1.11.2Deuten und Verstehen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive
Das, worum es hier geht, hieß vor ca. 50 Jahren noch »Erklären vs. Verstehen«, »Nomothetik vs. Idiografik«, »normatives Paradigma vs. »interpretatives Paradigma«. Man sieht gleich, es geht um Gegensätze und mithin um Kontroversen. Aufgeführt habe ich die gängigen Schlachtrufe, die inzwischen der Vergangenheit angehören und nur noch den Älteren unter uns bekannt sind. Den Jüngeren müssen sie in der gebotenen Knappheit nahegebracht werden.
Neben der Verständigung darüber, dass die Welt eine Welt von Sinnzusammenhängen ist, ist der Grundsatz wesentlich, dass der Einzelfall eine wissenschaftliche Bedeutung hat. Konkret heißt das:
Das Einzelne ist ein Allgemeines, weil es sich unter allgemeinen Bedingungen gebildet hat. Es ist ein Besonderes, weil es sich unter allgemeinen Bedingungen individuiert hat.
Eine Anmerkung am Rand: Um Wissenschaft geht es bei der Genogrammarbeit überhaupt nicht. Deshalb dürfen die Leser zu Recht fragen, was das alles hier soll. Die Antwort darauf lautet: Genogrammarbeit ist keine Wissenschaft an sich; sie kann in der Wissenschaft zu Forschungszwecken eingesetzt werden. Gleichwohl hat die Genogrammarbeit, so wie ich sie verstehe, wissenschaftliche Grundlagen, die teils neben und teils quer zu dem liegen, was heute in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften für den Mainstream gehalten wird. Manche denken sogar, bei den Grundlagen, an denen ich festhalte, handle es sich nicht um bewährte Wissensbestände. Mit den folgenden Ausführungen stelle ich den Anschluss an etablierte wissenschaftliche Traditionen und Wissensbestände her.
Ich komme jetzt zu den Konsequenzen des unerquicklichen Gegensatzes von Nomothetik und Idiografik für Beratung und Therapie auf bereits Gesagtes zurück: Wenn Psychologen, die wissenschaftlich im dort herrschenden Paradigma, in der Nomothetik, sozialisiert sind, die Universität verlassen und in der Praxis tätig werden, werden sie plötzlich mit der skandalösen Tatsache konfrontiert, dass sie es im Wesentlichen mit Einzelfällen, nämlich Klienten, zu tun haben, die eben noch im Methodenunterricht und in der Vermittlung dessen, was Psychologen für Theorien halten, als irrelevant für psychologisches Denken ausgegeben wurden. Denn im nomothetischen Ansatz werden Einzelfälle für irrelevant gehalten. Der Medizinstudent begegnet demgegenüber in der Praxis leibhaftigen Patienten, die er bereits im fallbezogenen Unterricht, aber dort aus der Distanz, kennengelernt hat. Der Psychologe trifft hingegen auf Klienten, die er bisher nur als »n+x« kennenlernen konnte. Der Soziologe stellt in der Praxis, so er ihr überhaupt begegnet, plötzlich fest, dass »das Prekariat« tatsächlich existiert, und zwar außerhalb abstrakter Zahlenkolonnen und theoretischer Setzungen. Um es kennenzulernen, muss man nur am Samstagabend an die Tankstelle oder an den Kiosk gehen, auf jeden Fall aber die Universität verlassen.
Langer Rede kurzer Sinn (!): Genogrammarbeit heißt deuten, und wem bisher das four-letter word SINN noch nicht über den Weg gelaufen ist, der sei ermuntert, der Sache noch etwas nachzugehen. Umberto Eco habe ich oben schon erwähnt, aber Fachliteratur soll nicht unterschlagen werden. Ich empfehle von Aaron Cicourel das Buch Methode und Messung in der Soziologie aus dem Jahr 1970.
Um den hier abgehandelten Kontroversen nicht über Gebühr Bedeutung zu verleihen, will ich wie folgt schließen: Drei Männer gehen in Deutschland durch den Wald. Der eine hat ein Gewehr, der andere ein Reh über der Schulter. Was hat der Dritte? (Nachdenken …) Der Dritte hat Zahnfleischbluten. Denn jeder dritte Deutsche hat Zahnfleischbluten.
Zudem will ich noch einmal auf den Dopaminspiegel zurückkommen. Dieses Beispiel zeigt, dass im Prozess von Therapie und Beratung Wissenschaften nur von begrenztem Wert sind:
•Erstens sind wissenschaftliche Erkenntnisse immer nur vorläufig, von »gesichertem Wissen« kann keine Rede sein.
