1 Therapeutische Begegnung
»Alles kann in Einsamkeit erreicht werden –
außer geistiger Gesundheit.«
(Friedrich Nietzsche in Cozolino 2006, S. 229)
»Wenn du den Bereich reinen Seins erreichst,
psychologisiere ihn nicht.«
(Lancaster 2004, S. 273)
Die Person des Therapeuten als Hauptwerkzeug
der Therapie
Im psychotherapeutischen Selbstverständnis spielt die Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine zentrale Rolle. Sie gilt als Hauptwirkfaktor in der psychotherapeutischen Behandlung (Lambert & Barley 2001; Strupp 1996). Allan Schore (2003a) betont die Fähigkeit, Gefühle mit dem Gegenüber gemeinsam erleben und teilen zu können, als wichtigsten Heilfaktor in der Klient-Therapeut-Beziehung. Dieser sei inzwischen in allen therapeutischen Schulen anerkannt und Grundlage aller therapeutischen Interventionen (S. xvii). Nach Orlinsky und Rønnestad (2005, S. 6) variiere die psychotherapeutische Wirksamkeit mehr mit der Person des Therapeuten als mit der angewandten therapeutischen Technik. In diesem Verständnis ist das therapeutische Hauptwerkzeug der Therapeut selbst. Somit wären wir mit einem anderen Werkzeug konfrontiert, je nachdem, mit welchem Therapeuten wir es gerade zu tun bekommen (Evans 1993, S. 69). In der Traumabehandlung wird zusätzlich angenommen, dass nicht die Empathiefähigkeit des Therapeuten, sondern seine Fähigkeit zur Koregulation neurophysiologischer Zustände beim Klienten über deren Wirksamkeit entscheidet (van der Kolk 2004). Diese Sichtweise stellt manche Therapiemethodenstudie infrage, wonach eine Methode an sich wissenschaftlich untersucht werden soll, unabhängig von der Person des jeweiligen Behandlers. Diese Vernachlässigung der behandelnden Person als eigenständige Funktion führt zum Teil zu unerklärten Effekten, wie zum Beispiel in einer Studie über die schützende Wirkung von Trauma-Behandlungsmethoden beschrieben wird (McNally et al. 2003). Oder wie es auch in der Unterscheidung zwischen streng wissenschaftlicher Effektwirksamkeit (efficacy) an ausgewählten klinisch vorsortierten Stichproben und praktischer Alltags-Handlungswirksamkeit (effectiveness) deutlich wird (Spinazzola, Blaustein & van der Kolk 2005).
In der Kognitiven Verhaltenstherapie sind keine der angewandten Techniken aus den wissenschaftlichen Kognitionsstudien entstanden, sondern durch klinisch-praktische Herangehensweisen, die schlicht auf gesundem Menschenverstand beruhen (Hayes et al. 2005, S. 3). Sie resultieren daher aus der tatsächlich gelebten Anwendungspraxis, nicht aus idealisierten, standardisierten und oftmals praxisfernen Forschungsmethoden. Daher ist es sinnvoll, dass Wissenschaftler vorschlagen, mehr Prozessforschung zu betreiben, um die Wirkweise des Behandlers als zentrale therapeutische Kraft besser zu verstehen (Orlinsky & Rønnestad 2005). Einige Autoren sehen dabei den inneren Zustand des Therapeuten als wesentlich für die Wirksamkeit der Behandlung und betonen die Notwendigkeit, mehr Klarheit über das »Instrument Therapeut« zu erlangen (Grepmair & Nickel 2007). Wichtiger als alle Techniken, Veränderungsstrategien und Interventionen beurteilen sie den »inneren Zustand des jeweiligen Begleiters« (Senge et al. 2005, S. 180). Der 1988 verstorbene deutsche Zen-Meister Karlfried Graf Dürckheim formuliert diesen Sachverhalt so: »… [d]ie Wirklichkeit, zu der man den anderen entbindet, hängt davon ab, in welcher Wirklichkeit man selber steht« (1984, S. 135). Der Begründer der Initiatischen Therapie ist davon überzeugt, dass der Therapeut im Klienten das erzeugt, was er für sich selbst als substanziell und existenziell erkannt hat. Was immer wir mit großer Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit als wirklich und relevant für uns erkannt haben, werden wir, ob gewollt oder ungewollt, als Wirklichkeit in unserer Umgebung ausstrahlen. Und der resultierende Seinszustand wird von der inneren Wirklichkeit der uns umgebenden Menschen aufgenommen. So weist zum Beispiel eine deutsche Studie nach, dass in einer psychosomatischen Klinik bessere Therapieergebnisse erzielt werden, wenn die Therapeuten am Morgen vor ihrer Tätigkeit Zen-Meditation praktizieren und damit Einfluss auf ihren Eigenzustand nehmen (Grepmair et al. 2007; Grepmair & Nickel 2007).
Transzendenz des Therapeuten
Als Grundvoraussetzung für therapeutische Arbeit muss sich daher ein Therapeut selbst hinterfragen und transparent sein für seine innere und wechselseitige Landkarte in unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen. Menschen, die diesen Weg gegangen sind, machen dabei eine paradoxe Erfahrung: Je mehr sie sich in sich selbst vertiefen, umso selbsttransparenter und selbsttranszendenter werden sie, wie folgende Zeilen andeuten:
»Weißt du, das Paradox, realer zu sein, bedeutet, immer virtueller zu werden und daher weniger substanziell und entschlossen. Er fügte hinzu: ›Ein Leben in Weisheit hat damit zu tun, ständig loszulassen und den Schein und die Zerbrechlichkeit des Selbst immer deutlicher hervortreten zu lassen. Wenn du jemandem begegnest, der wirklich über diese Fähigkeit in vollem Zustand verfügt, dann hat das eine Wirkung auf dich. Wenn du diesen Menschen begegnest, gehst du in eine Art Resonanz mit ihnen. Du entspannst – da gibt es etwas Erfüllendes in dieser Art des Anwesendseins. Da ist Freude in dieser Art Leben.‹« (Senge et al. 2005, S. 100 f.)
