Einführung
Ulrich Herrmann
SZ. Als Sie sich im Oktober [2017] in Ihrem letzten Terrorprozess in Düsseldorf verabschiedet haben, hat Ihnen der Hauptangeklagte freundlich zugewinkt. Waren Sie nett zu ihm?
Barbara Havliza: Nein, wir haben uns auch tüchtig gestritten, es war nicht einfach, mit ihm umzugehen. Er war schnell beleidigt, wenn man nicht so agiert hat, wie er sich das gerade vorstellte. Aber er hat am Ende gewusst, dass ich ihn als Mensch und mit Achtung behandele.
Sie kamen sehr nahe an die Angeklagten heran – näher als andere Richter. Wie machen Sie das?
Ich habe mich immer bemüht, die Würde der Angeklagten zu wahren. Egal, ob ein Angeklagter intellektuell nicht so fein gestrickt ist oder ob er sich bloß überlegen fühlt – jeder merkt sehr schnell, ob man ihn vorführen will. Ich habe mich immer darum bemüht, den Angeklagten menschlich zu begegnen und sprachlich nicht abzuheben.
Der Attentäter, der der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker in den Hals gestochen hat, hat Ihnen zugehört – alle anderen im Saal hat er niedergeredet. Ein Mann, der sich von allen verfolgt fühlte. Wie haben Sie das gemacht?
Ich habe ihm gesagt, er solle mal wieder von seiner Palme herunterkommen, auf die er geklettert war, und dass die Welt nicht so ist, wie er sie sich zusammenreimt. Das hat er offenbar verstanden. In solchen Fällen hilft eine verständliche Ausdrucksweise. Die meisten Angeklagten merkten, dass es mir nicht darum ging, sie „hinter die Fichte“ zu führen. Ich brachte ihnen immer einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegen. Vielleicht war es das, was viele Angeklagte dazu gebracht hat, mit mir zu reden. Manche Verteidiger haben mir dann später gesagt: „Der wollte gar nicht reden. Sie haben es geschafft, ihn aufzuknacken.“ Das macht mich auch ein bisschen stolz.
Vermittelten Sie dann den Angeklagten, dass Sie die liebe, mütterliche Richterin sind, von der nichts Böses droht?
Mütterlich bin ich schon, aber das hat dem Angeklagten am Ende keinen Vorteil gebracht. Auch wenn er gestanden hat, hieß das nicht: Er kommt milde davon. Ich habe lange Jugendstrafsachen gemacht, da legt man den Erziehungsgedanken nie ganz ab. Und viele der Angeklagten waren ja im Alter meiner Kinder. Da übernimmt man häufig den Tonfall. […]
Diese Eingangspassage aus dem Interview von Annette Ramelsberger (Süddeutsche Zeitung, Nr. 4 vom 5.–7.1.2018, S. 52) mit der derzeitigen niedersächsischen Justizministerin Barbara Havliza (ehemals Jugendrichterin in Osnabrück und zuletzt Vorsitzende Richterin am OLG Düsseldorf) kann durch einige Schlaglichter den Blick und den Sinn dafür schärfen, was es bedeutet, eine menschliche Beziehung aufgebaut zu haben, die einem Angeklagten in seiner ohnehin schwierigen Lage „irgendwie“ emotional, menschlich helfen sollte. Frau Havliza äußert im Verlauf des Interviews noch weitere Aspekte, die für das Thema „Beziehung“ als Begegnung wichtig sind: „offen auf die Menschen zugehen“, aber auch ‚klare Kante‘ zeigen; statt ‚aus der Rolle zu fallen‘ „ganz langsam bis drei zählen“; „sich immer wieder fragen, ob man die Macht, die man hat, auch nicht übermäßig einsetzt“; nicht überheblich, sondern auf der Augenhöhe des Anderen zu kommunizieren; die (situativen) Schwierigkeiten des Angeklagten als Gesprächspartners im eigenen Verhalten zu berücksichtigen; und nicht zuletzt ein institutionenbezogener struktureller Aspekt: „alle Mitarbeiter des Gerichts [sind] Repräsentanten eines Staates, der zum Teil massiv abgelehnt wird.“ Das heißt: Wie werde ich wahrgenommen – als Amtsträger, als Mensch; als jemand, der für seine Urteilsfindung auf Kommunikation und Gespräch mit dem Angeklagten angewiesen ist? Wie ist es erreichbar, dass ein (anfänglicher) Gesprächsverweigerer sich durch das Verstehen des Auftrags und damit der Erwartungen seines „Gegenübers“ „öffnet“? Wie lernt er verstehen, dass er sich nicht in einer Konfrontations-, sondern in einer Beziehungssituation befindet, mit der er auch in seinem Sinne umgehen sollte?
