2 Der schwierige Helfer
So weit der Blick des Helfers auf den schwierigen Patienten.
Erlauben wir uns, das Geschehen aus der Sicht des Patienten zu sehen, ergibt sich nicht minder die Notwendigkeit zu einer differenzierten Sichtweise, wie wir sie soeben beim Patienten zur Anwendung gebracht haben. Auch hier lohnt es sich, genau hinzuschauen. Was sind die einzelnen Anteile der Persönlichkeit beim Helfer, die der Patient als schwierig erleben kann? Was sind die Verhaltensanteile beim Helfer, die der Patient als schwierig erleben kann? Welche problematischen Motive unterstellt der Patient zu Recht oder zu Unrecht dem Helfer? Und nicht zuletzt: In welcher für ihn schwierigen Ausgangssituation befindet sich der Helfer in der aktuellen Begegnung mit dem Patienten?
Untersuchen wir im Folgenden all die Anteile des Helfers, die er von seiner Seite aus in die Begegnung mit dem Patienten einbringt. Richten wir den Blick zunächst auf die Person des Helfers.
2.1 Die Person des Helfers – Auch
Auch hier gilt: Wir sind viele! Auch der Helfer besteht seinerseits aus einem Bündel von Persönlichkeitsanteilen, wie es bereits beim Patienten beschrieben wurde. In seinem Buch »Miteinander reden«, Teil 3, zeigt Friedemann Schulz von Thun die Karikatur eines Arztes, der sich freundlich und einfühlsam seinem Patienten zuwendet und gleichzeitig einen erschöpften, wütenden, genervten, griesgrämigen, ungeduldigen inneren Anteil in sich in Schach zu halten bestrebt ist. Da ich diese Darstellung für so treffend halte, freut es mich besonders, Ihnen mit persönlicher Genehmigung von Herrn Professor Friedemann Schulz von Thun diesen Cartoon hier zeigen zu können ( Abb. 2.1).
Abb. 2.1: Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile des Helfers (aus: Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden 3. Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation, S. 204; Copyright © 1998 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg)
Es steht außer Frage, dass jeder Helfer umso störungsfreier und hilfreicher Helfer sein kann, je mehr er sich der Vielschichtigkeit seiner eigenen Persönlichkeitsanteile bewusst ist. In der psychoanalytischen Tradition muss nach wie vor jeder angehende Psychoanalytiker eine eigene Lehranalyse durchlaufen, bevor sie oder er zu praktizieren berechtigt ist. Dies verhilft zu einem hohen Maß an Bewusstheit über die eigenen Persönlichkeitsanteile. In allen anderen aktuellen Ausbildungsplänen für helfende Berufe fehlt diese umfassende Anleitung zur Selbstreflexion – vor allem gegenüber den eigenen ungeliebten Selbstanteilen – und ist auch 2018 immer noch ein veränderungsbedürftiges Lehrplandefizit.
Auch die in den 1960er und 1970er Jahren weit verbreitete Experimentierfreude unter den Studierenden der Heilberufe, aus eigenem Interesse und eigener Wachstumsmotiviertheit heraus an Selbsterfahrungs- und Encountergruppen teilzunehmen, gibt es momentan fast überhaupt nicht mehr. Gleichwohl sei jedem Helfer angeraten, sich der Vielschichtigkeit seiner eigenen Person soweit wie irgend möglich bewusst zu werden. Da ich in meinen Seminaren immer wieder nach Möglichkeiten zur qualifizierten Selbsterforschung auf hohem Niveau gefragt werde, habe ich Ihnen im Anhang Adressen angegeben, bei denen Sie diese Anleitungen zur Selbsterfahrung erhalten können. Irvin D. Yalom zeigt anhand seiner eigenen Selbsttherapie, für wie immens wichtig er umfassende Selbsterfahrung hält. Er schreibt:
»In etlichen Ausbildungsprogrammen wird darauf bestanden, dass Studenten selbst eine Psychotherapie durchlaufen; einige weiterführende kalifornische Universitäten verlangen mittlerweile 16 bis 30 Stunden Einzeltherapie. Das ist ein guter Anfang – aber nur ein Anfang. Die Selbsterforschung ist ein lebenslanger Prozess, und ich empfehle, sie so gründlich und lange wie möglich und in vielen verschiedenen Lebensstadien durchzuführen.