Eine Beschreibung ähnlicher immaterieller Qualitäten findet sich bei Dürckheim (1989) als Frage nach der rechten Form eines Menschen, die ihm eine besondere Qualität des Seins und Daseins ermöglicht. Die Form ist gekennzeichnet durch eine Transparenz von Sein, die uns durchlässig macht für die Anwesenheit und Strahlung des »Numinosen«, einer Qualität von Andersartigkeit, die sich nicht aus der psychologischen Psychodynamik eines Menschen ergibt, sondern aus seiner Teilhabe an einem Mysterium. Dieses Mysterium entzieht sich dem manipulierenden Erfassen durch den rationalen Verstand und ist rein gedanklich nicht zu erfassen. Es ist »die Qualität, die untrüglich und unverwechselbar die Präsenz einer anderen Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein anzeigt … Sie ist nirgends einzuordnen. Sie sprengt jedes Wort, jeden Begriff, jedes Bild, ist nicht der Superlativ eines besonderen Gefühls des Schönen zum Beispiel oder des Guten« (Dürckheim 1989, S. 100). Das Tetragrammaton JHWH, die Bezeichnung für das Göttliche im Alten Testament, hergeleitet aus der hebräischen Übersetzung, bedeutet: »Ich werde da sein, als der ich dann da sein werde« (Gerbl 2017). Damit weißt eines der ältesten Psychologiebücher der Menschheit, die Bibel, unser Dasein als Teilhabe an einer formunbestimmten Wirklichkeit aus, die sich unserem erfassenden, instrumentellen Denken entzieht.
Mit diesen Beschreibungen geraten wir in eine Beziehungs- und Erlebnisorientierung, die über den immanenten, das heißt in sich abgeschlossenen, psychologischen Erlebnisraum form- und strukturgebundener Psychodynamik eines Es-Ich-Über-Ich-Triebmodells ebenso hinausgeht wie über eine einseitige Introspektionsorientierung in der Transpersonalen Psychologie (Ferrer 2002). Stattdessen eröffnet sich eine andere Erlebensqualität, die durch Teilhabe an andersartigen amorphen Bewusstseinsqualitäten beschrieben werden kann. Jorge Ferrer, Verfechter eines Transzendenzverständnisses als integraler Teil von erfahrbarer Wirklichkeit und Menschsein, verdeutlicht Teilhabe an relevanten Lebenswirklichkeiten mithilfe des Beispiels Teilnahme beziehungsweise Teilhabe an einer Party:
»Eine Party ist ein Teilnehmen an einer Feierlichkeit des Lebens und des anderen. Eine Party gehört niemandem, weil man sie nicht besitzen kann. Eine Party ›ereignet sich‹ immer dann, wenn eine bestimmte Kombination von Bedingungen zusammenkommt. Das Maximalste, was wir tun können, um eine Party gelingen zu lassen, ist, diese Bedingungen zu optimieren. Wir können uns zum Beispiel psychologisch darauf vorbereiten, uns kleiden in festlicherer, eleganterer oder farbenfroherer Art und Weise. Wir können offene, interessierte Menschen mit ähnlicher Einstellung einladen, besondere oder farbenfrohe Dekorationen verwenden, reichhaltige und nährende Speisen bereiten oder Spiele, Aktivitäten und Rituale vorbereiten, die Selbstausdruck, wechselseitiges Mitmachen und Öffnung für Lebensenergien fördern. Eine Party kann sich auch spontan ereignen, zum Beispiel durch ein ungeplantes Treffen einiger alter Freunde in einem Café. Wichtig ist es, festzustellen, dass sowohl interne als auch externe Bedingungen erfüllt sein müssen für das Teilnehmen an einer Party. Wir alle kennen es gut, wenn wir, aus welchen Gründen auch immer, uns abgeschnitten von oder verschlossen für Lebensenergien fühlen. Dann wird auch die festlichste Umgebung für uns kein Partyerlebnis kreieren. Deshalb ist eine Party auch kein objektives oder subjektives Phänomen, sondern ein Phänomen von Teilhabe.« (Ferrer 2002, S. 117 f., Übersetzung des Autors)
Teilhabe an einem Mysterium
Teilhabe erfordert, dass man sich für eine Sensitivität der Wahrnehmung öffnet, die durch Sprache schwer zu beschreiben ist, weil die Teilhabe an dieser Qualität als »gefühlt« wahrgenommen wird (Schmidt 2013). Verbalsprache kann Teilhabe an immateriellen Bewusstseinsqualitäten nur in Vergleichen ausdrücken, das heißt Bezug nehmen auf etwas, was wir schon kennen. Dennoch bleibt es schwierig bis unmöglich zu beschreiben, wie Knoblauch schmeckt, ein Wald riecht oder wie ein Liebesgefühl unsere Wahrnehmung, unser Sein und unser Erleben von Lebendigkeit verändert. Der Bereich der Phänomenologie (Heidegger 1962; Merlau-Ponty...