Einführung
Zwei Jahre lang legte sich Marianne regelmäßig auf die Couch eines Psychoanalytikers. Sie litt darunter, sich nur dann richtig lebendig zu fühlen, wenn ihr Partner ihr wieder und wieder versicherte, dass er sie liebte. Dies belastete ihre Beziehungen, und mehrere Trennungen innerhalb kürzester Zeit machten ihr schwer zu schaffen. Die Folge war ein diffuses Angstgefühl. Mit ihrem an einer Eliteuniversität geschulten Verstand lernte sie, das Problem zu durchdringen. Sie begriff allmählich, dass die Ursache im schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter zu finden war, die sie als Kind häufig allein gelassen hatte. Trotzdem hatte sie den Eindruck, nicht zum Kern ihres Leidens vorzustoßen: Ihre Erkenntnisse blieben an der Oberfläche und ließen sie emotional unberührt. Nie hatte sie während der Gesprächstherapie geweint. Die vermissten Gefühle stellten sich ein, als sie am wenigsten damit rechnete. Nach einer intensiven Behandlung bei einer Masseurin wurde Marianne wiederholt von heftigen Schluchzern geschüttelt. Plötzlich fühlte sie sich ins Alter von sieben Jahren zurückversetzt: Sie lag nach einer Blinddarmoperation auf einem Untersuchungstisch im Krankenhaus. Unsagbar einsam kam sie sich vor. Ihre Mutter war nicht aus dem Urlaub zurückgekommen, um ihr beizustehen.
»Das Gefühl, das sie lange in ihrem Kopf gesucht hatte, war stets da gewesen, versteckt in ihrem Körper«, schrieb der französische Neurologe und Psychiater David Servan-Schreiber in seinem Bestseller Die neue Medizin der Emotionen über diesen Fall. Bis zu seinem frühen Krebstod war er der prominenteste Vertreter einer Richtung von Medizinern und Psychotherapeuten, die durch die Arbeit mit dem Körper und den Sinnen die Selbstheilungskräfte von Leib und Seele nutzen und anregen wollen. Sie streben eine humane Medizin ohne zeitaufwendige Gesprächstherapien und abhängig machende Psychopharmaka an, die Körper und Psyche als Einheit begreift und die Emotionen in ihre Therapiekonzepte einbezieht. Das klassische Selbstverständnis des Menschen nach dem Motto »ich denke, also bin ich« wird zunehmend vom »ich fühle, also bin ich« abgelöst.
Emotionale Prozesse laufen überwiegend unbewusst ab. Nur bei einem Bruchteil wird aus einer Emotion ein bewusstes Gefühl wie Freude, Wut oder Trauer. Deshalb können wir mit dem Verstand Emotionen nur sehr schwer kontrollieren oder verändern. Wesentlich leichter geht dies über körperliche Erfahrungen, ist der Emotionsmedizinier David Servan-Schreiber überzeugt, denn über den Körper und unsere Sinne seien Gefühle leichter anzusprechen als über Worte. Nur so lasse sich erklären, dass unter Umständen eine intensive Massage psychisch mehr bewirken kann als eine mehrjährige Gesprächstherapie.
Unsere Sinne sind die direkten Zugangspforten zu dem Bereich des Gehirns, in dem vor allem Emotionen und Gefühle verarbeitet werden. Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Fühlen, Körperbalance ‒ über sie verbinden wir innen und außen. Durch unsere Wahrnehmungskanäle können wir das, was uns umgibt und unsere Psyche bewegt, überhaupt erst begreifen. Sie erschaffen unser ganz persönliches, individuelles Bild der Welt. Ohne unsere Sinne könnten wir uns nicht orientieren oder miteinander kommunizieren. Ohne sie würden wir uns nicht spüren und erkennen, wir hätten kein Gefühl für uns selbst, kein Konzept von unten und oben, von Duft und Gestank. Wir könnten uns nicht koordiniert bewegen, nicht ernähren, nicht lieben ‒ wir wären lebensunfähig.
Experten sind sich nicht einig, wie viele Sinne es gibt. Erstaunlich hartnäckig hält sich die Auffassung, dass der Mensch über fünf Sinne verfügt: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Diese Zahl geht auf den Philosophen und frühen Naturwissenschaftler Aristoteles zurück, der im vierten Jahrhundert vor Christus lebte. Sie ist also schon etwas angestaubt und vermutlich nur deshalb immer noch so populär, weil diese Sinne von außen als Augen, Ohren, Nase, Mund und Haut gut erkennbar sind. Doch zumindest ein verborgenes Sinnesorgan muss man unbedingt hinzurechnen: das tief im Innenohr versteckte Vestibularsystem, das zusammen mit dem Sehsinn und der Körperwahrnehmung unseren Gleichgewichtssinn ausmacht.
