9Doron Rabinovici und Natan Sznaider
Neuer Antisemitismus
Die Verschärfung einer Debatte
»Antisemitismus bedeutet, die Juden mehr als absolut notwendig zu hassen.«
(Isaiah Berlin zugeschrieben)
»Die Juden sind genauso wie andere Menschen, nur etwas mehr.«
(Chaim Weizmann zugeschrieben)
Diese beiden Behauptungen muten seltsam an, aber sie fassen zusammen, in welch theoretischen Treibsand gerät, wer versucht, Antisemitismus zu verstehen. Worauf lassen wir uns ein, wenn wir Antisemitismus begreifen wollen? Meinen wir ein Gefühl, ein Ressentiment, eine Haltung, ein Gerücht oder gar nur ein Vorurteil über eine bestimmte soziale und kulturelle Gruppe, die Juden genannt wird? Und wer sind diese Juden, denen so vieles übel genommen wird? Von wem reden und theoretisieren wir also, wenn wir über Juden sprechen und nachdenken?
»Der Antisemitismus zeigt täglich sein hässliches Gesicht«, heißt es. Kippa-Träger (also sichtbare Juden) fühlen sich in Deutschland und nicht nur dort zusehends unsicher, jüdische Kinder werden in Schulen gemobbt. Im Netz hasst sowieso jeder jeden, aber Juden werden dort ziemlich schlecht behandelt. Ressentiments gegen Juden kommen von Rechten, Linken, der Mitte, von Muslimen, sogar von anderen Juden. Der Antisemit will keiner je gewesen sein und hat sein klares Profil verloren.
Um über Antisemitismus zu sprechen, müssen wir nicht 10nur von den Antisemiten, sondern auch über die Juden reden. Frei nach Max Horkheimer lässt sich sagen, wer von Juden nicht reden will, sollte auch über den Antisemitismus schweigen. Zugleich kann auch behauptet werden, Antisemitismus habe eigentlich nichts mit Juden zu tun, sondern nur mit Antisemiten. Wie untersucht man nun Antisemitismus, wenn man zwar nicht gleich alle Sturmglocken läuten lassen möchte, als wäre er ein metaphysischer Ungeist, der über uns kommt und verschwindet, doch andererseits auch nicht mit denen übereinstimmen will, die da sagen, dass alle Ängste eigentlich übertrieben seien und der Judenhass ständig abnehme? Es ist eine Zwickmühle: Sobald über Antisemitismus kommuniziert wird, sieht man sich zumeist in einer fatalen Dichotomie zwischen Alarmisten und Leugnern gefangen.
Dieses Buch ist ein Versuch, diese Dichotomie zu durchbrechen. Vor knapp 15 Jahren veröffentlichten wir die erste Auflage dieses Sammelbandes. Damals waren die Ausgangsbedingungen zum Teil andere. Wir gingen davon aus, dass es nach der Schoah schwer ist, ein bekennender Antisemit zu sein. Negative Gefühle gegen Juden waren zu sehr mit ihrer Vernichtung in Europa verbunden. Hat sich daran viel verändert?
Die Rede ist von einem »neuen Antisemitismus« – von einem Antisemitismus, der erst nach der Schoah und nicht trotz, sondern wegen ihr entstand, der auch als sekundärer Antisemitismus bezeichnet wird. Der offene Antisemitismus war durch den Massenmord in Verruf geraten und tabuisiert, doch das Ressentiment wendete sich nun gegen die Schuldgefühle, relativierte die Verbrechen oder setzte gern Opfer und Täter gleich. In der Debatte über diesen neuen Antisemitismus wird auch der Vorwurf erhoben, dass die Kritik an Israel in einigen Fällen weit über eine sachlich gerechtfertigte Kritik hinausgehe und dass ihr wahres Motiv antisemitisch 11sei. Als Zentren dieses neuen Antisemitismus werden die islamische Welt, aber auch Europa ausgemacht, als ihre Träger werden einerseits islamistische Kräfte gesehen, zum anderen aber auch Teile der weltweiten Linken, deren Antizionismus sich nur allzu oft als Antisemitismus entlarve. Seinen Ausdruck finde der neue Antisemitismus einerseits in einer neuen verbalen Radikalität gegenüber Israel und den Juden insgesamt, andererseits in einer neuen Gewaltsamkeit, die sich in der gestiegenen Zahl der Übergriffe gegen Juden manifestiere.
