Legt mir ihre Leiche vor die Tür
Maria Kramer sagte einmal zu mir: «Es überfällt mich immer wieder ein fürchterlicher Schmerz und eine Trauer, und ich denke, dass es einfach unmenschlich ist, was da passiert ist. Und dann entwickelt sich ein Zorn auf den Täter, der dafür gesorgt hat, dass Annegret nie wieder nach Hause kommt.»
Solche Sätze sind immer in Marias Kopf. Sie sitzt im Zimmer ihrer Tochter auf dem Bett, starrt in den Spiegel neben der Tür. Sie schaut in ihre eigenen Augen und erschrickt. Ihr Blick ist voller Trauer, hart und leer.
Sie sieht sich um. Nichts hat sie verändert. Alles ist wie früher. Wie vor fünf Jahren. Keinen Gegenstand hat sie weggeworfen. Die Schranktür ist noch immer halb geöffnet, die Kleidung darin geordnet. Die Bücher für das Studium stehen im Regal und auf dem kleinen Schreibtisch unterm Fenster. Bleistift, Radiergummi, Kugelschreiber, gelber Marker und ein kleiner Zettel mit der handschriftlichen Notiz «Montag Reinigung» liegen in einer kleinen schwarzen Schale. Alles ordentlich und abgestaubt.
Maria blickt an sich hinunter. Ihr Körper ist ihr so fremd geworden wie ihr Leben, das sie seit dem Verschwinden ihres kleinen Mädchens führt. Mit den Jahren und den ständigen Gedanken an ihre Tochter hat sie an Gewicht zugenommen. Ihre weiße Bluse mit den kleinen roten Rosen ist schmutzig. Am Bauch klafft ein breiter Riss. Sie ist gerade von einem Spaziergang aus dem nahegelegenen Wald heimgekehrt. Wieder hat sie keinen Blick für die Schönheit der Natur gehabt. Wieder ist sie abseits des Wegs gegangen. Wieder ist sie durch dichtes Gestrüpp, durch Kornfelder und über sumpfige Wiesen gestapft. Hat hinter Bäume und Büsche geschaut und sich ihre Bluse zerrissen, als sie eine Böschung hinuntergestürzt ist.
Maria Kramer kann nicht mehr wie andere Menschen ganz normal spazieren gehen. Nicht mehr wie früher unbeschwert durch die Natur wandern. Das flirrende Spiel der Vögel beobachten. Die Pflanzen am Wegrand betrachten. Den Duft von Gras und Blumen tief einatmen. Wenn Maria in den Wald geht, ist sie immer auf der Suche.
Maria sucht ihre Tochter. Die Überreste ihres toten Körpers. Vertrocknete, bröselnde Knochenstücke vielleicht. Oder einen verblichenen Fetzen Kleidung. Irgendetwas, das noch da ist von ihrer Annegret, die ihr nach so langer Zeit noch immer so nah und doch so fern ist. Nach der sie sich so unendlich sehnt, um die sie aus tiefstem Herzen trauert. In manchen schwachen, besonders verzweifelten Stunden sagt Maria: Legt mir doch endlich ihre Leiche vor die Tür!
An einem Juliabend vor fünf Jahren verlässt Annegret Kramer ihr Elternhaus, um ihre Freundin Emma zu besuchen. Die beiden jungen Frauen studieren gemeinsam Theaterwissenschaften, haben sich in der Mensa der Universität kennengelernt. Emma besorgt eine Flasche Weißwein, Annegret bringt spanische Tapas mit.
«Wir hatten uns an diesem Abend vorgenommen, nicht so lang zu machen», erinnert sich Emma später bei der Befragung durch die Polizei. «Wir wollten früh am nächsten Tag miteinander telefonieren, um uns für einen Ausflug mit dem Fahrrad zu verabreden. Es war doch so schönes Wetter.»
