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E-Book

Midlife-Crisis

Eine philosophische Gebrauchsanweisung

AutorKieran Setiya
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl211 Seiten
ISBN9783458762379
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Fast jeder kennt dieses Gefühl in der Mitte des Lebens, diese »verwirrende Mischung aus Nostalgie, Bedauern, Klaustrophobie, Leere und Angst.« Die quälende Frage, selbst auf dem Höhepunkt einer Karriere: Habe ich das Beste versäumt?

Der Begriff der Midlife-Crisis entstand um die Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Was zunächst als eine Erfindung amerikanischer Psychoanalytiker galt, hat sich als eine existentielle Herausforderung erwiesen, mit der man rechnen muss. In diesem autobiographischen Sachbuch geht der am MIT in Massachusetts lehrende Moralphilosoph Kieran Setiya dem Phänomen der Midlife-Crisis auf den Grund. Mit Philosophen wie Aristoteles, Epikur und Schopenhauer und Autoren wie Virginia Woolf und Richard Ford analysiert er die Symptome und den Umgang mit der Midlife Crisis. Er gibt praktische Tipps, wie der Sinnsuche in der Mitte des Lebens zu begegnen ist. Eine unangestrengt und witzig geschriebene Gebrauchsanweisung, ein Wissensbuch ebenso wie eine Lebenslehre für alle, ob mit oder ohne Midlife Crisis.

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<p>Kieran Setiya, geboren 1976, ist Philosophieprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er ist verheiratet, hat einen Sohn und ist Autor philosophischer Bücher (u. a. <em>Practical Knowledge, Reasons without Rationalism, Knowing Right from Wrong</em>). Trotz privaten Glücks und akademischer Karriere geriet er mit 35 Jahren in eine Midlife-Crisis. Der Krise begegnete er mit Philosophie und Literatur und schrieb über seine Erfahrungen ein Buch.</p>

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Leseprobe

2

Soll das alles sein?


John Stuart Mills Kinder- und Jugendzeit war so traurig wie außergewöhnlich. Er wurde 1806 als Sohn des schottischen Historikers, Volkswirts und Philosophen James Mill geboren. Mill senior war ein Schüler Jeremy Benthams, des Begründers des klassischen Utilitarismus. »Das größte Glück der größten Zahl ist der Maßstab für Recht und Unrecht«, lautet der Grundsatz von Benthams utilitaristischer Ethik.1 Vergiss das Gewesene, pfeif auf die Traditionen: Jede Institution der Gesellschaft muss die Bedürfnisse all ihrer Mitglieder befriedigen. Was uns nicht glücklicher macht, muss verändert werden.

James Mill lernte Bentham 1808 kennen und wurde sofort zum glühenden Anhänger seiner Lehre. Sein Sohn John Stuart war damals noch nicht einmal zwei. Die Begegnung der beiden Männer war der Beginn eines einzigartigen pädagogischen Experiments. Überzeugt, dass Wohltätigkeit zu Hause beginnt, erzog Mill seinen Sohn mit dem gezielten Vorsatz, das größte Glück der größten Zahl zu sichern: Der junge Mill sollte später einmal die Welt verändern. Das Experiment war laut Isaiah Berlin »erschreckend erfolgreich«.2 Erfolgreich, weil John Stuart Mill später zum bedeutendsten britischen Philosophen und einflussreichsten Intellektuellen des 19. Jahrhunderts wurde. Erschreckend, weil seine Kindheit von Einsamkeit und Entbehrungen geprägt war. Mill wuchs ohne Kontakt zu Gleichaltrigen auf und wurde in beängstigendem Tempo mit Wissen gefüttert: Mit drei lernte er Griechisch, las mit sieben Platon, beherrschte mit acht Latein und vertiefte sich als Elfjähriger in Newtons Principia. Die Teenagerzeit verbrachte er mit dem Studium der Logik, der politischen Ökonomie, der Psychologie und der Rechtslehre. Mit fünfzehn setzte er sich mit Bentham und der Philosophie auseinander und reifte ganz nach den Plänen seines Vaters zu einem herausragenden Denker heran. Doch mit zwanzig erlitt John Stuart Mill einen Nervenzusammenbruch.

Es mag abwegig erscheinen, Mill in einem Buch über die Midlife-Crisis anzuführen oder aus seinen Erfahrungen Erkenntnisse schöpfen zu wollen. Er war noch sehr jung, als er in die tiefe Depression verfiel, über die er in seiner Autobiographie schreibt. Aber wie in fast allem war er auch darin ein Frühentwickler. Seine Krise könnte Ihre sein. Der Unterschied ist, dass sie unaufhörlich Gegenstand philosophischer Reflexion war. Mill analysierte seine Krise vom Zusammenbruch bis zur Genesung und zog daraus Lehren für die Moralphilosophie: ein Vorbild für meinen eigenen Ansatz.

Gleichwohl gebe ich zu, dass nicht alles an Mills Leidensgeschichte spezifisch für den mittleren Lebensabschnitt ist. Doch Mills Krise bietet eine hervorragende Gelegenheit für einen Crashkurs in philosophischer Ethik, der uns im weiteren Verlauf dieses Buches als Grundlage dienen wird. Wir werden uns mit dem Glück beschäftigen und mit der Frage, warum wir danach streben. Wir werden Vergleiche zwischen der Midlife-Crisis und dem Verfall in den Nihilismus ziehen. Wir werden die verschiedenen Formen von Wert analysieren, die unser Handeln haben kann. Und wir werden die Aspekte von Mills Krise herausarbeiten, mit denen wir uns identifizieren können. Unsere Kindheit ist sehr wahrscheinlich anders verlaufen, aber vielleicht stöhnen auch wir bisweilen unter den Belastungen des Lebens, haben das Gefühl, von unseren beruflichen und familiären Pflichten aufgefressen zu werden, und fragen uns: »Soll das alles sein?« Wir werden diese Frage weiter unten mit Mills Hilfe klären.

