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Sturmabteilung

Die Geschichte der SA - Mit zahlreichen Abbildungen

AutorDaniel Siemens
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783641155353
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis32,99 EUR
Das große Standardwerk über die Geschichte der SA
Dies ist die erste umfassende Geschichte der SA. Daniel Siemens, einer der renommiertesten deutschen Historiker der jüngeren Generation, beschreibt darin den Aufstieg der Ordnertruppe, die für die Hitlerbewegung den Straßenkampf gegen die politischen Feinde ausfocht. Bis zu den frühen dreißiger Jahren verwandelte sich die SA dann von einer Schlägertruppe zum entscheidenden Faktor bei der Machteroberung der Nationalsozialisten. In seinem Standardwerk zeigt Daniel Siemens zudem, wie sogar nach den Säuberungen beim 'Röhm-Putsch' 1934 die SA eine überraschend aktive Rolle in der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik und dem Holocaust spielte.

Daniel Siemens, geboren 1975 in Bielefeld, ist Professor für Europäische Geschichte an der Newcastle University und Fellow der Royal Historical Society. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter der hochgelobten Studie 'Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten' (Siedler 2009), die mit dem Preis Geisteswissenschaften International ausgezeichnet wurde.

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Leseprobe

Einleitung
Eine Nacht der Gewalt


Aus der Dunkelheit der Schlafkammer kriechen die unzähligen Heiligenbilder von den Wänden.

Werden lebendige Zerrgestalten und dringen halb lächerlich, halb feindselig auf ihn ein.

AUGUST SCHOLTIS, 19311

Der 9. August 1932 war in der preußischen Provinz Oberschlesien ein kühler Sommertag und die sich anschließende Nacht ungewöhnlich frisch. Es sollten die letzten Stunden im Leben des 35-jährigen erwerbslosen Arbeiters Konrad Pietrzuch aus Potempa sein.2 Das unscheinbare Dorf im Kreis Tost-Gleiwitz hatte weniger als tausend Einwohner und lag nur drei Kilo­meter von der polnischen Grenze entfernt. Hier lebte Pietrzuch mit seinem jüngeren Bruder Alfons und seiner 68-jährigen Mutter Maria in einer ein­fachen Hütte, deren Wände mit Heiligenbildern geschmückt waren. Fenster gab es keine.3

Die drei schliefen, als in den Morgenstunden des 10. August mehrere bewaffnete Männer anrückten. Sie kamen aus den umliegenden Dörfern und waren Mitglieder der lokalen Ortsgruppe der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), im Volksmund auch »Braunhemden« genannt. Die Angreifer gingen in Stellung, öffneten die unverriegelte Tür und brüllten: »Aus dem Bett, ihr verfluchten polnischen Kommunisten! Hände hoch!« Ohne eine ­Reaktion abzuwarten, drangen die Bewaffneten in das Haus ein, stießen die Mutter vor die Tür und zerrten den Sohn Konrad aus dem Bett. Sie prügelten hemmungslos auf ihn ein, bis schließlich ein SA-Mann einen Schuss auf ihn abgab. Alfons hörte den Schuss, während er mit dem Gesicht zur Wand stand und mit beinahe ebenso großer Wut misshandelt wurde, wohl mit einem Billardqueue oder einem Schlagstock. Seiner späteren Zeugenaussage zufolge dauerte der Überfall fast eine halbe Stunde. Kurz vor 2 Uhr fuhren die Angreifer schließlich in Richtung des benachbarten Dorfes Broslawitz (heute Zbrosławice in Polen) davon. Alfons hatte eine stark blutende Kopfwunde und war einige Zeit bewusstlos. Konrad Pietrzuch war tot.4