Meine eigene therapeutische Odyssee während meiner 45-jährigen Laufbahn sah und sieht folgendermaßen aus: Eine 750-stündige, fünfmal pro Woche stattfindende, klassisch Freud‘sche Psychoanalyse als Psychiatrieassistent (bei einem Analytiker der konservativen Baltimore-Washington-Schule), ein Jahr Analyse bei Charles Rycroft (einem Vertreter der mittleren Richtung des British Psychoanalytic Institute), zwei Jahre bei Pat Baumgartner (einer Gestalttherapeutin), drei Jahre Psychotherapie bei Rollo May (einem interpersonal und existenziell orientierten Analytiker am William Alanson Whyte Psychoanalytic Institute) und zahlreiche kürzere Abstecher zu Therapeuten verschiedener Disziplinen, darunter Verhaltenstherapie, Bioenergetik, Rolfing, Arbeit mit Ehepaaren, eine (zum jetzigen Zeitpunkt) seit zehn Jahren bestehende Supervisionsgruppe männlicher Therapeuten ohne Leiter und in den 60er Jahren Encounter-Gruppen in allen möglichen Varianten, darunter eine nackte Marathongruppe.« (Yalom, 2002, S. 56)
Wenn wir darauf verzichten können, uns aus Angst vor Widersprüchlichkeiten in uns selbst auf ein starres Selbstkonzept festzulegen, müssen wir uns nicht mehr anstrengen, uns und der Welt zu beweisen: »Nur genau so einer bin ich – und kein anderer!«
Als Helfer ist es eine Notwendigkeit, von mir selbst zu wissen: Ich bin viele. Nur so ist es möglich, Erfahrungen, Gefühle, Gedanken in mir präzise wahrzunehmen, ohne sie verzerren zu müssen oder gar auszublenden. So kann ich meinem Bewusstsein erlauben wahrzunehmen, was da wirklich in mir ist, oder wie es Carl Rogers formuliert: »Das Bewusstsein ist nicht länger der Wächter über einen gefährlichen und undurchschaubaren Haufen von Impulsen, die nur im Ausnahmefall das Tageslicht erblicken dürfen, sondern wird zum geruhsamen Mitbewohner einer Gesellschaft von Impulsen, Gefühlen und Gedanken, die sich, wie man feststellt, sehr wohl selbst regulieren können, wenn sie nicht ängstlich behütet werden« (Rogers, zitiert nach Schulz von Thun, 1994, S. 198).
Vielleicht haben Sie sich beim vorangegangenen Lesen der Beschreibungen der Persönlichkeitsstörungen in Kapitel 1.1.1 erkannt und durchleuchtet gefühlt – und zwar nicht nur bei einer der »Störungen«, sondern gleich bei mehreren. Dann dürfen Sie sich entspannen. Je mehr »gestörte« Persönlichkeitsanteile Sie bei sich entdecken und sich selbst eingestehen können, desto größer ist die psychische Gesundheit, die Sie für sich beanspruchen können. Ihr Selbstbild ist nicht neurotisch eng eingegrenzt, sondern lässt eine bunte Vielfalt unterschiedlichster Persönlichkeitsanteile zu.
Veeresh D. Yuson-Sánchez formuliert es in einem von ihm als »Toiletten-Poster«3 entworfenen und zur »Morgenmeditation« empfohlenen Text so:
Auch
Es gibt einen Mittelpunkt in Deinem Leben, den Du wertschätzen solltest. Er heißt Auch. Du kannst das Gefühl haben, dass Du das größte Arschloch auf dieser Welt bist, und wenn jemand zu Dir sagt, dass Du auch sehr liebenswert bist, dann wirst Du zusehen müssen, dass Du dies ebenfalls akzeptierst. Auch erlaubt Dir, in den Zwischenraum zu gleiten zwischen liebenswert zu sein und verachtenswert zu sein. Wenn Du lernst, Auch wertzuschätzen, dann ist das wie eine Erleuchtungsversicherung. Die Menschen neigen dazu, das Wort » Auch« zu vergessen. Sie denken, dass es entweder das eine oder das andere ist. Nein, es ist immer Auch. Was immer es sein mag, das auf Dich zukommt:
Du bist hässlich,
Du bist schön,
Du bist verwirrt und mitten im Schlamassel,
Du weißt nicht, was Du bist, Auch.
Du bist Auch manchmal sehr gut drauf, oder Auch der letzte Heuler, mit dem zusammen zu sein man sich vorstellen kann, Auch.
Auch bist Du manchmal sehr schön im Fluss: Alles um Dich herum ist sehr schön und es gibt nichts zu sagen.
Du willst wissen, wer Du bist? Du bist Auch.
Klammere niemals zu irgendeinem Zeitpunkt irgendetwas aus.
Alles ist immer Auch.
Falls Du irgendetwas ausklammerst, bist Du ein armseliges menschliches Wesen. Du lässt nicht mehr zu.
Auch , Auch, Auch, Auch, das ist es, was Du bist.
Wir haben nur so wenig Zeit zu leben. Innerhalb dieser Zeit schließe alles mit ein.
Auch, Auch, Auch.
Ich habe es vermasselt, Auch.
Ich fühle mich großartig, Auch.
Ich hatte den größten Orgasmus ,...