Mills Depression führte schließlich zu einer positiven Wende in seinem Leben, aber sie begann unheilvoll. Die schonungslosen Worte, mit denen er seinen Schmerz beschreibt, zeugen von tiefer Verzweiflung.

Ich litt an einem dumpfen Zustand der Nerven, dem wohl jeder gelegentlich ausgesetzt ist, hatte an nichts mehr Freude und befand mich in einer von jenen Stimmungen, in welchen einem alles, woran man sonst Vergnügen gefunden hat, schal und gleichgültig erscheint. […] In dieser Geistesstimmung fiel es mir ein, unmittelbar die Frage an mich zu richten: »Gesetzt, dass alle deine Lebensziele verwirklicht wären, dass alle die Veränderungen in den Einrichtungen und im Geist der Menschen, denen du entgegensiehst, in diesem Augenblick vollständig durchgeführt werden könnten, würdest du froh und glücklich sein?« Und eine ununterdrückbare Stimme in meinem Inneren antwortete deutlich: »Nein!«3

Die große Frage ist: Warum? Warum sollte es einen Menschen kaltlassen, wenn er seine großen Ziele erreicht hat und alles, was er sich gewünscht hat, in Erfüllung geht? Was ist da schiefgelaufen?

Eine ganze Menge, könnte man sagen. Der arme Mill stand unter der Knute seines dominanten Vaters, seine berufliche Karriere war vorbestimmt. Wie sollte er da das Gefühl haben, sein eigener Herr zu sein? Sich zu einer selbstständigen, authentischen Persönlichkeit entwickeln? Kein Wunder, dass Mill später Über die Freiheit schrieb, eine Streitschrift, in der er vehement für die Selbstentfaltung des Individuums und für Gedankenfreiheit eintrat.

Dazu kam das Gefühl von Vereinsamung, das Fehlen enger Beziehungen, die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Zumindest in dieser Hinsicht nahm Mills Geschichte einen glücklichen Ausgang. 1830, im Alter von fünfundzwanzig, lernte er Harriet Taylor kennen, die Liebe seines Lebens. Taylor war bereits verheiratet, doch die beiden wurden Freunde – Mill spricht von der »wertvollsten Freundschaft meines Lebens«4 – und 1851, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, nahm sie seinen Heiratsantrag an. In seiner Autobiographie würdigt er sie als seine Co-Autorin: »In diesem weiteren Sinne waren nicht nur während unserer Ehe, sondern auch während der vorangegangenen vielen Jahre unserer vertrauten Freundschaft alle Schriften, die ich veröffentlichte, ebenso gut ihr Werk wie das meinige« – darunter Über die Freiheit und Die Hörigkeit der Frau. Des Weiteren rühmt er ihre intellektuellen Fähigkeiten, die »nur im Dienst eines moralischen Charakters [standen], der so edel und im Gleichgewicht war, wie ich nie einem ähnlichen im Leben begegnete«.5 Ihre Beziehung war geprägt von einer tiefen geistigen Verbundenheit, eine der großen Liebesgeschichten im reifen Erwachsenenalter.

Mill war sich vollauf bewusst, wie viel er seiner Frau in intellektueller Hinsicht zu verdanken hatte.6 Dennoch schreibt er die Genesung von seinem Zusammenbruch nicht der Verbindung mit Taylor zu und benennt auch nicht seine Einsamkeit als dessen Auslöser. Einmal deutet er indirekt familiäre Konflikte an: »Ein kleiner Lichtstrahl [brach] in meine Nacht herein. Zufällig kamen mir Marmontels Memoiren in die Hände, und ich stieß dabei auf die Stelle, in welcher der Autor vom Tode seines Vaters spricht, von der trostlosen Lage der Familie und von der plötzlichen Begeisterung, die bei dem Gefühl, dass er, obschon nur ein Knabe, fortan den Seinigen alles sein und an die Stelle des Verlorenen treten müsse, in ihm auftauchte.«7 Ein gefundenes Fressen für Therapeuten, doch auch der dominante Vater spielt letztlich keine Rolle in Mills Selbstdiagnose. Stattdessen führt er zwei Gründe für seine Krise an. Beide sind insofern von Interesse, als sie einen festen Platz in der Philosophiegeschichte haben.

Nur für mich


Im Verlauf des Genesungsprozesses, schreibt Mill, habe sein Denken in zwei Punkten eine entscheidende Wendung erfahren. Dies ist der erste:

Ich schwankte in der Tat nie in der Überzeugung, dass Glück der Prüfstein aller Verhaltensregeln und der Endzweck des Lebens sei; aber jetzt dachte ich, dieser Zweck lasse sich nur erreichen, wenn man ihn nicht zum direkten Ziel mache. Bloß diejenigen sind glücklich, dachte ich, welche ihren Sinn auf irgendetwas anderes als auf das eigene Glück gerichtet haben – auf das Glück anderer zum Beispiel, auf die Veredlung der Menschheit, ja sogar auf irgendeine Kunst oder Beschäftigung, die nicht als Mittel, sondern um ihrer selbst willen nach einem idealen Ziele strebten. Während man so auf etwas anderes abhebt, findet man das Glück unterwegs.8

Die Erkenntnis, zu der Mill hier gelangt, hat einen Namen: das Paradoxon des...

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