Wenn in dieser Perspektive in Richtung Schule gefragt wird: Die Schüler werden per Gesetz in die öffentliche Schule „hineinverwaltet“. Aber wie steht es anschließend mit der Akzeptanz der Schule und ihres Personals bei Schülern, die sich z. B. durch kaum revidierbare Verwaltungsakte auf die Verliererseite und um Zukunftschancen gebracht fühlen? Wo und wie werden „im System“ die Ursachen von Mobbing und anderem gewaltförmigem Verhalten bis hin zum Amoklauf bemerkt und bearbeitet? Ist der Lehrerschaft immer bewusst, nicht nur Repräsentanten und Funktionäre struktureller Gewalt sein zu müssen – diese manifestiert sich in Benotungs- und Versetzungsordnungen bis hin zur Abstempelung als „Versager“ –, sondern zugleich auch aufgerufen zu sein, diese Situation durch ihr pädagogisches Berufsethos abmildern oder sogar überspielen zu sollen/müssen (wenn z. B. das höherwertige [?] Gut des Kindeswohls ins Spiel kommt)? Die Beantwortung dieser Fragen würde sogleich die Vielfalt, die Eigenart und die Bedeutung förderlicher kommunikativer Beziehungen erweisen und auch deren pädagogische Dimension.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Schüler sind keine Angeklagten – auch wenn sich nicht wenige aufgrund ihres „Versagens“ so fühlen dürften, besonders dann, wenn sie zu Hause mit einem miserablen „Zeugnis“ oder gar der Mitteilung „Nicht versetzt“ antreten müssen. (Für diese Situation werden nicht ohne Grund anlassbezogene Telefon-Notrufe geschaltet!) Lehrkräfte sind unausweichlich immer auch „Richter“1; denn sie können Sanktionen mit weitreichenden Konsequenzen, wenn nicht sogar lebenslangen Folgen verhängen. Deshalb sollten sie auch immer wieder prüfen, ob sie mit der ihnen übertragenen „Macht“ maßvoll und unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände ihrer Schüler angemessen umgehen. Zum Vergleich: Durch das Richterrecht soll sich durch die Berücksichtigung der Tatumstände und der Persönlichkeit des Missetäters ein Mehr an Gerechtigkeit ergeben; denn ein Schematismus der Anwendung von Vorschriften unterschiedslos auf alle Angeklagten widerstreitet dem Grundsatz der Gleichheit: dass nämlich Ungleiches ungleich behandelt werden muss. Wie steht es in dieser Hinsicht mit einem „Lehrerrecht“ und dem Umgang mit den schematischen Vorgaben der Rechtsverordnungen für den Schulbetrieb? Sind den Schulleitungen und Kollegien die bestehenden Freiräume überhaupt bekannt? Nutzen sie sie aus, u. zw. wie im Richterrecht nicht nach de lege lata, sondern de lege ferrenda? Ist im Vergleich mit der Herstellung von Rechtsfrieden und Akzeptanz der Rechtsordnung in einem Grenzfall die Erfolgsperspektive eines jungen Menschen nicht höherrangig als die Befolgung der Versetzungsordnung? Latente und manifeste Machtstrukturen können in öffentlichen Schulen als Institutionen nicht völlig eliminiert werden, auch wenn sie den pädagogischen Intentionen der Lehrerschaft zuwiderlaufen. In den vergangenen 40, 50 Jahren sind Veränderungen dadurch eingetreten, weil ein entscheidender Bereich für Lernatmosphäre, Lernfreude und Lernleistung sich geändert hat: das Bewusstsein von der Notwendigkeit intensivierter pädagogischer Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern (was heute vor allem durch die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft ohnehin unumgänglich ist).
Aspekte pädagogischer Beziehungen in der Schulpädagogik heute
Den eingetretenen Wandel hat Alfred Hinz, der Gründer der legendären Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen, so beschrieben2:
Achtung vor der spontanen Selbstverwirklichungskraft des Kindes
Respekt vor der Würde des Kindes
Bereitschaft, dem Freiheitsanspruch in Verantwortung den jeweils größtmöglichen Spielraum zu geben
Bereitschaft, das Kind mit liebender Zuwendung in das soziale Beziehungsgefüge [der Klasse und Schule] aufzunehmen, ohne die eine Persönlichkeitsentwicklung nicht denkbar ist
Bereitschaft, dem Kind einen spezifischen Weltzugang zu ermöglichen, ohne den kein Menschsein möglich ist ...