Zwischen Tränen und Glücksgefühlen:
Glauben, Leben und Lieben
Über die Liebe
Eine musikalische Annäherung
»Einst glaubtest du, aber du brauchtest Beweise. Ist die Liebe ein Beweis?«, fragt sich der Sänger im Hallelujah von Leonard Cohen (1934–2016). Der Song in der englischen Originalfassung provoziert. Er ist kein Diskurs. Er ist ein Anruf. Der Liedtext skandiert sehr expressiv eine Mischung aus biblischer Erzählung und Hallelujah-Anruf.
Cohen singt über Davids Psalmengesang und dessen Komposition des »Hallelujah«. Er denkt über die Beziehung zwischen David und Batsebah, Samson und Deliah nach und überlegt, ob er in diesem Raum nicht schon einmal gewesen ist – vermutlich handelt es sich um eine Kirche: »Und ich habe dein Siegeszeichen auf dem Marmorbogen gesehen.« Ob hier auf das Kreuz in Erinnerung an Konstantins Siegeszeichen bei der Schlacht an der Milvischen Brücke in Rom angespielt wird, bleibt unbeantwortet. Der Sänger kommt zu dem Schluss: »Liebe ist keine Siegesfeier. Das Hallelujah der Liebe ist erkaltet und gebrochen …« Er ist sich letztlich gewiss: »Ich habe mein Bestes getan, doch das war wenig. Weil ich nicht selbst fühlen konnte, versuchte ich zu berühren … Nun stehe ich vor dem Herrn der Lieder, nichts auf meiner Zunge als das Hallelujah.«
In diesem Song mischt sich auf verschlungene Weise eine Erzählung mit einem Bekenntnis: Für den Glauben gibt es keine Beweise, vieles ist falsch und doch: Es gibt das rituelle Lied. Irene und ich bemühten uns nicht darum, diesem Lied seinen endgültigen Sinn abzugewinnen. Als Germanisten waren wir zwar darin geübt, Texte zu erschließen, aber bei diesem Song brauchten wir keine Interpretation. Auch störten wir uns nicht an dem ohrwurmartigen Ritual der Melodie. Es kam uns auf das Gefühl an, das der Song in uns hervorrief. Das Gefühl der Berührung. Das Element Kitsch, das in der Süffigkeit des Songs liegt, wurde von diesem Gefühl an den Rand gedrängt. Das Element Magie war völlig ausgeblendet. Was blieb, war die Gestimmtheit des Songs zwischen der Intensität und der Zurückhaltung, zwischen religiöser Ferne und Nähe, Zweifel und Gebet. Das schien ein Ausdruck dessen, was uns auf der Schwelle zwischen unserem aufgeklärten Christentum und der religiösen Erfahrung – heute oft »Mystik« genannt – beheimatet sein lässt.
Die unendliche Weisheit der irdischen Liebe
»Ist die Liebe ein Beweis?«, so die Frage in Cohens Hallelujah. Und die Erkenntnis: »Liebe ist keine Siegesfeier«. Über die Liebe haben schon viele vor uns nachgedacht und geschrieben. Es war auch stets unser ganz eigenes Thema, über das wir im Gespräch waren.
Irene machte dazu gern auf den Roman »Die Identität« von Milan Kundera (*1929) aufmerksam, der von der zerbrechlichen Liebe handelt. Der Autor lässt das Gefühl sprechen, das sich von der rein sachlichen Wahrnehmung ebenso unterscheidet wie von der bloßen Abfolge logischer Gedanken. Das Symbol, das er dafür benutzt, ist der Blick in das Auge des anderen: »Das Auge: das Fenster der Seele; das Zentrum der Schönheit des Gesichts; der Punkt, in dem sich die Identität eines Individuums konzentriert; aber gleichzeitig ein Sehwerkzeug, das ständig gesäubert, befeuchtet, mit einer speziellen Flüssigkeit, mit einer Prise Salz gepflegt werden muss. Der Blick, das größte Wunder, das der Mensch besitzt, wird zum Säubern also regelmäßig von einer mechanischen Bewegung unterbrochen. Wie eine vom Scheibenwischer gereinigte Windschutzscheibe.«1
Der Blick reduziert den Körper also nicht auf seine Funktionalität, sondern richtet sich auf den Menschen in seiner Ganzheit und kulminiert im wechselseitigen Anschauen. Die Bibel spricht in diesem Zusammenhang immer von der »Erkenntnis« des anderen. Die Reaktion auf die organismischen Funktionen würde wohl eher Abstand und Befremdung erzeugen. Der liebende Blick hingegen sieht anders: in »… Chantals (Geliebte) Lid sah er den Flügel ihrer Seele, den Flügel, der zitterte, der panisch flatterte.«2 Der Liebende sucht das Bild des anderen als Korrespondenz seines Selbstgefühls. Seine Körperlichkeit wird durch die Beziehung verwandelt. Liebe ist daran erkennbar, dass man den anderen mit dem einsehenden und ergänzenden Blick erfasst. Der Liebende bei Kundera hat zu Recht »Angst« vor der Sekunde, »in der mein Blick erlischt«.