Der von dem Gerichtsmediziner Dr. Weimann angefertigte Autopsie­bericht bezeugt die Brutalität des Überfalls: Nach den Feststellungen des ­Pathologen wies der Leichnam Konrad Pietrzuchs

im ganzen 29 Verwundungen [auf], von denen zwei verhältnismäßig gering waren. Besonders schwere Verletzungen wies die Leiche am Hals auf. Die Halsschlagader war vollkommen zerrissen. Der Kehlkopf hatte ein großes Loch. Der Tod ist durch Ersticken eingetreten, da das aus der Halsschlagader sich ergießende Blut durch den Kehlkopf in die Lunge gedrungen ist. Die tödliche Verletzung muss dem Pietrzuch beigebracht worden sein, als er auf dem Boden lag. Der Hals zeigt außerdem Hautabschürfungen, die von einem Fußtritt unbedingt herrühren. Außer diesen Verletzungen ist Pietrzuch am ganzen Körper zerschlagen. Er hat schwere Schläge mit einem stumpfen Beil oder einem Stock über den Kopf bekommen. Und andere Wunden, die so aussehen, als ob mit der Spitze des Billardstockes ihm ins Gesicht gestoßen worden sei.5

Die Behörden befürchteten, politisch interessierte Kreise könnten darauf aufmerksam machen, wie übel der Leichnam zugerichtet war. Daher beschlagnahmten sie diesen sofort nach Bekanntwerden des Verbrechens, um ihn »den Blicken der Kommunisten zu entziehen« und zu verhindern, dass diese Fotos von dem Toten machen und zu Propagandazwecken in Umlauf bringen konnten.6

Machtprobe in der Provinz


Verbrechen von solch außerordentlicher Brutalität waren zu jener Zeit nicht selten. In den Tageszeitungen vom Sommer 1932 lassen sich beinahe täglich Meldungen über Angriffe von Nationalsozialisten vor allem auf sozialistische und kommunistische Arbeiter, aber auch auf Juden finden.7 Zwischen 6. und 9. August 1932 etwa berichtete die jüdische CV-Zeitung jeden Tag von Sprengstoff- und Handgranatenanschlägen aus den oberschlesischen Städten Hindenburg (heute Zabrze), Gleiwitz (Gliwice) und Beuthen (Bytom).8 Mit Blick auf den Sommer 1932 konstatieren Historiker für Schlesien eine regelrechte »Terrorkampagne« von SA-Banden. Das war unter anderem eine Reaktion darauf, dass die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bei der Reichstagswahl vom 31. Juli zwar die meisten Stimmen geholt hatte, es aber dennoch nicht zu einer Regierung unter Führung Hitlers gekommen war.9

Dass der Mord von Potempa landesweit Schlagzeilen machte, lag vor ­allem an der neuen Notverordnung »gegen politischen Terror«, die just am Tag des Mordes in Kraft getreten war.10 Diese Notverordnung sah die Todesstrafe für politisch motivierte Mordtaten vor, ein beinahe schon verzweifelter Versuch der Regierung unter dem Reichskanzler Franz von Papen, die im wahrsten Sinne des Wortes alltägliche Gewalt einzudämmen und das staat­liche Gewaltmonopol durchzusetzen. Kapitalverbrechen mit politischem Hintergrund sollten von neu einzurichtenden Sondergerichten umgehend abgeurteilt werden. Aber auch dieser letzte Versuch, die Weimarer Republik zu retten, blieb wirkungslos. Wenige Monate später gab es sie nicht mehr.11 Joseph Goebbels, seit 1926 Gauleiter der NSDAP in Berlin und Brandenburg, lag in seiner Einschätzung richtig, als er am 10. August 1932 – wohl bevor er von dem Mord in Potempa erfuhr – in sein Tagebuch schrieb: »Telephon von Berlin: neue Notverordnung mit Standrecht […]. Aber das hilft alles nichts mehr.«12

