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E-Book

Saturns Schatten

Die dunklen Welten der Depression

AutorAndrew Solomon
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl656 Seiten
ISBN9783104911090
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Seit vielen Jahren das Standardwerk über die Volkskrankheit Depression! Durch seinen ebenso persönlichen wie auch theoretischen Zugang ist Andrew Solomon eine facettenreiche Darstellung zur Depression gelungen. »Saturns Schatten« bietet konkrete Hilfe und Information für Betroffene und Angehörige, darüber hinaus gewährt es Einblicke in eine fremde Welt, die leider für immer mehr Menschen zur Realität wird. Solomon geht über eigene Erfahrungen hinaus, lässt andere Betroffene zu Wort kommen, erläutert verschiedene Therapieformen und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Aktualisiert und ergänzt um ein neues Kapitel über Schwangerschaftsdepression »Solomons Buch ist das ungewöhnliche Zeugnis eines Leidens - Aufrichtigkeit gepaart mit Aufklärung.« John Berger »Andrew Solomon verschafft uns einen ungewöhnlichen und faszinierenden Einblick in die dunkle Seite unserer Seele.« Daniel Goleman, Autor von »Emotionale Intelligenz«

Andrew Solomon hat in Yale und Cambridge studiert. Unter anderem schreibt er für den New Yorker, Newsweek und den Guardian. Er ist Dozent für Psychiatrie an der Cornell University und beratend für LGBT Affairs am Lehrstuhl für Psychiatrie der Yale University tätig. Sein großes Buch über Depression »Saturns Schatten« war ein internationaler Bestseller und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem National Book Award und der Nominierung für den Pulitzer Preis. Er lebt mit seinem Mann und seinem Sohn in New York und London. Für »Weit vom Stamm« erhielt er den National Book Critics Circle Award 2013, für »Weit und Weg« den ITB BuchAward 2019. Literaturpreise: National Book Award (Nonfiction) 2001 für »Saturns Schatten« (»The Noonday Demon«)

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Leseprobe

2. Zusammenbrüche


Depressionen bekam ich erst, als meine Probleme weitgehend gelöst schienen. Drei Jahre zuvor war meine Mutter gestorben, was ich langsam bewältigte. Mein erster Roman erschien. Ich verstand mich mit meiner Familie, hatte das Ende einer heftigen zweijährigen Beziehung überstanden, mir ein schönes neues Haus gekauft und schrieb für The New Yorker. Erst als das Leben endlich in geordneten Bahnen verlief und es gar keinen Grund mehr gab, verzweifelt zu sein, schlich sich die Depression auf leisen Sohlen an, um alles zu verderben, wobei ich genau wusste, dass sie gerade in diesem Fall unerklärlich war. Nach einem Trauma oder angesichts eines verpfuschten Lebens depressiv zu sein geht in Ordnung; anders dagegen, nämlich furchtbar verwirrend und erschütternd, sieht es aus, wenn das Trauma längst überwunden und dein Leben offenkundig nicht verpfuscht ist. Gewiss gibt es stets tiefere Gründe: eine allgegenwärtige Existenzkrise, vergessenes frühkindliches Leid, kleine Fehltritte gegenüber Verstorbenen, der Verlust von Freunden durch Unachtsamkeit, die Einsicht, kein Tolstoi zu sein, die unstillbare Sehnsucht nach der wahren Liebe, bedrückende Anfälle von Gier und Hartherzigkeit – Dinge dieser Art. Doch als ich diese Posten dann durchging, hielt ich meine Depression nicht bloß für gerechtfertigt, sondern auch für unheilbar.

Ich hatte, was entscheidende äußere Umstände betrifft, keine Schwierigkeiten. Die meisten Menschen wären mit meinen Karten recht zufrieden gewesen. Zwar ging es mir nach den eigenen Maßstäben mal besser, mal schlechter, aber die Tiefs allein können die Krise nicht erklären. Bei einem härteren Leben verstünde ich meine Depression ganz anders. Ich hatte eine durchaus glückliche Kindheit, großzügige, liebevolle Eltern und einen ebenfalls geliebten jüngeren Bruder, mit dem ich im Allgemeinen recht gut auskam. Wir waren eine so harmonische Familie, dass ich mir eine Scheidung oder ernstere Konflikte zwischen meinen Eltern, die einander wirklich sehr liebten, nicht einmal vorstellen konnte; obwohl sie ab und zu über dieses oder jenes stritten, stand ihre absolute Hingabe zueinander oder zu meinem Bruder und mir nie in Frage. Uns fehlte es an nichts. In der Schule war ich anfangs zwar nicht gerade beliebt, hatte aber später einen Freundeskreis, in dem ich mich ziemlich wohl fühlte. Meine Noten waren stets gut.