Das Dunkel der Nacht hat sich gerade erst über Büsche und Bäume und Gassen gelegt, als sich Annegret Kramer um 22 Uhr auf den Weg nach Hause macht. Es sind nur zehn Minuten Fußweg. Die 20-Jährige wohnt noch bei ihren Eltern. Ihr ehemaliges Kinderzimmer ist jetzt ihre Studentenbude, wie sie sagt.
Fünf Jahre später sitzt Maria Kramer wieder einmal, wie so oft, in diesem Zimmer. Vom Flur im Erdgeschoss des Einfamilienhauses führt eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock. Eine Couch, ein Bett mit einer braunen Wolldecke, ein Schrank aus den fünfziger Jahren, von der Oma geerbt, einige Poster mit Theaterszenen an der Wand, ein Ohrensessel – auch von der Oma –, eine Stereo-Anlage, viele Bücher. Die Mutter sitzt auf der Couch und überlegt, wie sie das Zimmer verändern könnte. Schon seit Monaten hat sie sich immer wieder mit diesem Gedanken beschäftigt. Welche Sachen sollte sie aufbewahren? Was könnte sie wegwerfen?
Woche für Woche, Monat für Monat immer die gleichen Gedanken. Immerhin kann sie inzwischen hinaufsteigen in das Zimmer der Tochter. Die ersten zwei Jahre nach dem Verschwinden von Annegret kann Maria das Zimmer nicht betreten. Jeder Schritt, jede Stufe ist eine seelische Qual. Sobald sie einen Fuß über die Schwelle setzt, bricht sie in Tränen aus.
Irgendwann schafft sie es dann doch. Sie beschließt sogar, einige von Annegrets Sachen zu verschenken. Doch die Freundinnen ihrer Tochter wollen die Sachen nicht. Sie können sich nicht vorstellen, Annegrets Kleidung zu tragen, weil ihnen das Verschwinden der Freundin so nahegeht. Jedes Stück würde sie tagtäglich an die verschwundene Freundin erinnern. Und diese Erinnerungen sind laut und schmerzhaft.
Die Eltern, Maria und Heinz, waren für eine Woche bei Verwandten zu Besuch. So fiel nicht auf, dass die Tochter in der Nacht zum Samstag nicht nach Hause kam. Am nächsten Tag versuchte Emma sie telefonisch zu erreichen. Doch Annegret meldete sich nicht. Nicht am Morgen. Nicht am Mittag. Nicht am Abend und auch an den nächsten Tagen nicht. Schließlich ging Emma zur Polizei.
Für die heimkehrenden Eltern steht sofort fest, dass etwas Schreckliches passiert ist. Das unangenehme Gefühl beginnt bereits, als sie mit ihren Koffern das Haus betreten. Wenn sie sonst von Reisen zurückkehren, hat Annegret das Haus aufgeräumt und empfängt die Eltern schon an der Tür. Diesmal ist die Haustür verschlossen, und es gibt auch keine Nachricht von der Tochter. Dreckiges Geschirr türmt sich in der Spüle. Unterlagen für Annegrets Studium liegen im Wohnzimmer auf dem Boden verstreut, Kleidungsstücke achtlos auf Tischen und Stühlen. Und auch im Zimmer der Tochter herrscht ein Durcheinander, sodass die Mutter erst einmal ein wenig Ordnung schafft. So ein Verhalten kennen die Eltern nicht von Annegret.
Auf die Vermisstenanzeige reagiert die Polizei schnell. Der Leiter der schon bald eingerichteten Sonderkommission, Kriminalhauptkommissar Dieter Herber, ist ein erfahrener Beamter. Einer, der weiß, dass die Zeit drängt und dass jetzt die Spuren zusammengetragen werden müssen, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Die Suchmeldung der Polizei beschreibt die Vermisste so genau wie möglich: 20 Jahre alt. Schlanke Statur. Rundliches Gesicht. 170 Zentimeter groß. Etwa 65 Kilo schwer. Blonde, mittellange Haare. Bekleidet mit einer dunkelblauen Jeans, einem roten T-Shirt, knöchelhohen, weißen Nike-Turnschuhen. Eine braune Damenarmbanduhr, eine kleine braune Geldbörse. Die wichtigste Frage an die Medien, an die Bevölkerung: Wer hat Annegret Kramer in der Nacht ihres Verschwindens gesehen?
