|21|Kapitel 2
Ressourcen, Schutzfaktoren und Resilienz
Schutzfaktoren sind Ressourcen, die eingesetzt werden, um Risiken abzupuffern und Fehlentwicklungen bzw. die Entwicklung von Störungen zu verhindern oder zumindest abzumildern. Von Schutzfaktoren wird daher gesprochen, wenn diese pathogene oder gefährdende Entwicklungen positiv beeinflussen (Petermann & Schmidt, 2006; Rutter, 2012).
Man kann also davon ausgehen, dass es vor allem dann zu kindlichen Entwicklungsproblemen und Gefährdungen kommt, wenn die kumulierten Risiken nicht mehr durch Schutzfaktoren kompensiert werden können (siehe Kapitel 1). Insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter sind die elterlichen Beziehungs- und Bewältigungskompetenzen von entscheidender Bedeutung für die gesunde Entwicklung des Kindes. Durch die persönlichen und sozialen Ressourcen der Eltern, ihren Fähigkeiten mit Stress- und Belastungen umzugehen und soziale Unterstützung zu aktivieren, werden die Grundlagen für die Entwicklung von Ressourcen und Schutzfaktoren auf Seiten der Kinder gelegt.
Merke
Kinder entwickeln sich zu starken Persönlichkeiten, wenn sie starke Eltern haben. Kinder sind am besten vor Gefährdungen geschützt, wenn die Ressourcen der Eltern gestärkt werden.
2.1 Resilienz als Label – Schutzfaktoren für eine gesunde Entwicklung
In seiner ursprünglichen Bedeutung wird unter Resilienz ein Label für eine gesunde Entwicklung von Menschen trotz widriger und belastender Umstände verstanden (Reinelt et al., 2016). Durch die Untersuchung vielfältiger Risikokonstellationen konnte eine Vielfalt von potenziell Resilienz fördernder Faktoren – sogenannter Schutzfaktoren – ermittelt werden. Untersucht wurden in prospektiven Längsschnittstudien und kontrollierten Querschnittsstudien verschiedene Risikogruppen, wie z. B. Kinder aus Familien mit multiplen psychosozialen Belastungen. Obwohl sich die Studien auf unterschiedliche Stichproben in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten stützen, mit unterschiedlichen Methoden durchgeführt wurden und hinsichtlich der untersuchten Entwicklungsabschnitte und Risikofaktoren variieren, zeigen sich konsistente Befunde. Es kann also von bedeutsamen generellen Schutzfaktoren für eine gesunde Entwicklung ausgegangen werden (Masten, 2007; O’Dougherty et al., 2013):
Personale Merkmale (z. B. effektive Emotionsregulation, hohe Selbstwirksamkeitserwartungen, Temperament, Selbstvertrauen und hohes Selbstwertgefühl, Bewältigungskompetenzen)
Merkmale von Familien (z. B. emotional sichere und stabile Bindung, emotional positives und zugleich Grenzen setzendes Erziehungsklima, harmonische elterliche Paarbeziehung).
Familiäre Interaktionsmerkmale (z. B. emotionale Verbundenheit, Flexibilität in den familiären Strukturen, Kohäsion, Ausdruck von Gefühlen, offene und kongruente Kommunikation, familiäre Bewältigungskompetenzen).
Soziale und soziokulturelle Faktoren (insbesondere zuverlässige, vertrauensvolle Beziehung zu außerfamiliären Person(en), Einbindung in soziales Netzwerk, soziale Unterstützung, gute Schule und Gesundheitsversorgung, Integration in Gruppen, Vereine etc.).
In den letzten Jahren wurden darüber hinaus biologische Korrelate von Resilienz untersucht. Es konnten hierbei sowohl neuronale Areale identifiziert werden, die in Resilienz involviert sind, wie z. B. der |22|dorso-laterale anteriore cinguläre Kortex (Peterson et al., 2014), sowie neurobiologische und neurochemische Marker (Kalisch et al., 2015) und genetische Faktoren (Cicchetti & Rogosch, 2012). Auch epigenetische Prozesse werden als mögliche biologische Substrate im Zusammenhang mit der Ausbildung von Resilienz angenommen (Schmidt et al., 2012).
Als einflussreichste Studie in der Resilienzforschung gilt die Kauai-Studie von Emmy Werner und ihren Mitarbeitern (Werner & Smith, 1992). In einer prospektiven Studie untersuchte die Forschergruppe auf der Hawaii-Insel Kauai eine vollständige Geburtsjahrgangskohorte, bestehend aus 698 Kindern des Jahrgangs 1955 aus meist gemischten, eingewanderten und einheimischen, zumeist sozioökonomisch benachteiligten Familien, über 40 Jahre von der pränatalen Phase bis ins Erwachsenenalter.