Als ein etwas scheues Kind fürchtete ich manchmal, fehl am Platz zu sein – aber wem ging das nicht so? An der höheren Schule fielen mir gelegentliche Stimmungsschwankungen auf, die wiederum bei einem Jugendlichen nicht so ungewöhnlich erscheinen.

Am College erlebte ich eine sehr glückliche Zeit und lernte viele der Menschen kennen, die noch heute zu meinen besten Freunden gehören. Ich studierte und amüsierte mich nach Kräften, entdeckte sowohl eine Reihe neuer Gefühle als auch neue geistige Horizonte. Allein fühlte ich mich manchmal plötzlich isoliert, war darüber jedoch nicht bloß betrübt, sondern verängstigt. Ich hatte viele Freunde, von denen ich dann einen besuchte, was mich gewöhnlich von der Verzweiflung ablenkte. Doch trat das Problem nur ganz gelegentlich auf, ohne lähmend zu wirken. Den Magister machte ich in England und widmete mich nach dem Studium relativ übergangslos einer Laufbahn als Schriftsteller. Ich blieb ein paar Jahre in London, wo ich viele Freunde und einige Liebschaften hatte. In gewissem Sinne ist im Großen und Ganzen seither alles beim Alten geblieben: Dankbar blicke ich auf ein bis dato gutes Leben zurück.

Wer in eine schwere Depression gerät, sucht meist nach den Wurzeln, will wissen, woher sie kam und ob sie, direkt unter der Oberfläche, schon immer da war, um plötzlich überraschend auszubrechen. Nach dem ersten Kollaps habe ich monatelang versucht, nüchtern über meine Konflikte Buch zu führen. Ich kam als Steißgeburt zur Welt, was manche Autoren als traumatisch ansehen. Als Kleinkind war ich vorlaut und linkisch. Nach meinem ersten Trauma gefragt, sagte meine Mutter, das Laufen sei mir schwergefallen: Sprechen hätte ich fast mühelos gelernt, die Motorik jedoch erst recht spät und mangelhaft. Immer wieder sei ich hingefallen, und nur mit sehr viel gutem Zureden auch nur aufrecht zu stehen bereit gewesen. Die fehlende sportliche Begabung trug mit zu meiner Unbeliebtheit in der Grundschule bei. Selbstverständlich war ich darüber enttäuscht, aber ein paar Freunde hatte ich immer und fühlte mich auch unter Erwachsenen wohl.

An die frühe Kindheit habe ich viele seltsam wirre, aber fast durch die Bank glückliche Erinnerungen. Eine Psychoanalytikerin erklärte mir einst, gewisse Assoziationen, auf die ich selbst mir keinen Reim machen konnte, ließen sie vermuten, dass ich in der Jugend sexuell missbraucht worden sei. Wiewohl das möglich wäre, erscheint es mir nicht überzeugend. Falls dergleichen passiert ist, muss es ziemlich harmlos gewesen sein, denn ich war ein wohlbehütetes Kind, und eine Verstörtheit wäre sofort aufgefallen. Ich erinnere mich an eine Episode in einem Ferienlager, als ich sechs war und plötzlich von namenloser Furcht überfallen wurde.

Gewiss ist derlei bei Kindern nichts Ungewöhnliches. Bei Erwachsenen ist Existenzangst, auch wenn sie schmerzhaft sein mag, meistens mit einer Art spielerischer Selbstbewusstheit verbunden, wogegen die ersten Offenbarungen der Hinfälligkeit und Sterblichkeit maßlos und verheerend wirken. Das habe ich an Kindern von Verwandten beobachtet und werde es vermutlich eines Tages auch an den eigenen sehen. Gewiss wäre die Annahme, dass mir im Juli 1969 im Grant Lake Camp meine Sterblichkeit zu Bewusstsein kam, rührselig und töricht, doch stieß ich dort ohne ersichtlichen Grund auf die Tatsache der Verwundbarkeit im Allgemeinen und spürte, wie machtlos ich und auch meine Eltern dem Ganzen ausgeliefert waren. Ich habe ohnehin ein schlechtes Gedächtnis, und nach der Episode im Lager regte sich in mir eine Furcht vor dem Verlust durch die Zeit; abends lag ich oft wach, um mich an Momente des Vortages zu erinnern und sie als geistigen Besitz möglichst festzuhalten.