•Zweitens ist die Wissenschaft auf das Allgemeine gerichtet, der Patient erscheint allerdings beim Therapeuten als Einzelner. Um es mit Hans-Georg Gadamer (1993, S. 14) bündig zu formulieren: »Die Wissenschaft ist wesenhaft unabgeschlossen, die Praxis verlangt Entscheidungen im Augenblick.«
Um diese Dilemmata zu überwinden, haben die auf Praxis orientierten, gleichzeitig auf wissenschaftliches Wissen sich stützenden Fächer in Anlehnung an Aristoteles eine spezifische Kunst ausgebildet, die mit dem in Kapitel 1.4 erwähnten Begriff praktische Urteilskraft49 belegt ist. Darin ist eine Absage an die schlichte Vorstellung enthalten, Wissenschaften seien auf Angelegenheiten unmittelbaren menschlichen Lebens anwendbar. Die Idee, dass die Praxis der Theorie nachfolgt, ist in ihrem zeitlichen Sinn schon im Ansatz falsch. Teflonpfannen mögen in der Raumfahrt und in Haushalten ihre Bedeutung entwickeln, ein Analogon für den Bereich des Humanen kenne ich nicht. Entscheidend ist die praktische Urteilskraft in Orientierung an Aristoteles (Aristoteles 2009, S. 154): »Das Denken für sich allein aber bewegt nichts, sondern nur das auf einen bestimmten Zweck gerichtete, praktische Denken.«
Aus diesem Grund kommt therapeutisches Handeln nicht mit einfachem Fallverstehen aus: Erforderlich ist ein Fallverstehen in der Begegnung, also ein Fallverstehen, das dem Fall als Einzelnem gerecht wird (um einmal abzusehen von den affektiven Bestandteilen der Begegnung) (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 2004; Hildenbrand 2017).
Das alles muss nicht neu erfunden werden: Lange nach Aristoteles haben Medizinische Anthropologie und Psychiatrische Anthropologie Konzepte vorgelegt, die geeignet sind, die oben erwähnten Dilemmata zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Theorie und Praxis, zu überwinden. Allerdings spielen sie im medizinischen Feld nicht die zentrale Rolle, sondern sind eher randständig. Um die Sache aber noch etwas komplizierter zu machen: Sind anthropologische Ansätze schon peripher, so sind es die daraus resultierenden Forschungsverfahren noch mehr. Damit haben wir hier aber nichts zu tun. Fazit: Im Bereich des Humanen sind Deutungen unhintergehbar.
1.11.3Abduktives Schließen
Über den abduktiven Schluss wird viel geschrieben. Meist aber erfahren Leser nichts über Ergebnisse des abduktiven Schließens, geschweige denn über die Wege, über die man zu einem abduktiven Schluss gelangt. Aus meiner Sicht hat das damit zu tun, dass das abduktive Schließen einen Prozess darstellt, der mit den Mitteln der Rationalität allein nicht zu greifen ist. Darauf hat der US-amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce, auf den das Konzept des abduktiven Schlusses zurückgeht, bereits hingewiesen: Die abduktive Erkenntnis schlage ein wie ein Blitz, sie sei überraschend, allerdings nur an ihrem Anfang. Denn nach einem abduktiven Schluss gilt es, die so gewonnene Erkenntnis zunächst deduktiv, dann induktiv zu überprüfen.
Indem in der Literatur über das abduktive Schließen eher schwadroniert wird, dessen gelebte Praxis jedoch nicht angetastet wird, können sich die um wissenschaftliche Klarheit bemühten Autoren um das prekäre Problem der Irrationalität im abduktiven Schließen herumdrücken.
Berater und Therapeuten sind keine Wissenschaftstheoretiker, jedoch wird von ihnen erwartet, dass sie die überraschenden und auf Intuition beruhenden Erkenntnisse, die sie im Prozess von Beratung und Therapie leiten, im Nachhinein begründen und das von ihnen zur Kenntnis genommene wissenschaftliche Wissen in seinem Zustandekommen einschätzen können. (Jedoch: Wer sich sklavisch an Leitlinien hält, wird sich nie eines abduktiven Schlusses rühmen können.) Nur deshalb halte ich meine Leser hier mit diesen Erwägungen auf. Also weiter zur Sache: Einen abduktiven Schluss aus der Genogrammarbeit habe ich nicht zur Hand, jedoch einen aus der Supervision, den ich hier zeigen will.
Ein Fallbeispiel aus der Supervision: Der entlaufene Affe
Hier ein Beispiel aus meiner Tätigkeit als Supervisor im Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung Meilen/Zürich (Hildenbrand 2017, S. 60 f.):
Eine erfahrene Mitarbeiterin in einem Jugendsekretariat (Schweizer Begriff für Jugendamt), von Beruf Sozialarbeiterin, berichtet von einem schwierigen, stadtbekannten und suchtkranken Paar. Immer, wenn es im Jugendsekretariat zum Gespräch mit dem Kindsvater und seiner Frau in Sachen Sorgerechtsentzug komme, schneide er Grimassen und mache eine Geste des Halsabschneidens in Richtung der Sozialarbeiterinnen. Sie selbst, teilt die fallvorstellende Sozialarbeiterin mit, fühle sich durch dieses Verhalten bedroht, ihre ebenfalls anwesende Kollegin unterstütze sie;...