In die Studie wurden demografische Angaben zur Familiengeschichte, zur aktuellen Familie und zum Haushalt, Interviews bei Hausbesuchen, Informationen aus pädiatrischen Untersuchungen, psychologische Testverfahren, Schulnoten, Berichte von Erziehungs- und Gesundheitseinrichtungen, sowie von Sozialdiensten und Polizeiämtern einbezogen. Differenzielle Erkenntnisse über die Entwicklung der sogenannten „Resilienten“, die trotz belastender Lebensbedingungen und Umstände eine gesunde Entwicklung nahmen, wurden über die Teilstichprobe von Kindern gewonnen, die im Alter von zwei Jahren mit mindestens vier Risikofaktoren – z. B. Armut, psychisch erkrankter Elternteil, Scheidung und Arbeitslosigkeit der Eltern – belastet waren.
Ein Drittel der Gesamtkohorte musste dieser Hochrisiko-Gruppe zugerechnet werden, davon nahmen zwei Drittel eine ungünstige Entwicklung. Ein großer Teil dieser Personen kam aus armen und desorganisierten Familien und zeigte seit früher Kindheit Auffälligkeiten in der Schule, wiederholte kriminelle Handlungen und gesundheitliche Schwierigkeiten. Ein Drittel der Hochrisiko-Gruppe (ca. 10 % der Gesamtkohorte) entwickelte sich zu relativ psychisch gesunden und kompetenten Erwachsenen.
Auf der Suche nach den Wurzeln für diese günstigen Entwicklungsverläufe wurden die oben genannten persönlichen und familiäre Schutzfaktoren zum ersten Mal gefunden, die offensichtlich das Risiko für Auffälligkeiten bzw. Störungen entscheidend reduzieren konnten. Unter anderem in der Isle of Wight-Studie (Rutter, 1989), der Mannheimer Risikokinderstudie (Laucht et al., 1994) sowie der „Bielefelder Invulnerabilitätsstudie“ (Lösel & Bender, 1999) konnten diese Schutzfaktoren für eine gesunde psychische Entwicklung bestätigt werden.
Schutzfaktoren bei Kindern psychisch erkrankter und suchtkranker Eltern
Während eine ganze Reihe von Befunden aus der allgemeinen Resilienzforschung vorliegt, stehen Forschungsansätze im Hinblick auf spezielle Gruppen, wie z. B. Kinder bzw. Familien psychisch erkrankter und suchtkranker Eltern, noch am Anfang. Eine der wenigen Arbeiten, in der die positive Anpassung von Kindern mit psychisch erkrankten Eltern untersucht wurde, stammt von Beardslee und Podorefky (1988). Die Autoren haben aus einer größeren Stichprobe gezielt 18 resiliente jugendliche Kinder, von denen ein Elternteil an einer Depression erkrankt war, danach befragt, wie sie die elterliche Erkrankung wahrnehmen und kognitiv verarbeiten. Die Jugendlichen beschrieben sich selbst als Personen, die sich aktiv in schulischen und sozialen Aktivitäten engagieren sowie enge, vertrauensvolle Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie besitzen. Sie zeigten darüber hinaus eine angemessene kognitive Bewertung der Erkrankung und anderer familiärer Stressfaktoren sowie eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Kompetenzen. Mattejat und Remschmidt (2008) heben darüber hinaus in ihrer Studie hervor, dass die Auswirkungen der psychischen Erkrankung eines Elternteils stark von der psychischen Verfassung des anderen Elternteils, von der Qualität der Ehebeziehung und dem Umgang mit der psychischen Erkrankung in der Familie abhängig sind.
Diese Befunde entsprechen weitgehend den Ergebnissen allgemeiner Resilienzstudien, wonach positive Beziehungen innerhalb der Familie und auch außerhalb der Familie einen wichtigen Schutzfaktor für Kinder darstellen. In der BELLA-Studie zeigte sich beispielsweise, dass sich die Ressourcen des Familiensystems hinsichtlich psychischer Auffälligkeit der Kinder deutlich protektiv auswirken, das heißt sie verringern die Wahrscheinlichkeit für psychische Störungen und Gefährdungen signifikant (Ravens-Sieberer et al., 2007).
Neben der Beziehungsqualität heben Mattejat und Remschmidt (2008) im Anschluss an Cummings und Davis (1994) die Krankheitsbewältigung als weiteren zentralen protektiven Faktor hervor.
Beziehungsqualität. Kinder psychisch kranker Eltern haben dann gute Entwicklungsmöglichkeiten, wenn sie und ihre erkrankten Eltern sich auf tragfähige und Sicherheit vermittelnde Beziehungen stützen können, das...