Schon in der höheren Schule wurde mir eine sexuelle Verwirrung als die vermutlich unergründlichste emotionale Anfechtung meines Lebens bewusst. Ich überdeckte das Problem mit Geselligkeit, um ihm auszuweichen, und kam mit dieser Abwehrstrategie auch gut durchs Studium. Ich machte einige Jahre der Ungewissheit durch, hatte eine längere Phase von Intimbeziehungen mit Männern und mit Frauen, was besonders meine Mutter irritierte. Gelegentlich erfasste mich eine heftige Angst vor nichts Konkretem, eine seltsame Mischung aus Traurigkeit und Furcht, die im Nirgendwo entspringt. Manchmal hatte sie mich schon als Kind überkommen, wenn ich im Schulbus saß; dann freitags abends im College, wenn der Lärm ausgelassenen Feierns in das Dunkel meiner Einsamkeit vordrang; oder auch beim Lesen, ja sogar beim Sex. Nun befiel sie mich immer, wenn ich aus dem Haus ging, und nach wie vor stellt sie sich regelmäßig bei Abschieden ein, auch wenn ich nur übers Wochenende wegfahre, während ich die Tür abschließe, gelegentlich auch bei der Rückkehr. Wenn meine Mutter, eine Freundin oder gar einer unserer Hunde mich begrüßte, kam eine Traurigkeit auf, die mich ängstigte. Ich bekämpfte sie, indem ich mich durch eine fast zwanghafte Geselligkeit ablenkte, oder musste unablässig fröhliche Melodien pfeifen, um ihr ein Schnippchen zu schlagen.

Im Sommer nach meinem letzten Semester hatte ich einen kleinen Zusammenbruch, allerdings damals noch ohne klare Vorstellung davon. Ich reiste durch Europa und hatte wie seit langem ersehnt alle Zeit der Welt – eine Art Examensgeschenk meiner Eltern. Ich verlebte einen prächtigen Monat in Italien, reiste dann nach Frankreich und besuchte schließlich einen Freund in Marokko. Das Land erschreckte mich im Sinne einer Befreiung von zu vielen gewohnten Zwängen, und ich war ständig aufgeregt. Alsbald kehrte ich wieder nach Paris zurück, traf dort weitere Freunde, amüsierte mich köstlich wie in alten Zeiten und fuhr dann nach Wien, das ich immer schon hatte sehen wollen. Dort konnte ich nicht schlafen. Nach der Ankunft suchte ich mir ein Zimmer und traf mich mit alten Freunden, die ebenfalls Urlaub machten; am Abend gingen wir zusammen aus, hatten Spaß und planten eine gemeinsame Fahrt nach Budapest. Doch dann lag ich die ganze Nacht wach, beschämt über irgendetwas Unerfindliches, das ich vermeintlich falsch gemacht hatte. Am Morgen war ich zu gereizt, um in einem Raum mit lauter Fremden frühstücken zu können, doch draußen an der Luft ging es mir besser. Ich beschloss, mir ein paar Gemälde anzusehen, in der Annahme, wahrscheinlich nur ein bisschen überdreht zu sein. Als die Freunde mir sagten, sie seien bereits zum Abendessen verabredet, fühlte ich mich bis ins Mark getroffen, so als wäre ein Mordkomplott gegen mich im Gange. Doch wollten sie anschließend mit mir noch einen trinken gehen. Ich selbst aß nichts, konnte mich einfach nicht allein in ein fremdes Restaurant setzen und etwas bestellen (was vorher nie ein Problem gewesen war) oder gar ein Gespräch mit jemandem anfangen. Als ich die Freunde schließlich traf, war ich am Zittern. Wir gingen aus, und ich trank viel mehr als sonst, was zunächst beruhigend wirkte. Wieder lag ich die ganze Nacht wach, mit rasenden Kopfschmerzen und aufgewühltem Magen, heftig besorgt über die Schiffsverbindungen nach Budapest. Am nächsten Tag kam ich gerade so durch, und nach der dritten Nacht ohne Schlaf war ich so verängstigt, dass ich nicht einmal aufstehen und ins Bad gehen konnte. Ich rief meine Eltern an und erklärte, dass ich zurückkommen müsse.

Ich buchte den Flug,...

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