zahlreichen Haustieren starb, als ich 14 Jahre alt war, meine Großmutter zu Hause. 1987 erkrankte eine Freundin an Lungenkrebs. Ich war damals Mitte 20 und völlig überfordert. Trotzdem unterstützte ich sie nach Kräften, bis sie ein Jahr später starb. Das war mein erster Kontakt mit der Begleitung einer Sterbenskranken. Vor einigen Jahren wurde mein Vater, damals 86-jährig und immer kerngesund, ins Krankenhaus eingeliefert. Nach einer Notoperation versuchte die Medizin ihn wieder „fit“ zu kriegen. Ich stand ihm in der Zeit rund um die Uhr zu Seite, bangte und hoffte mit ihm. Nach sechs Wochen starb er.
Ich bin medizinische Laiin. Ich habe mit dem „System Medizin“ und Krankenhäusern nichts zu tun und keinerlei Erfahrung. Wenn ich damals schon all das, was ich heute weiß, gewusst und anwenden hätte können, dann hätte ich vieles anders eingeordnet und meinem Vater (und mir) viel Leid erspart. Ich hätte erkannt, dass er nicht „krank“ war und es nicht darum ging, ihn wieder „gesund zu machen“. Weder die Ärzte noch das Pflegepersonal sprachen jemals davon, dass er „altersschwach“ sei, „im Sterben liegt“ oder dass alle Anzeichen auf die „Finalphase“, den bevorstehenden Tod hindeuten. Heute erst verstehe ich, warum diejenigen, die sich doch mit dem Sterben hätten auskennen sollen, die Krankenhausärzte, uns damals keine Hilfe waren, eher im Gegenteil.
Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, dann hätten wir eine Patientenverfügung vorgelegt, in der alles im Detail geregelt gewesen wäre. Dann hätte ich dafür gesorgt, dass er zu Hause oder im Hospiz sterben kann; hätte mich gegen die „Bemühungen“ der Ärzte gewehrt und unsinnige Quälereien wie Schleimabsaugen, Infusionen, Trinkprotokolle und die künstliche Ernährung über einen Venenkatheder am letzten Tag vor seinem Tod verweigert. Dann hätte ich mich viel stärker gegen die Ärzte durchgesetzt und dafür gesorgt, dass er Medikamente gegen die panische Angst vor dem Ersticken bekommt. Hätte, hätte...
Instinktiv wusste ich damals, dass wir Abschied nehmen müssen. Meinem Vater zur Seite zu stehen war emotional sehr intensiv, wir haben gemeinsam viel geweint, noch viel mehr aber gemeinsam gelacht, auch über so manch abgründiges Erlebnis in der Krankenhauspflege.
Jahre nach seinem Tod erinnerte ich mich an die Intensität dieser Begleitung und machte eine Ausbildung zur ambulanten Sterbebegleiterin. Die intensive Begleitung von Menschen an ihrem Lebensende bis zu ihrem Tod hat mein Leben bereichert. Dabei geht es nicht immer um tiefgründige Gespräche über den Sinn des Lebens oder die Angst vor dem Tod. Meist kommt es einfach nur darauf an, „da“ zu sein, den anderen anzunehmen wie er ist und ihm zur Seite zu stehen. Und zu lernen, die eigene Hilflosigkeit auszuhalten.
Um Angehörige zu unterstützen, bin ich jetzt auch ausgebildete Trauerbegleiterin und ehrenamtlich für junge und alte Menschen in ihrer Trauer da. Und dabei bin ich einfach nur eine von 100.000 ambulanten Sterbebegleiterinnen in Deutschland. Tod und Sterben sind für mich persönlich genauso schwer zu (er)tragen wie für die meisten für uns. Doch ich kann nun mit Leichtigkeit darüber reden und anderen von meinen Erfahrungen erzählen.
In vielen Gesprächen mit Freunden und Bekannten, die jetzt in ähnlichen Situationen sind wie ich damals, stelle ich fest, dass sie alle die gleichen Fragen haben. Es gibt Fachliteratur und Erfahrungsberichte, aber wenig kompakte Zusammenfassungen für Nicht-Profis, in denen die wichtigsten Fakten und Antworten zu Sterben, Tod und Trauer verständlich und pragmatisch zusammengestellt sind: quasi in Form einer Gebrauchsanleitung. Meine kompakte, dreiteilige Buchreihe richtet sich an alle, die als Angehörige oder Freundin einen Menschen begleiten, der aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder altersbedingt im Sterben liegt.