Aus der Sicht der Wahrnehmungsforscher, die einzelne Typen von Sensoren mit bestimmten physiologischen Eigenschaften unterscheiden, verfügen wir aber über mindestens 30 verschiedene Sinne, die in der Tabelle »Wie viele Sinne hat der Mensch?« aufgeführt sind. Geschmack ist nach dieser Definition nicht ein einziger Sinn, sondern setzt sich aus sechs Sinnen zusammen. Wer es genau nimmt und auch die vielfältigen chemischen Geruchsrezeptoren funktionell unterscheidet und hinzurechnet, kommt insgesamt auf die stolze Zahl von über 380 Sinnen. Der Einfachheit halber betrachte ich in diesem Buch die sechs basalen Sinnesfunktionen und nehme als siebten Sinn die Intuition hinzu. Denn beim sogenannten Bauchgefühl handelt es sich um eine eigenständige Wahrnehmungsfähigkeit, die sich trainieren lässt und ein wertvolles Hilfsmittel bei lebenswichtigen Entscheidungen sein kann.
Die vielfältigen Sinnessignale, die von den unterschiedlichen Sensoren ins Gehirn gesendet werden, sind untrennbar mit Emotionen und Gefühlen verknüpft. Bilder, Farben und Licht sind in der Lage, in uns ein Gefühl von Harmonie zu erzeugen und die Lust zur Kreativität zu wecken. Gaumenkitzel sind der Urquell des Wohlbefindens – Ernährung ohne Sinnesfreuden wäre auf Dauer schädlich für Bauch und Kopf. Berührung kann Wunder wirken, wenn wir uns einsam oder niedergeschlagen fühlen. Gerüche können längst vergessen geglaubte Erinnerungen wachrufen, Klänge unsere Lebensfreude steigern.
Über unser Gehör gelangen sogar Botschaften ins Gehirn, die uns mehr Ausdauer und Kraft verleihen. Das belegen unter anderem Studien über die Wirkung rhythmischer Musik des Leipziger Max-Planck-Wissenschaftlers Tom Fritz. Er und sein Team rüsteten Fitnessgeräte so um, dass sich mit ihnen neben Muskeltraining auch Musik machen ließ. Die Wissenschaftler begannen, Stepper, Bauchmuskeltrainer und Kraftstationen mit Bewegungssensoren auszustatten und mit speziell komponierten Klangschleifen zu verknüpfen: von einfachen Schlagzeugsequenzen über Techno-Loops bis hin zu Schlagerschnipseln. Diese Musikarrangements sind so programmiert, dass sie nicht falsch klingen können. Eine eigens entwickelte Software sorgt dafür, dass bei einer bestimmten Stellung der Fitnessgeräte auch eine bestimmte Klangsequenz ertönt, und passt deren Tempo an die Bewegung an.
Eine Vielzahl von Versuchsteilnehmern testete in den vergangenen acht Jahren diese Geräte. Die Ergebnisse sind verblüffend: Die Testpersonen auf den klingenden Schweißtreibern empfanden die Anstrengung nur halb so belastend wie Probanden, die an herkömmlichen Geräten trainierten und von Musik nur passiv berieselt wurden. Besonders überraschend: Die Teilnehmer an den Musikmaschinen hatten deutlich mehr Kraft und Ausdauer. Ihre Muskeln waren elastischer, verbrauchten weniger Energie und entspannten sich in den Erholungsphasen stärker. Dadurch waren sie insgesamt leistungsfähiger. Selbst das Immunsystem wurde positiv angeregt, wie Blutuntersuchungen zeigten. Tom Fritz stellte zudem fest, dass die Kombination von Bewegung und Musik glücklich macht. Die Versuchspersonen berichteten über eine verbesserte Stimmung und eine Art Hochgefühl, das manchmal sogar noch Stunden nach dem Training zu bemerken war1.
Wie viele Sinne hat der Mensch? |
Systeme | Funktionen | Sensoren |
Optisch | Sehen | Fotosensitive Ganglienzellen, Stäbchen (Hell-Dunkel-Sehen), rote, grüne, blaue Sehzapfen (Farbsehen) |
Mechanisch/thermisch | Hören | Hörapparat (Haarzellen) |
| Gleichgewicht/ Bewegung | Vestibularorgan |
| Fühlen | Merkel-Zellen, Meissner-Körperchen, Vater-Pacini-Tastkörperchen, Haarfolikelsensoren, Ruffini-Körperchen; Wärme- und Kälterezeptoren; Schmerzrezeptoren für mechanische Reize, Hitze und Entzündungen; Muskelspindeln, Golgi-Sehnenorgan, Rezeptoren f. Gelenkstellung; Rezeptoren für Blutdruck in den Arterien und den Venen; Rezeptoren für Bluttemperatur im Kopf; Sensoren für Lungenfülldruck, Magen- und... |