Am 11. August, am Tag nach dem Mord, verhaftete die Polizei neun Männer als die mutmaßlichen Täter: den Bergmann und SA-Scharführer August Gräupner (geboren 1899), den Hauer und NSDAP-Mann Rufin Wolnitza (1907), den Elektriker Reinhold Kottisch (1906), den SA-Truppführer und Markenkontrolleur Helmuth-Josef Müller (1898), einen ehemaligen Polizei­beamten namens Ludwig Nowak (1891) und die Bergleute Hippolit Hadamik (1903) und Karl Czaja (1894). Inhaftiert wurden auch zwei Gastwirte, die bei dem Verbrechen eine Rolle gespielt hatten: der SA-Mann Paul Lachmann (1893), der in Potempa Gemeindevorsteher war, und der Gastwirt Georg Hoppe (1889), Inhaber eines Lokals im Nachbardorf Tworog, das den dor­tigen SA-Leuten als Stammkneipe (»Sturmlokal«) diente.13 Vier weitere mutmaßlich Beteiligte, darunter der Metzger Paul Golombek, wahrscheinlich einer der Haupttäter, hatten sich aus dem Staub gemacht.14 Wie sich aus den Geburtsdaten und Berufen der Angreifer schließen lässt, repräsentierten die zwischen 25 und 43 Jahre alten Männer einen typischen Querschnitt der männlichen Einwohnerschaft Oberschlesiens. Nach Einschätzung des Historikers Richard Bessel, der sich detailliert mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in Schlesien befasst hat, übten die Rädelsführer des Überfalls allesamt »ziemlich ­solide Berufe« aus, nach seiner Ansicht ein Indiz dafür, dass in dieser Region seinerzeit politische Überfälle und sogar Morde so leichthin zur Kenntnis genommen wurden, dass Angehörige der Mittelschicht sie »zwanglos« verübten oder zumindest rechtfertigten.15

Den Verhafteten wurde eine gute Woche später, vom 19. bis 22. August 1932, vor dem Beuthener Sondergericht der Prozess gemacht. Das Verfahren entwickelte sich zu einem Kräftemessen im nationalsozialistischen Lager, bei dem sich der von Hans Frank, dem späteren Generalgouverneur in Krakau, geführte Nationalsozialistische Juristenbund und die neu eingerichtete Rechtsabteilung der SA unter Leitung des Rechtsanwalts Walter Luetgebrune heftig befehdeten.16 Das Aufsehen, das der Fall erregte, suchten Frank wie Luetgebrune zu nutzen, um im parteiinternen Konkurrenzkampf Punkte zu sammeln. Dabei war ihnen jedes Mittel recht. Sie schüchterten Gegenspieler und ortsansässige NS-Juristen ein und verteilten Geschenke an die Angeklagten, um sich deren Gunst zu sichern. Dieser »Bruderkampf« wirkte sich sehr zum Nachteil der Angeklagten aus, da die Rivalität unter den NS-Anwälten »eine reibungslose und wirksame Verteidigung praktisch unmöglich machte«.17

Gestützt auf die ausführlichen Aussagen von Zeugen und Angeklagten und in Anbetracht der Tatsache, dass die politische Einstellung der Angeklagten in der Region gut bekannt war, gelangte das Gericht zu einer plausiblen Rekonstruktion des Tathergangs. Demzufolge hatte Nowak, Führer des SA-Sturms 26 in Broslawitz, am frühen Abend des 9. August 1932 eine Gruppe von SA-Männern beauftragt, Gewaltakte zu verüben, um »die Region in Angst und Schrecken zu versetzen«.18 Diese Gruppe war zunächst zu Hoppes SA-Sturmlokal im nahe gelegenen Tworog gefahren. Hoppe, Führer des dortigen SA-Sturms 27, hatte die Männer mit Waffen ausgestattet und sie dann nach Potempa geschickt. Dort hatten sie bei dem Gastwirt Lachmann reichlich Alkohol und Zigaretten konsumiert. Lachmann und sein Freund, der Metzger Golombek, hatten den Männern dann offenbar die Namen von vier Personen genannt, die überfallen werden sollten.19 Pietrzuch war einer von ihnen. Nur durch Zufall blieb dieser tödliche Überfall der einzige in dieser Nacht. Die stark angetrunkenen SA-Männer suchten danach zwar noch zwei weitere Häuser im Ort auf,...

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