Im vorliegenden Teil 1 geht es um das Sterben an sich. Das Buch räumt mit den kursierenden Halbwahrheiten und Vorurteilen auf und stellt die wichtigsten Fakten vor: Wer kennt sich aus mit dem Sterben, wo kann man sterben, wie verläuft der Sterbeprozess und woran erkenne ich, dass jemand stirbt? Wie kann ich Sterbende psychisch und ganz praktisch unterstützen? Wer lindert die Atemnot? Macht Morphium gegen Schmerzen abhängig und warum müssen Sterbende nur noch wenig essen und trinken? Wie rede ich mit Kindern über das Thema, wie gestalten wir gemeinsam den Abschied mit der Sterbenden? Und wer hilft eigentlich mir als Angehöriger? Ziel dieses ersten Teils ist es, Wissenslücken zu füllen und Orientierung zu geben, um damit die eigene Hilflosigkeit zu überwinden und ins Tun zu kommen. Im Anhang gibt es eine umfangreiche Link- und Literaturliste, für alle, die sich noch tiefergehend mit einzelnen Themenbereichen beschäftigen möchten.
Teil 2 ist die Gebrauchsanleitung zu den Themen Tod und Trauer. Nach dem Tod haben wir als Angehörige oder Freundin der Familie zahlreiche Dinge zu erledigen. Auch hier gibt es viele Falschinformationen, die längst überholt sind und mit denen aufgeräumt wird: Was ist sofort nach Eintritt des Todes wirklich zu tun? Was muss ich am ersten und am zweiten Tag unbedingt organisieren und was hat Zeit? Wer ist gesetzlich für die Bestattung zuständig und woran muss ich bei der Vorbereitung der Trauerfeier denken? Und wer „eröffnet“ ein Testament und wie funktioniert das? Die nach Wichtigkeit und Dringlichkeit der Aufgaben priorisierten Checklisten helfen Ihnen dabei, den Überblick zu behalten, was nach dem Tod eines Menschen wann zu erledigen ist. Alle LListen finden Sie auch online als pdf-Datei zum Herunterladen und Ausdrucken.
Wenn die wichtigsten Aufgaben erledigt sind, wird der Alltag irgendwann wieder ruhiger – und die Trauer um die Verstorbene kommt an die Oberfläche. Aber wie trauern Sie „richtig“ und wann hört die Trauer wieder auf? Ergänzend finden Sie hier Tipps zum Umgang mit Ihrer eigenen Trauer sowie Anlaufstellen, bei denen Sie sich Unterstützung holen können.
Teil 3 ist eine Art von Aufräum-Buch. Wenn wir Sterbende begleiten, lernen wir viel darüber, was vor und nach dem Sterben zu bedenken und zu organisieren ist. Um es unseren Liebsten leichter zu machen, wenn wir selbst sterben, können wir vorher viel tun. Im dritten Teil finden Sie umfangreiche Fragebögen und Dokumente, die Ihnen die Vorsorge und die Vorsortierung Ihres eigenen Nachlasses erheblich erleichtern. Auch dieses Buch ist von einer Praktikerin geschrieben. Als nützliches Nachschlagewerk soll es dazu ermutigen, all die unangenehmen „Vorsorge“-Aufgaben mit Schwung und Leichtigkeit anzugehen. Dass sie unangenehm sein können, steckt schon im Begriff der Vor-Sorge – als solle man sich bereits vor der Zeit sorgen. Tatsächlich erzeugt es bei vielen Menschen ein gutes Gefühl, die eigenen Angelegenheiten in Ruhe geregelt zu haben.
Ich lade Sie ein, dieses Buch als Arbeitsbuch zu nutzen. Überblättern Sie, was Sie nicht brauchen und markieren Sie zutreffende Stellen. So sehen Sie auf den ersten Blick, was für Sie wichtig ist. Zum tieferen Einstieg finden Sie am Ende des Buches Literaturempfehlungen.
Ein Hinweis zur geschlechtergerechten Sprache: Die Verwendung beider Formen, der Arzt und die Ärztin, bremst den Lesefluss. Daher verwende ich die Geschlechtsform abwechselnd und bunt gemischt. Wenn ich von Frauen spreche, gilt das ebenso für die Männer, die Ärzte fühlen sich bitte auch angesprochen, wenn ich von Ärztinnen schreibe, und andersherum. Egal, welche Geschlechterform wir wählen und welche Sprache wir sprechen: wir sind alle Menschen.
Leben heißt Lernen, ein Buch schreiben bedeutet permanente Verbesserung und Veränderung. Bitte schreiben Sie mir, was Ihnen an diesem Buch gefallen hat und was Sie in der nächsten Auflage gern verbessert hätten. Berichten Sie mir, was Sie gelernt haben oder was Sie berührt hat. Schreiben Sie mir eine E-Mail an: SabineStengel@gmx.de
„[…] die Menschen, die wir am Lebensende betreuen dürfen, lehren uns, dass die Vorbereitung auf das Sterben die beste Vorbereitung...