Die Kritiker des Begriffs des »neuen Antisemitismus« hingegen sehen darin nur ein politisches Instrument mit durchsichtigen Zielen. Zum einen gehe es um den Versuch, Kritik an israelischer Politik gegenüber den Palästinensern zu unterbinden, ja, Israel gegen Kritik zu immunisieren. Zum anderen gehöre der Antisemitismusvorwurf mittlerweile zu den transatlantischen Kampfbegriffen, indem Europa von amerikanischer Seite pauschal als antisemitisch gebrandmarkt werde. Die Gefahr für Juden innerhalb und außerhalb Israels werde bewusst übertrieben, der neue Antisemitismus sei ein Propagandainstrument im Dienste bestimmter jüdischer und israelischer Interessen.
Was die intellektuelle und politische Debatte über den neuen Antisemitismus, die im Wesentlichen in Zeitschriften und auf Konferenzen geführt wird, so kompliziert macht, ist der ihr zugrunde liegende Konsens, dass offener Antisemitismus seit dem Holocaust keinerlei Legitimität mehr besitzt. Mehr noch: Just die Abkehr von der nazistischen Ideologie speist den Groll der einen gegen die Juden oder Israel, nährt zugleich das Misstrauen der anderen, hinter den Anschuldigungen gegen jüdische, zionistische oder israelische Politik verberge sich nichts als das alte Ressentiment. Alle Beteiligten der Debatte arbeiten mit der Rhetorik des Verdachts: 12Der Antisemitismusvorwurf gründet auf der Vermutung, dass das Gesagte nicht das Gemeinte ist – dass Kritik an Israel nur ein Vorwand ist, um antisemitische Ideen oder Gefühle zu artikulieren, bewusst oder auch unbewusst. Die andere Seite hingegen argwöhnt, der Antisemitismusvorwurf diene nur dem Interesse Israels, legitime Kritik zum Schweigen zu bringen. Zuweilen liegen wohl beide Seiten mit ihren Verdächtigungen nicht ganz daneben.
Antisemitismus und die Erinnerung an den Holocaust sind zu einem System des Denkens und Handelns verschmolzen, und Antisemitismus ist zu einem Tabu der zivilisierten Gesellschaft geworden. Seit der ersten Ausgabe von 2004 haben jedoch einige Veränderungen stattgefunden.
Wir gingen damals von einem neuen Phänomen aus, das von manchen der Publizierten zwar bezweifelt wurde, doch in der Zwischenzeit kann kaum geleugnet werden, was damals noch umstritten war: Es gibt einen neuen Antisemitismus, der in den letzten Jahren an Macht gewann. In verschiedenen Städten Europas und der USA wissen sich Juden heute nicht mehr sicher. Dschihadistische Attentate gegen jüdische Institutionen haben zugenommen. Zugleich spielen in einigen Staaten autoritär-populistische Regierungen mit einschlägigen Ressentiments. In Ungarn ehrt die Koalition unter Viktor Orbán den Verantwortlichen für die Deportation Hunderttausender Juden, den früheren ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy, und hetzt gegen George Soros. In Polen verbietet ein Gesetz, die polnische Mitschuld an dem Massenmord von Juden zu benennen, in Österreich greifen die Freiheitlichen ebenfalls zu den alten Klischees – etwa um Stimmung gegen Soros zu machen. Und es ist kein Zufall, dass George Soros zur Zielscheibe der Hetze wurde. Soros ist Ungar, Amerikaner und Jude. Er ist Philanthrop und ein reicher und erfolgreicher Geschäftsmann. Und er ist kos13mopolitisch und liberal. Als Gründer der Open Society Foundations verkörpert er im wahrsten Sinne des Wortes alles, was Antisemiten schmeckt: ein vaterlandsloser linker Geldjude. Während rechtspopulistische Parteien, die gegen die Erinnerung zu Felde ziehen, als die wahren Freunde Israels auftreten, um ihren antimuslimischen Rassismus zu schüren, wird dem Judenhass im Islam immer offener gehuldigt. Zugleich gerät die britische Labour Party und ein Teil der Linken in Frankreich in Verdacht, im Windschatten antizionistischer Propaganda und antiisraelischer Boykottbewegungen auch antisemitische Stimmungen zu nähren. All das wird in dieser Neuauflage thematisiert und diskutiert.
Es geht um ein Phänomen, das noch immer eher angenommen und implizit als offen und deutlich aufscheint. Wir wollen in diesem Band mit unseren Autorinnen und Autoren das Implizite explizit machen. Erörtert werden die Tabus und die Frage, welche Tabus zu vertreten sind, wenn es darum geht, die Prinzipien der Moderne nicht der Erosion preiszugeben. Und was bedeutet es für die Moderne, wenn das Tabu des Antisemitismus gebrochen wird? Was sind die Folgen antisemitischer Ressentiments? Warum soll eine freie und autonome Person denn nicht dazu berechtigt sein, negative Gefühle gegenüber anderen zu hegen oder ihre Freunde und Nachbarn so zu wählen, wie sie es wünscht? Haben wir es in manchen Ländern gar schon mit institutionalisierten...