Herber und seine Kollegen geraten bei ihren Ermittlungen bald in eine Sackgasse. Nach intensiven Gesprächen mit den Verwandten, Freunden und Bekannten sind sie sicher, dass die Studentin nicht freiwillig fortgeblieben ist. Doch es gibt zu diesem Zeitpunkt nicht einen einzigen ernst zu nehmenden Hinweis, was mit der Vermissten geschehen sein könnte.
Die Ermittlungen der Polizei werden in viele Richtungen geführt. Das Gelände um den letzten bekannten Aufenthaltsort der Vermissten wird von Hundertschaften der Bereitschaftspolizei abgesucht. Hubschrauber überfliegen unwegsames Gelände. Leichenspürhunde schnüffeln sich durch Parks und Wälder und durchforsten mit ihren sensiblen Spürnasen sogar eine Müllkippe.
Immer wieder wendet sich Herber an die Öffentlichkeit. «Selbst Hinweise, von denen der Hinweisgeber gar nicht annimmt, dass sie uns helfen können, werden von uns überprüft. Die Akte wird nicht geschlossen», verspricht der Kriminalbeamte und appelliert an Mitwisser einer möglichen Gewalttat, sich zu offenbaren: «Geben Sie uns einen Hinweis auf den Verbleib der Vermissten. Wir sichern Ihnen Vertraulichkeit zu, denn wir möchten nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Angehörigen das Verschwinden der jungen Frau endlich aufklären.»
Der Weg, den Annegret Kramer vermutlich gegangen ist, die Strecke von der Wohnung der Freundin zum Elternhaus, ist nicht lang. Er führt ein paar Minuten an einem Bach entlang. Die Leichenspürhunde schnüffeln intensiv an der Uferböschung. Polizisten stochern mit langen Stäben im Bachbett und in den Büschen. Der Bach ist viel zu schmal und zu flach, und die Strömung zu träge, als dass sie einen Menschen hätte fortreißen können.
Maria Kramer steht manchmal stundenlang an diesem Bach. Sein Wasser umspült sanft die Pflanzen und Baumwurzeln am Ufer. Manches Grün zieht das Wasser mit sich fort. Sie stiert ins Wasser, und dabei gehen ihr Tausende Gedanken und Bilder über Gewalt und Blut und Hilfeschreie durch den Kopf.
Annegret ist wie von Geisterhand aus dem Leben der Eltern gerissen worden. Ihre Mutter weiß nicht von wem und nicht warum. Aber sie glaubt fest daran, dass der Tochter Gewalt angetan wurde. Wahrscheinlich ein Triebtäter. Ein frustrierter Mann. Vielleicht aber auch ein heimlicher Verehrer, der die Grenze zwischen Leidenschaft und Verbrechen überschritten hat. Obgleich die Polizei keine Hinweise auf ein Verbrechen hat, versucht sich Maria mit diesen Überlegungen das Verschwinden der Tochter zu erklären. Trost findet sie dadurch nicht.
Sie steht vor dem Kleiderschrank ihrer Tochter und überlegt erneut, was sie mit den Sachen machen könnte. Oft sind ihre Gedanken wirr, ohne Ziel, wenn sie in Annegrets Zimmer sitzt und nachdenkt. Es sind Gedanken, die Maria in den letzten Jahren oft gehabt hat: Ihre Tochter ist weg, fortgerissen aus ihrem Leben, ohne Hilferuf, ohne Chance auf Rettung. Dann wechseln...