Liebe kann lehren, den anderen im Guten zu sehen, auch wenn man – realistisch »betrachtet« – seine komplexen Eigenschaften und nicht nur seine als liebenswürdig empfundenen Seiten kennenlernt. Der Eros des Blickes, der mein Ethos zugunsten des anderen motiviert, wird zum Ethos des Blickes, der die erotischen Möglichkeiten erhält und verlängert. Endlos verlängert er sie, wenn auch im Bann der Endlichkeit. Denn »endlich lieben« heißt hier, ohne Ende lieben, wenn auch nicht ohne jene Verwandlung, als die der Apostel Paulus den Tod begreift.3 Von der Liebe heißt es auch, dass sie »bleibt«, dass von ihr nichts verloren geht. Als Jesus sagte, dass man im Himmel nicht verheiratet sei, widersprach er nur der Vorstellung der Pharisäer, die im Himmel mit einer Fortsetzung der Verhältnisse auf Erden rechneten. (Vgl. Mk 12, 20–24)
Wer ethisch von der Liebe redet und damit Treue und Gerechtigkeit in sie einschließt, redet nicht unangemessen von den Gefühlen. Viele junge Menschen machen die unausweichliche Erfahrung, mit der sie anfangs, befangen in den Üblichkeiten unserer Tauschgesellschaft, nicht gerechnet haben: Sie stellen ethische Ansprüche, wenn sie geborgen im Arm des Eros liegen wollen. Ihr Wollen ist zugleich ihr Fühlen. Wir wollen nämlich beurteilen, wie sich unser Fühlen für uns anfühlt. Dieses Fühlen des Fühlens, wie ich es gern nenne, ist durch moralisch relevante Erfahrungen unterlegt. Gefühle sind nicht – im Gegensatz zu der Welt, die uns die Werbung vorgaukelt – eine Spontaneität, die aus dem Nichts kommt. Gewiss, das Gefühl der unmittelbaren Anziehung ist aus dem Blick, aus der Kontraktion des Herzens und »aus dem Bauch heraus«, wie manche sagen, präsent geworden. Aber es trägt in sich unsere Hoffnungen, unsere Erfahrungen, unser gewachsenes Selbst, d. h. unsere Identität, die wir nicht verleugnen können – und nicht verleugnen sollten. Dieses Fühlen trägt in sich auch die Selbstverpflichtungen, in welchen die spontane Güte des Eros verlängert werden kann. Wir sind eben verantwortlich für das, was wir uns vertraut gemacht haben.4
Die Schönheit und
Verwunderlichkeit der Liebe
Wir können zweierlei Arten von Liebe unterscheiden. Die Verliebtheit und die habituelle Liebe. Liebe als Verliebtheit ist die strebende, die begehrende Liebe. Das soll nicht heißen, dass sie irgendwann aufhört und nur die Zeit des Anfangs für sich beanspruchen kann. Sie ist unter den gleichen Menschen wiederholbar, kann schlummern und neu erwachen. Davon zu unterscheiden, aber nicht zu trennen, ist die »eingewöhnte«, die habituelle Liebe. Sie meint die Liebe als Haltung. Die Eingewöhnung jedoch ist von der »Gewohnheit« zu unterscheiden. Sie meint nicht einfach, dass sich zwei aneinander gewöhnt haben. Das ist viel zu äußerlich und daher viel zu schwach. Denn die Liebenden stehen ja nicht einfach konfliktfrei nebeneinander, vielmehr sind sie ineinander verwoben – manchmal auch mit Konflikten.
Wenn wir das Wort »Haltung« aufgreifen, dann meint es eine zur zweiten Natur gewordene innere Einstellung. Der Weg nach innen zu dieser Einstellung führt über viele einzelne Handlungen. Wie der Mensch handelt, so verändert er sich. Haltungen entstehen als Rückwirkungen unserer Handlungen auf uns selbst.
Durch wiederholte Handlungen des Zueinanders, des wechselseitigen Gutseins, wird das Selbst ein Anderer, um ein Bild des Philosophen Paul Ricœur zu gebrauchen.5 Rituelle Handlungen sind wie Erzählungen, die sich in fester Form gebildet haben und sich durch Erinnerung fortsetzen. Gespräche, gemeinsame Riten, gemeisterte Wechselfälle sind Bausteine einer habituellen, »eingewöhnten« Liebe. Es wäre falsch, sie von der begehrenden Liebe, die ihr den Weg bereitet, abzulösen.
Verliebtheit und habituelle Liebe bringen zweierlei Liebesschmerzen hervor: Im Stadium des Verliebtseins, insbesondere in der Hochform der »Großen Liebe«, besteht der Schmerz in der Unerfülltheit, dem Entzug, dem Versagen, der Unerreichbarkeit, der Entfernung, den Störungen und Hindernissen, den Gefühlsschwankungen des anderen, der Eifersucht, u. v. m. Das alles kann auch in die habituelle Liebe hineinspielen, aber die habituelle Liebe liebt um der Liebe willen. Sie ist nicht bloß »objektiv«, als ginge es um ein begehrtes »Objekt«, das zugleich Person ist. Sie ist ein Projekt im Dual, eine Sehnsucht nach Vollkommenheit, nach Perfektion in der Stimmigkeit des Zueinanders und des Miteinanders. Darum ist der Liebesschmerz derer, die aus der Erfüllung des ineinander Eingewöhnens heraus das Ende und den Verlust erleben, anders, profunder.
Wir wissen, dass die Zeit den Verlust bearbeitet und womöglich die Wunden lindert, aber den Tod kann sie nicht bearbeiten. Raum und Zeit führen immer wieder in die Erinnerung, rufen sie hervor, bekräftigen sie. Das Fühlen des Fühlens ist aufgrund der eingewöhnten Liebe immer in der Bereitschaft, geweckt zu werden. Lust und Schmerz verbinden sich und suchen gemeinsam die Poesie des Klagens.
In dem Gedichtband der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska (1923–2012) fand ich einen Merkzettel von Irene....